An die Allgegenwart von Kameras im öffentlichen Raum hat man sich fast schon gewöhnt. Doch was die neueste Überwachungstechnologie so alles kann, das lässt Alpträume wahr werden.
In den USA, wo das Hantieren mit Handfeuerwaffen zur verfassungsmäßig garantierten Folklore gehört, gelten auf den Straßen bekanntlich strenge Tempolimits. Und so kommt es bisweilen vor, dass Autofahrer ihrer Frustration über die behördlich verordnete Langsamkeit mit der Schusswaffe Ausdruck verleihen und Blitzerkästen kaputt schießen. Etliche fest installierte Starenkästen fielen auch Brandstiftung und roher mechanischer Gewalt zum Opfer, Sachschaden jedes Mal bis zu 100.000 Dollar. Zeit zum Handeln, befanden die Polizeibehörden in dem Ostküsten-Bundesstaat. Weil aber die Blitzerkameras selber laut Gesetz nur zur Überwachung des Tempolimits eingesetzt werden dürfen, werden jetzt immer mehr extra Überwachungskameras installiert, welche die Blitzerkästen samt deren Umgebung im Blickfeld haben. Bis zum Jahresende sollen mehr als ein Dutzend Kameras in Betrieb sein, um Radarfallen zu schützen.
Man fragt sich, zu welchen Maßnahmen die Behörden greifen werden, sollten die zusätzlichen Kameras nicht den erhofften Zuwachs an Sicherheit auf den Straßen bringen. Werden dann unbemannte Killerdrohnen in die Luft geschickt oder die Verkehrsüberwachung gleich ganz an Spionagesatelliten delegiert, die man nicht so einfach mit einer Pumpgun vom Himmel schießt? So abwegig, wie das zunächst klingen mag, ist dieser Gedanke nicht. Gerade in den USA schlägt das politische Pendel seit den Anschlägen auf das World Trade Center immer mehr in Richtung Sicherheit aus, auch durchaus zu Lasten bürgerlicher Freiheiten. Und die technologische Entwicklung auf dem Überwachungssektor galoppiert mit Riesenschritten; was gestern noch Science-Fiction schien, ist heute zum Teil schon in der Entwicklung oder bereits Realität.
Eine neue Generation von Überwachungskameras soll mit entsprechender Softwareunterstützung im System in der Lage sein, 150 Personen gleichzeitig im Blick zu behalten und dabei mit der Zeit auch immer besser dabei werden, verdächtige Verhaltensauffälligkeiten zu bemerken. Etliche solcher Pre-Crime-Überwachungssysteme sind bereits im Einsatz, in Bahnhöfen und auf öffentlichen Plätzen. Jetzt soll das System des US-Herstellers BRS Labs im gesamten öffentlichen Nahverkehr in San Francisco zum Einsatz kommen. Laut BRS verfügt jede Kamera über eine Reihe von sogenannten „virtuellen Signaldrähten”, die mit bestimmten Verhaltensmustern ausgelöst werden. Das System schreibt daraufhin automatisch eine Meldung an die diensthabenden Aufsichtspersonen, wie Mail Online berichtet. In New York und anderen US-Großstädten wie Detroit, Chicago und Pittsburgh werden Überwachungskameras und Mikrofone in Straßenlaternen verbaut. Damit nicht genug: Per Lautsprecher in diesen Laternen können Polizisten auch Personen direkt ansprechen, die sich daneben benehmen. Es ist auch davon auszugehen, dass diese Kamera-Systeme mit automatischer Gesichtserkennung arbeiten und die Polizei somit stets im Bilde ist, mit wem genau sie es zu tun hat. Was zwar einerseits dem Schutz der öffentlichen Ordnung dienen mag, aber andererseits auch politische Implikationen hat im Hinblick auf die Versammlungsfreiheit: Wenn man etwa im Rahmen einer politischen Protestkundgebung damit rechnen muss, in Echtzeit identifiziert zu werden, werden sich viele zweimal überlegen, ob sie unter diesen Umständen von ihrem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit Gebrauch machen.
Dem ganzen Thema der Gesichtserkennung und ihrer Implikationen hängt immer noch ein Ruch von stanniolkäppi-bewehrter Paranoia an. „Dabei bräuchte man nur die einschlägigen Branchen-Newsletter zu lesen, um festzustellen, dass das keine weit hergeholten Horrorvorstellungen sind”, schreibt die US-Schriftstellerin und Aktivistin Naomi Wolf im „Guardian”. In New York wurde gerade ein umfangreiches Sicherheitspaket in Kooperation mit Microsoft eingetütet. Das System nennt sich ganz prosaisch „Domain Awareness System” (DAS) und kommt – abzüglich der futuristischen Holgramm-Großbildschirme – dem schon recht nahe, was Tom Cruise im Spielfilm „Minority Report” an technischer Intelligenz zu Gebote steht. DAS verbindet und visualisiert alles, was Überwachungskameras, automatische Nummernschild-Lesegeräte, polizeiliche Datenbanken und andere einschlägige Quellen hergeben. In Echtzeit verarbeitet werden auch der Input von der 911-Notrufzentrale und gesprochene Informationen aus dem Polizeifunk. Dabei ist gewissermaßen das Pilotprojekt einer Public-Private-Partnership der Stadt New York und dem Software-Riesen aus Redmond. Verkauft Microsoft das System an andere Kommunen in den USA oder sonstwo auf der Welt, winkt der Metropole ein 30prozentiger Gewinnanteil. „Vielleicht lassen sich damit ja ein paar Dollars machen”, so New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg.
Ohne Zweifel ist der ganze Themenkomplex Überwachung, Biometrie und Verhaltenskontrolle im öffentlichen Raum ein Billion-Dollar-Business, das in den kommenden Jahren exorbitante Zuwachsraten erwarten lässt. Und europäische Konzerne wie Siemens, EADS oder British Aerospace mischen kräftig mit in diesem Geschäft. Spätestens das umstrittene INDECT-Projekt der EU sollte deutlich gemacht haben, dass Europa keine Insel der Seligen ist, was die immer weiter gehende Überwachung des öffentlichen Raums und die zunehmende Verdatung von immer Lebensaspekten der Bürger angeht. Ein weiteres von der EU finanziertes Projekt firmiert unter dem Bandwurmnamen Automatic Detection of abnormal Behaviour and Threats in crowdes Spaces (ADABTS). D as Lastenheft entspricht etwa dem Leistungsumfang solcher Systeme, wie sie der US-Herstellers BRS Labs zur Überwachung öffentlicher Plätze und Gebäuden anbietet. Dabei soll ADABTS einem telepolis-Bericht zufolge einerseits helfen, vergangene Ereignisse zu rekonstruieren und andererseits sowie Prognosen für künftige unerwünschte Ereignisse abgeben und natürlich auch präventiv wirken – etwa im Hinblick auf Gewaltdelikte in Fussballstadien und Randale, aber auch gegen Urinieren im öffentlichen Raum oder das Durchstöbern von Müllbehältern.
Wie immer man die Implikationen dieser technischen Fortschritte gesellschaftspolitisch bewerten mag: Beeindruckend sind die mittlerweile verfügbaren sensorischen Leistungen allemal. Während der Fußball-Europameisterschaft kamen in Polen dem Vernehmen nach Kameras mit so hoher Auflösung zum Einsatz, dass auf 220 Meter Entfernung noch Nasenhaare im Gesicht erkennbar waren. Derzeit entwickelt eine Firma in Idaho Scanner, die Fingerabdrücke noch auf Entfernung von 5 bis 6 Metern ablesen können. Am Media Lab des Massachussetts Institute of Technology (MIT) wird laut “New Scientist” eine Software namens MindReader entwickelt, um die Emotionen hinter einem menschlichem Gesichtsausdruck zu entschlüsseln. Das Programm lernt immer besser, Zufriedenheit, Langeweile, Glück, Frustration, Trauer und Wut zu unterscheiden. Eine erste kommerzielle Testversion des Programms wird in der Werbeforschung bereits verwendet. Aber bei aller Begeisterung sind sich die MIT-Programmierer auch dessen bewusst, dass diese Programme unter Umständen erhebliches Missbrauchspotenzial bergen – vor allem, wenn die Identität der analysierten Personen offen zutage liegt. „Man müsste sich schon Sorgen machen, dass ein Diktator danach trachten könnte, ein ganzes Dorf auszulöschen, das ihn offensichtlich nicht mag.”