Geschichtswissenschaft mit mathematischen Methoden zu betreiben ist eine ziemlich neue Idee – produziert aber ausgesprochen spannende Ergebnisse.
Die Moderne beschert uns vielerlei neue Forschungsrichtungen, Neurobiologisches und Nanotechnologisches, Pharmakometrie und Genderthemen, und seit neuestem auch „Cliodynamics“. Wenn Sie davon noch nie gehört haben, sind Sie in guter Gesellschaft: gängie Suchmaschinen finden weniger als 100.000 Treffer (zum Vergleich: Robotik hat mehr als 3 Millionen und die gute alte Physik fast 30 Millionen). Die deutsche Variante Cliodynamik ist noch ungebräuchlicher, aber da die Autorin sich um ihre Muttersprache verdient machen möchte, nehmen wir das – obwohl der Begriff natürlich aus dem Englischen kommt und übrigens nächstes Jahr seinen zehnten Geburtstag feiert.
Erfunden und benamst wurde die neue Disziplin von dem Naturwissenschaftler Peter Turchin, um die Anwendung quantitativer Methoden auf die Geschichtsforschung zu beschreiben. Folgerichtig leitet sich der Titel von der Muse der Geschichte, Clio ab, sowie der Zielsetzung, geschichtliche Dynamiken besser zu verstehen.
Geschichtswissenschaft ist als eher brotlose Kunst bekannt, und fordert traditionell von ihren Studenten vielerlei handwerkliche Fähigkeiten: alte Sprachen, alte Schriften, ein bißchen Kunstgeschichte und Archäologie schaden ebenfalls nicht. Wirtschaftliches Wissen ist vor allem nützlich, wenn man sich mit wirtschaftshistorischen Themen befassen möchte – angeblich gibt es eine Dissertation, die die finanzielle Entwicklung des Hauses Buddenbrook zu beschreiben und analysieren versucht, was ich für eine ganz wunderbare (und sehr originelle Idee) halte.
Mathematik und Statistik gehörten bisher noch nicht zum Pflichtkurrikulum, das könnte sich aber bald ändern, und zwar nicht nur für Wirtschaftshistoriker. Wie alle qualitativen Gesellschaftswissenschaften ist es mit beschreibender Analyse schwierig, Gesetzmäßigkeiten perfekt nachzuweisen, aber – da haben die Wirtschaftswissenschaften ja bereits vorgelegt – dem Mangel kann man mit statistischen Verfahren und Modellen auf den Leib rücken.
Die Cliodynamik hält sich entsprechend auch nicht mit Detailanalysen auf, sondern interessiert sich vor allem für das große Bild: wovon wird Bevölkerungswachstum beeinflußt, was führte zur Entwicklung von Parlamenten in Westeuropa (und warum zu so unterschiedlichen Zeitpunkten), wie entstehen Imperien und wann zerfallen sie wieder?
Versucht man, weltbewegende Ereignisse in Modelle mit Variablen und Gleichungen zu fassen, hat man natürlich dasselbe Problem wie die Wirtschaftswissenschaften: die Realität ist zu komplex für eine vollständige Abbildung. Das ist aber auch gar nicht Forschungsziel. Ungeachtet der Tatsache, daß natürlich die großen Ereignisse von so vielen Faktoren und ländertypischen Gegebenheiten beeinflußt wurden, daß sie unmöglich zu verallgemeinern sind, bleibt doch die Tatsache, daß es möglicherweise auf abstraktem Niveau Gemeinsamkeiten gab, die begünstigend für bestimmte Entwicklungen wirken. So gesehen scheinen sich die Anhänger der Disziplin der Grenzen ihrer Erkenntnismöglichkeiten durchaus bewußt zu sein.
Die modelltheoretische Beschreibung übergeordneter Zusammenhänge, in die man durchaus auch die Arbeiten von Acemoglu und Robinson einordnen kann, von den Kollegen bei FAZit zum Beispiel hier präsentiert – ist das eine. Die empirische Arbeit mit großen Datensätzen das andere. Ein Beispiel für diese Forschung ist ein Projekt des Initiators, Peter Turchin. Er stellte fest, daß es in den USA in den letzten 150 Jahren etwa alle fünfzig Jahre zu erheblichen gesellschaftlichen Unruhen kam. Die Unruhen sind Fakt, und verglichen mit dem Bevölkerungswachstum und anderen soziodemographischen Daten zeigt sich, daß die Unruhen mit Bevölkerungswachstum und vielen gut ausgebildeten Bürgern in Zeiten wirtschaftlicher Schwierigkeiten einhergehen (kommt das jemandem bekannt vor?)
Natürlich steht und fällt die Forschungsrichtung mit der Verfügbarkeit von Daten, und da hat sich in den letzten Jahren Erstaunliches getan. Es gibt Daten zur Sitzungsaktivität von Parlamenten seit 1400, Daten zur Verbreitung der Druckerpresse 1450-1500, Daten zum transatlantischen Handel 1500-1850 (darunter ganz besonders viele zum Sklavenhandel), und natürlich auch Bevölkerungszahlen und Verstädterung im Mittelalter. Da Daten zum Einkommen noch nicht übergreifend verfügbar sind, werden Verstädterung und die Einwohnerzahlen von Städten gerne ersatzweise verwendet, denn hohe Einkommen zogen mutmaßlich viele Menschen an – wo viele Menschen waren, waren vermutlich auch die Einkommen höher.
Zusammengetragen wurden diese häufig von redlichen Geschichtsforschern in mühevoller Kleinarbeit, versammelt in umfangreichen, beschreibenden Büchern. Im günstigeren Falle muß man sie heute nur noch in eine Tabelle abtippen (wobei auch das mühevoll ist). Im nicht so günstigen Fall werden in Archiven Steuerunterlagen oder alte Handelsbriefe gesucht, gesichtet, getippt und aus anderen Quellen ergänzt.
Damit kommen dann erstaunliche Ergebnisse zustande: die Druckerpresse trug tatsächlich zum Wachstum jener Städte bei, die sie frühzeitig einführten. Transatlantischer Handel war für sich genommen zwar nicht verkehrt, aber nur dort, wo die Gewinne weniger dem herrschenden Königshaus und vielmehr der bürgerlichen Ober- und Mittelschicht zuflossen, führten sie zu nachhaltigem Wachstum. Die Einführung der Kartoffel aus Übersee trug vermutlich wesentlich zum Bevölkerungswachstum in Europa bei, weil sie so besonders nahrhaft ist. Und sogar die von Weber begründete Hypothese, daß Protestantismus wirtschaftlichem Erfolg zuträglich ist, wurde erneut untersucht, mit dem Ergebnis, daß vor allem die eigenständige Bibellektüre zur Alphabetisierung beitrug, und indirekt Bildung beitrug – was sich positiv auf die Wirtschafts auswirkte.
Vieles davon kann man sich natürlich auch mit gesunden Menschenverstand denken, aber ein Indizienbeweis ist eben doch etwas anderes als eine Vermutung auf Basis von Beobachtungen. Mehr als Indizienbeweise sind schwer zu führen, dafür ist die Perspektive zu groß gefasst und die Daten oftmals zu ungenau. Die Zielvorstellung ist allerdings auch nicht, irgend etwas zweifelsfrei zu beweisen, zukünftige Prognosen zu wagen oder gar Politikberatung zu betreiben. Hypothesen zu testen, so sagt Turchin, ist schon ambitioniert genug, und vielleicht hin und wieder Regelmäßigkeiten oder grundlegende Determinanten zu entdecken – damit man diese möglicherweise in Entscheidungen berücksichtigen kann, wohlwissend, daß Gesellschaften sich nicht immer modellmäßig verhalten. Mitte der Woche habe ich mich mit einem promovierten Historiker unterhalten, der innerhalb der ersten fünf Minuten bereits zugestand, mit Zahlen nicht gut umgehen zu können. Damit dürfte er nicht alleine stehen und solange Historiker sich keine fortgeschrittenen statistischen Fähigkeiten aneignen, dürfte die neue Forschungsrichtung weiter vor allem von vielseitigen Ökonomen betrieben werden.
Insgesamt findet sich jedenfalls manche Perle in dieser Literatur, die auf spannende Weise meßbare Daten, geschichtliche Bildung und schlüssige Argumente kombiniert und präsentiert. Die Moderne kann schon so schön sein.