Alle reden über treffsichere Algorithmen – dabei ist die Forschung zu den historischen und gesellschaftlichen Hintergründen der Wahlen in Amerika mindestens ebenso interessant.
Die Amerikaner haben gewählt. Vorangegangen ist die größte Werbeschlacht in der Geschichte des amerikanischen Wahlkampfs – am Ende fiel das Ergebnis für Obama wesentlich besser aus, als die meisten erwartet hatten. Fasziniert begutachtet die Welt die verblüffend treffsicheren statistischen Vorhersagen von Nate Silver, der schon länger vom Sieg des Amtsinhabers überzeugt war. An den meisten Leitmedien sind diese Vorhersagen allerdings vorbeigegangen – allgemein wurde mit einem engen Rennen gerechnet.
Wer die Nacht vor dem Fernseher verbracht hat, war vermutlich ebenfalls früher oder später überrascht, denn die Wahllandkarte ist deutlich mehr rot als blau. Die USA scheinen eigentlich voller Menschen zu sein, die republikanisch wählen, selbst in Staaten wie Florida, die am 6. Januar 2013 für Obama stimmen werden, gibt es nur einige blaue Inseln in einem roten Meer. Dafür gibt es zwei Gründe: erstens das System der Wahlmänner. Zweitens die Bevölkerungsstruktur und die damit einhergehenden sozialen Strukturen und Institutionen in den USA.
Das eigenwillige System der Wahlmänner hat komplizierte historische Wurzeln, über die ganze Dissertationen geschrieben worden sind. Arg verkürzt, war das Ziel der Gründerväter, daß die Bevölkerung ein Parlament wählen sollte, die Union der Föderalstaaten hingegen die Exekutive. Zu diesem Zweck wird seither für jeden Staat in regelmäßigen Abständen die Anzahl der Wahlmänner nach Maßgabe der Bevölkerung bestimmt – wohlgemerkt der gesamten Bevölkerung, nicht der wahlberechtigten Bevölkerung. Die Wahlmänner sind mehr oder weniger verpflichtet, am Wahltag kollektiv für den Kandidaten zu stimmen, der unter den Wählern ihres Heimatstaates die Mehrheit gewonnen hat. Die unterlegene Minderheit bleibt dabei unrepräsentiert, was auch die gelegentliche Differenz zwischen „electoral vote” (Wahlmänner) und „popular vote” (Anzahl der individuellen Stimmen pro Kandidat) erklärt, so geschehen im Jahr 2000 in der GW Bush vs. Al Gore.
Die individuellen Stimmen der Bürger werden am Wahlabend ausgezählt und auf Distriktebene aggregiert für die schönen bunten Landkarten (wobei manche Prognosen sich auch auf Befragungen der Wähler nach Verlassen des Wahllokals stützen). Dort sieht man dann auf Distriktebene blaue Inseln im roten Meer, was daran liegt, daß Städter tendenziell demokratisch wählen, Bewohner ländlicher Gegenden hingegen republikanisch. Die Bevölkerungsdichte ist aber in Städten und vor allem auch den Ballungsräumen an der Ost- und Westküste sehr viel höher, so daß eine blaue städtische Insel sehr viel mehr Wähler repräsentiert als ein roter Landstrich im einsamen Montana, oder im sumpfigen Florida. [Für eine bevölkerungsangepasst Karte der Wahlnacht – bitte hier klicken.]
Dasselbe gilt auf Ebene der Staaten: es gibt viele Staaten, die am 6. Januar Wahlmänner für Romney entsenden werde, aber diese haben wenige „electoral votes”, weil wenig Bevölkerung, während Obama in diesem Jahr (voraussichtlich) drei der vier bevölkerungsreichsten Staaten gewonnen hat (California, New York und Florida). Aus diesem Grund liegt auch häufig der republikanische Kandidaten in den frühen Abendstuden amerikanischer Zeit erst mal vorne – in den wenig und dünn besiedelten Staaten geht die Auszählung schneller als in den Metropolen, wo in jedem Distrikt wäschekörbeweise Wahlzettel gezählt werden müssen, folglich liegen die Hochrechnungen früher vor (zumal etliche dieser Staaten ohnehin traditionell standhafte Republikaner sind, an deren Wahlverhalten kein Zweifel bestehen kann).
Das erklärt das Auseinanderfallen von optischer Intuition und Realität – aber es stellt auch ein erstaunliches Muster dar. Teilweise ist die Soziologie dahinter nicht sehr kompliziert: linke Intellektuelle zieht es oft in die Städte, und auch der Bevölkerungsanteil weniger wohlhabender Individuen und Minderheiten ist höher, und die wählen tendenziell eher für den demokratischen Kandidaten, der für mehr Staat und Umverteilung steht (oder zumindest so wahrgenommen wird). Im ländlichen Raum hingegen erhalten sich eher konservative Werte, darunter das unantastbare konstitutionelle „right to bear arms”, Familie, Kirche, Unabhängigkeit.
Möglicherweise hat diese Verteilung aber auch historische Wurzeln. Die Forscher Nisbett und Cohen vertreten die These, daß die Präferenz von Südstaatlern für ihre traditionellen Freiheiten mit der Besiedlungsgeschichte der USA zusammenhängt. Zuerst kamen die Puritaner und besetzen Teile der Ostküste. Nachdem der Grundstein gelegt war, wurden die USA ein attraktives Ziel für jüngere Söhne englischer Aristokraten, die vor allem in den Südstaaten mit Plantagen die ihnen bekannten sozialen Strukturen beibehielten. Die verfolgten Quaker ließen sich vor allem in Delaware nieder ,und um die Mitte des 18. Jahrhunderts emigrierten etwa 200,000 Schotten (und deren irische Nachfahren). Letzere ließen sich im Hinterland gen Westen nieder – gleichermaßen aus Notwendigkeit, da Ostküste und Südstaaten bereits besiedelt waren, wie aus Vorliebe für Vertrautes, nämlich für Viehzucht geeignete Landschaften. Mit ihnen kam eine „Culture of Honor”.
Nisbett und Cohen argumentieren, daß auf Viehzucht basierende Gesellschaften eine höheres Aggressionpotential haben als jene mit landwirtschaftlicher Tradition. Tiere auf vier Beinen können sehr viel leichter gestohlen werden, Viehzuchte beansprucht mehr Platz, führt zu dünnerer Bevölkerungsdichter und ist überhaupt schwieriger zu kontrollieren – der Einzelne ist mehr auf sich selbst gestellt und mußte im Zweifel – historisch – sein Recht selbst verteidigen, wenn Institutionen und die Repräsentanten staatlicher Ordnung nicht so schnell eingreifen konnten. Vor diesem Hintergrund war es möglicherweise in viehbasierten Gesellschaften (also auch nomadischen Völkern in anderen Weltregionen) ein evolutionärer Vorteil, auf Bedrohungen oder Angriffe schnell und entschlossen zu reagieren.
Bei den Schotten kam noch hinzu, daß diese grundsätzliche Tendenz zur Selbstverteidigung durch die unruhige Geschichte der Grenzregion mit ihrem über Jahrhunderte andauernden Konflik verstärkt wurde. Die tatsächliche Neigung von Südstaatlern, Ehrverletzungen ernster zu nehmen, bestätigen die Forscher übrigens in einer Reihe von Experimenten. Größer angelegte Studien zeigen, daß die Anzahl von Totschlagsdelikten mit weißen Tätern in Distrikten mit hohem Anteil schottischstämmiger Bürger überdurchschnittlich hoch ist.
Nun sind 200,000 Siedler (ursprünglich) nicht viel, aber in einem relativ leeren Landstrich hatte es möglicherweise doch dauerhaften Einfluß, daß diese speziellen Siedler der zunehmenden Staatsmacht aus Washington weniger zugetan waren und im Zweifel ihre individuellen Freiheiten stärker verteidigt haben. Berücksichtigt man außerdem, daß dünn besiedelte Landstriche immer schwerer zu regieren sind, und das föderale System der USA den Staaten bis heute Freiheiten läßt, gewinnt die Hypothese noch an Plausbilität. Zumal sie eben auch sehr schön, alle Jahre wieder, mit dem Wahlverhalten zusammenpasst: die bevölkerungsarmen, großen, leeren Staaten im Süden und Westen entscheiden sich unabhängig von wechselnden Politikergesichtern regelmäßig für die republikanische Partei, die ihnen weniger Staat, drastischere Strafen, mehr althergebrachte Freiheiten und konservativere Werte verspricht. Das kann eigentlich kein Zufall sein.