In einem Jahr will die Piratenpartei in den Bundestag einziehen. Doch die Aufbruchstimmung ist vorbei. Da die Piraten nicht aus Protest, sondern für eine andere Politik gewählt werden, sinken die Umfragewerte.
Die Piraten feiern in wenigen Tagen ihren ersten parlamentarischen Geburtstag. Im September des vergangenen Jahres wählten die Berlinerinnen und Berliner die junge Partei das erste Mal in ein Landesparlament. Neben den fünfzehn Abgeordneten des Senats in der Hauptstadt gibt es seit diesem Jahr außerdem zwanzig Piraten im Landtag von Nordrhein-Westfalen, sechs in Schleswig-Holstein und vier im Saarland. Im kommenden Jahr will die Partei in den Bundestag. Sie muss. Im Herbst 2013 wird sich die politische Zukunft der Piraten in Deutschland entscheiden. Denn schon jetzt sind diejenigen, die der Partei mit den digitalen Wurzeln ihre Zustimmung signalisieren, sehr geduldig mit der Echtzeit. Die Verknüpfung von virtueller Politik mit politischem Anspruch kann nur auf einer ausreichend großen Menge von Papierzetteln entstehen. Die Revolution, zumindest der Hauch von ihr, den die Piraten derzeit noch ausstrahlen, ist an den Wahltermin gefesselt. Die Wählergunst war für sie in den vergangenen Monaten ein weiches Kissen; doch dieser Flausch hat Federn gelassen. Mit sieben Prozentpunkten in den jüngsten repräsentativen Umfrage kann der politische Nachwuchs nicht sicher sein, ob die Wählerinnen und Wähler das federnde Sprungkissen sein werden, um die Partei mit mindestens fünf Prozentpunkten der Stimmen auf die beruhigend blauen Sitze des Plenarsaals im Bundestag zu katapultieren. Ein mageres Ergebnis sind diese sieben Prozent für die Sommerpause, die sich gerade dem Ende neigt, sicher nicht. Doch im Gegensatz dazu, dass sich weder die Piraten selbst noch Experten die satten Zustimmungswerte im ersten Halbjahr gänzlich erklären konnten, und auch kein Anlass dazu bestand dies zu tun, hat der Abfall der Werte jetzt durchaus mehr Gründe, als die politisch ruhige Zeit in der warmen Monaten.
Denn das Sommerloch türmte sich mit jedem Tag mehr auf zu einem Berg aus Schulden, europäischen Arbeitslosen, Fragen ohne Antworten. Die Zwergkrokodile, die in der Sommerpause traditionell von Journalisten aus Baggerseen gefischt werden, durften in diesem Jahr in Ruhe im Schlamm dösen. Denn die politische Lage war und ist alles andere als gemacht für niedliche Tiere oder niedliche Antworten. Die Krise des Euro hat scharfe Zähne, sie hat nahezu alle anderen relevanten Themen in der Politik der Koalitions- und Oppositionsparteien des Bundestages weggebissen. Selbst wenn genau in dieser Zeit auch von anderen Parteien die Möglichkeit von mehr Demokratie im Sinne einer europäischen Volksabstimmung angeführt wurde, an der Komplexität der Krise scheitern die Kernideen der Piraten von Transparenz, Beteiligung und digitaler Gesellschaft. Denn auch Schwarmintelligenz und kollaborative Arbeit im Wiki helfen Bürgerinnen und Bürgern nicht weiter bei der Einschätzung der Lage. Die Beteiligungs-Software Liquid Feedback stellt die Nutzerinnen und Nutzer vor die absurde Entscheidung, ihre Ahnungslosigkeit an andere Ratlose zu delegieren. In einem Europa voller Fragezeichen verliert die moderne Infrastruktur der Partei zwar prinzipiell nicht an Bedeutung, sie ist jedoch kein Mittel um sich als Wahlalternative gegenüber erfahrenen Gegenspielern zu positionieren. Denn wem nützt Transparenz, wenn die Inhalte, die jederzeit eingesehen und bearbeitet werden können, unentschlossen, mager und ideenlos sind? Die Phrase der Pressemitteilung, dass die Piratenpartei „eine zügige Lösung der europäischen Finanzkrise“ befürworte, ist nicht einmal transparent, denn sie unterschlägt, dass die Piraten keine Lösung haben. Sie lässt jedoch nicht einmal den Willen aufblitzen, zu einer Lösung oder einer Idee von Europa zusammenzufinden. In dieser Woche fanden sie sogar Gefallen am Konzept der Zuschussrente, das Bundesarbeitsministerin von der Leyen derzeit gegen die Kritik ihrer eigenen Partei und der des Koaltionspartners verteidigen muss. “Unbürokratisch beantragbar” sei die Zuschussrente, liest man dort. Es lohnt sich, diese Interpretation mit einem Papier des BMAS zu vergleichen.
Die Piraten haben sich zu lange auf ihrer Projektionsfläche ausgeruht. Allein in der Vorstellung sind hier viele Wünsche für politisch Unbefriedigte und auch die Nichtwählenden wahr geworden. Doch für diejenigen, die sich eine Partei gewünscht haben, die völlig anders ist, als das, was sie bislang kannten, ist die Seifenblase zerplatzt. Denn wer eine neue Art der Politik verspricht, muss diese einlösen. Bis zum amtlichen Ergebnis der Bundestagswahl im nächsten Jahr lassen sich bislang nur Parameter messen, die sich in einer jungen Partei immer stetig entwickeln oder besonders fragil sind – oder deren Wichtigkeit die Partei noch nicht erkannt hat: das Führungspersonal, das Image, die Inklusion der Engagierten und Interessierten – und trotz des wilden Markenkerns: die Professionalität.
In dieser Hinsicht müssen die Piraten die Erfahrung machen, dass trotz all der engagierten Basisarbeit das zählt, was sie Bürgerinnen und Bürgern vermitteln können. Dazu braucht es zum einen überzeugende und klare Positionen, zum anderen eine koordinierte Öffentlichkeitsarbeit. Doch sowohl über die von Parteimitgliedern und Anhängern genutzten digitalen Kanäle als auch die journalistische Berichterstattung dringen vor allem Dinge nach außen, die selten etwas mit politischen Debattenbeiträgen zu tun haben und solche, von denen das Image der Partei nicht profitiert. Die lebhafte Streitkultur, die zwar die sehr menschlichen, aber oft eben unschönen, ja, abschreckenden Seiten vom Innenleben einer Partei aufzeigt, geht über die „Informationstransparenz“, die Parteichef Bernd Schlömer sich wünscht, zu weit hinaus. Er umschreibt die Selbstkritik in Richtung seiner Partei in einem Interview mit Zeit-Online mit den Worten: „Es gibt einen Kernbereich von Handlungen und Verhalten, bei dem es gut ist, wenn er intransparent bleibt.“ Der Punkt, an dem offene Kritik aneinander und die großzügige Fehlerkultur der Piraten ihre Gemeinschaft modern und sympathisch erscheinen ließ, ist weit überschritten. Die innerparteilichen Konflikte nehmen mehr Raum ein, als die Angriffe auf die politische Konkurrenz. Anstatt die Willigen, die sich der Herausforderung einer Kandidatur für den Bundestag stellen, zu unterstützen und aus diesen Personen die beste auszuwählen, prasselt über die sozialen Netzwerke ein Sturm von Häme, Beleidigungen und Misstrauen auf sie herein. Über den Parteieintritt und die Bundestagskandidatur von Anke Domscheit-Berg sollte eine reflektierte Partei überglücklich sein. Denn die ausgewiesene Open-Government-Expertin ist erfahrene Aktivistin und Beraterin, die im Bereich der Kernthemen der Piraten seit über zehn Jahren viele konkrete Projekte auf den Weg gebracht hat.
Die rohe Umgang miteinander, die nahezu täglichen „Shitstorms“ und „Gates“ vertreiben vor allem die feinfühligen Parteimitglieder, auf deren Sensibilität für innerparteiliche und gesellschaftlichen Stimmungen die Piraten nicht verzichten können. Denn waren die Piraten nicht angetreten, um Menschen, die in der Gesellschaft Diskriminierungs- oder Mobbingerfahrungen gemacht haben, wertschätzend aufzunehmen? Um Politikverdrossenen zu zeigen, dass es darum geht, die Welt von morgen zu gestalten, und nicht um Macht?
Das, was die italienische Philosophin Luisa Muraro im Diotima-Band „Macht und Politik sind nicht dasselbe“ über das politische Begehren von Frauen schreibt, kann auf einen Teil der Nichtwählenden, die in den Landtagswahlen für die Piraten stimmten, übertragen werden. Sie schreibt, „dass die unter Frauen weit verbreitete Abneigung gegen Politik um Sinne von Wettbewerb und Kampf um Macht keine Ablehnung von Politik, sondern im Gegenteil ein Verlangen nach Politik“ darstelle. Die Wahrnehmung der Piraten hat sich jedoch in den vergangenen Monaten deutlich verschoben: von originären Inhalten und einem anderem Politikverständnis hin zu einer Schwerpunktsetzung auf Personen. Mit genau dieser Wendung stellen sich nun vor allem Machtfragen.
Personen, die für die Piraten in der Öffentlichkeit neben den sozialen Netzwerken sprechen, bleiben dennoch wichtig. Der Rückzug von Marina Weisband aus ihrem politischen Amt ist schmerzhaft, vergleicht man die Art und Weise, wie sie Ideen vorträgt und mit Medien umgeht, mit ihrem unklug und monothematisch agierendem Nachfolger, der sich – komme was wolle – vorrangig für das bedingungslose Grundeinkommen und die Finanzierung seines eigenen Abendessens interessiert. Doch Johannes Ponader ist der früheren Geschäftsführerin nicht nur in politischem Gespür weit unterlegen, ihm fehlt die Präsenz von Marina Weisband. Die Piraten könnten eine echte Alternative für Wählerinnen und Wähler darstellen: junge Frauen, junge Menschen, denen man ihre Leidenschaft für das Politische in jedem gesprochenen Satz und geschriebenen Tweet abnimmt, in die Parlamente! Die Piraten haben nach wie vor die Chance zu zeigen, dass sie auch ohne Quoten eine vielfältige Kandidatenauswahl aufstellen können. Die Notwendigkeit einer Geschlechterstrategie für die Partei weisen sie weiterhin zurück.
Ein kurzer Ausschnitt einer Talkrunde bei Maybrit Illner im Januar diesen Jahres genügt, um die Macht der alternativen Bilder für das (potentiell wählende) Fernsehpublikum zu notieren, aber vor allem des Zusammenspiels von einer jungen Politikerin mit den anderen Gästen: Vier Männer zwischen 46 und 64 Jahren alt lieferten sich in der Sendung einem Phrasen-Ping-Pong und behandelten Marina Weisband nebenbei arrogant, herablassend und hatten keine große Lust, sie überhaupt zu Wort kommen zu lassen. Wann hat eine Person unter 30 überhaupt zuletzt für die Spitze einer Partei im Fernsehen oder an einem anderen Ort mit großer Öffentlichkeit gesprochen? Dass der Parteivorsitzende Bernd Schlömer sogar von Ulf Poschardt, der die „dilettantischen“ Piraten regelmäßig in einem Rant zum Teufel jagt, mit den Worten, Schlömer besitze eine „gewisse politische Substanz und auch innere Ernsthaftigkeit“ gelobt wird, mag von den einen freudig als Professionalisierung der Partei aufgenommen werden, es trägt jedoch auch die so wertvolle ungezähmte Schicht von ihrem Image ab.
Doch dieses Image – und eine Idee es wiederzubeleben – brauchen die Piraten, um ihr immer noch diffuses politisches Profil zu kaschieren. Denn irgendetwas Greifbares braucht jeder Wähler für seine Entscheidung – inmitten einer europäischen Krise zudem etwas weitaus Stärkeres als nur ein gutes Bauchgefühl. Der Verweis auf die Bedeutung von Transparenz und Beteiligung ist kein harter Markenkern mehr. Das Bewusstsein über das Leben in der digitalen Gesellschaft ist bei den Bürgerinnen und Bürgern sehr viel schneller angekommen als es sich alle Parteien wünschen können. Laut einer repräsentativen TNS-Emnid-Umfrage im des Arbeitskreises Open Government Partnership Deutschland wünschen sich 96 Prozent der Menschen einen besseren Zugang zu politischen Prozessen. Das setzt zu einen die Parteien, die noch immer lieber auf Postkarten als auf nutzerfreundliche Webseiten und Mitarbeitsmöglichkeiten setzen, unter enormen Druck ihre Strukturen und Kommunikationsweisen zu wandeln. Doch zum anderen raubt es den Piraten ihr vormaliges Alleinstellungsmerkmal: die Möglichkeit der verbesserten Teilhabe online und offline wird selbstverständlich erwartet. Kapitel zur Bürgerbeteiligung werden im kommenden Jahr in jedem Wahlprogramm zu finden sein. Partizipation und Teilhabe bedeutet jedoch für die deutsche Gesellschaft langfristig etwas völlig anderes als vorrangig technisch realisiertes Open Government. Die Inklusion und Repräsentation von Gruppierungen, für die es immer noch schwierig ist ihre politischen Interessen einzubringen, ist vielleicht der wichtigste Punkt für eine „offenere Politik“. Die Zielsetzung von Beteiligung muss sein, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken.
Beteiligung heißt auch, nicht nur Menschen für Politik zu gewinnen, sondern sich ebenso als Partei an der öffentlichen Meinungsbildung zu beteiligen in dem man fundiertes Wissen, klare Positionen oder präzise Fragen in die relevanten Debatten einbringt. Als liebstes Spielzeug der Journalisten hätten die Piraten in diesem Sommer ohne Zweifel den Raum dafür gehabt. Genutzt haben sie ihn dafür nicht.
Die Gründe für den Einbruch der Umfragewerte müssen die Piraten bei sich suchen. Es wäre jedoch ein Fehler der anderen Parteien, dies als Rückversicherung für ihre bisherige Politik zu betrachten. Die Arroganz muss von allen Seiten aufgehoben werden. Der Erfolg der Piraten hat konkrete Defizite bei den Strukturen und Inhalten anderer Parteien aufgedeckt, die diese schließen müssen, wenn sie dem Wandel der Gesellschaft nicht hinterher hinken wollen. Die Parteien werden sich weiter von den Wählern von morgen entfernen, wenn sie in einem Politikverständnis vor der digitalen Vernetzung verharren. Es ist darüber hinaus an der Zeit, sich von dem Begriff des Protestwählers zu verabschieden. Denn Wählerinnen und Wähler protestieren nicht – sie wünschen sich und plädieren für mehr demokratische Teilhabe und weniger Machtpolitik, für Politikerinnen und Politiker, mit denen sie sich identifizieren können, für einen Brückenschlag zwischen den Generationen, Lebensweisen und Weltbildern.
Es wäre ein kleiner, aber gelungener Umbruch, wenn dieses politische Begehren in den Parteien auf Gegenliebe stieße. Derzeit sieht es nicht danach als, als werde diese Revolution von den Piraten ausgehen.
Neben ihrer Tätigkeit als freie Autorin arbeitet Teresa Bücker für die SPD-Bundestagsfraktion. Sie schreibt ein weiteres Blog und twittert hier.