Vor 200 Jahren war die Kartographie eine Wissenschaft für sich. Das moderne Äquivalent heißt Geoinformationssystem – und ist mindestens ebenso komplex.
Kennen Sie John Snow? Nein? Kein Wunder, der Mann lebte von 1813-1858, und seine Entdeckungen waren ein Segen für viele Menschen – wenn auch nicht unbedingt nobelpreiswürdig. Der wird bekanntlich vor allem für theoretische Fortschritte vergeben, und Snow war Empiriker. Dafür allerdings ein großer Empiriker, wird er doch von diversen Disziplinen als Mitbegründer betrachtet.
John Snow war Arzt, Anästhesist und Epidemiologe, erlebte sowohl in London als auch anderswo diverse Cholera-Ausbrüche, und befasste sich eingehend mit deren Ursachen. Über Snow als Großgestalt der Epidemiologie vermag ich nicht viel zu sagen, aber von Ökonometrikern wird er bisweilen als einer der Ersten angeführt, die ein „natural experiment” analytisch ausgewertet haben, nämlich im Zusammenhang mit einer Cholera-Epidemie in London. Snow verzeichnete und analysierte die betroffenen Haushalte im Zusammenhang mit ihrer Wasserversorgung, identifizierte eine bestimmte Wasserpumpe als Ursache, und beseitigte diese (angeblich, indem er den Handgriff entfernte). Darüber hinaus wird er aber auch als von einer Teildisziplin der Geographen reklamiert als einer der Ersten, die ein „geographisches Informationssystem” (GIS) aufgestellt haben.
Geographische Informationssysteme (GIS) wiederum sind eine jener technischen Errungenschaften, deren sich die meisten Menschen überhaupt nicht bewußt sind, obwohl unser Alltag ohne sie kaum noch denkbar wäre. GIS sind nämlich die Basis für fast jedes Navigations- und Landkartenprogramm, aber auch für diverse andere kartenbasierte Anwendungen, inklusive Stadtplanung, Katastrophenschutz und Marketing. GIS funktionieren, vereinfacht gesagt, wie eine elektronische Landkarte mit anghängter, vollintegrierter Tabelle. Die Landkarte arbeitet dabei nach wie vor mit Koordinaten, denen weitere Informationen hinzugefügt werden: Bäume, Häuser oder Tankstellen auf Koordinaten, Bevölkerungszahlen zu Flächen, Straßen als Linien, und diesen Daten wiederum können weitere Informationen angehängt werden: die Bewohner des Hauses, die Baumsorte, die Aufteilung der Bevölkerung nach Alter, der Zustand der Straßenabschnitte… prinzipielle unendlich viele Informationen, die über das GIS datenbankartig organisiert und abrufbar sind. Im Alltag nehmen wir diese Annehmlichkeiten hin – dabei sind sie eigentlich keineswegs selbstverständlich.
Im Gegenteil, noch vor hundert Jahren waren weite Teile der Erde kaum vermessen. In der Kolonialzeiten schwärmten hunderte Vermessungsingenieure über Afrika aus, um die neugewonnenen Ländereien zu vermessen, und eine zweihundert Jahre alte Karte gibt für viele Landstriche eine ziemlich schräge Darstellung wieder. Dabei spielte die Mathematik eine bedeutende Rolle. Frühe Landkarten, abseits der Maßstabstreue, gab es bereits vor Christus, aber erst um 1500 entwickelten die Karten eine gewisse Realitätsnähe. Eines der größten Probleme stellte dabei die Erkenntnis dar, daß die Erde eine Kugel ist – und sich damit nur bedingt auf eine ebene Fläche projizieren läßt.
Den mathematischen Beweis für dieses Problem führte Gauss mit seinem Theorema Egregium, aber es läßt sich auch ohne Mathematik nachvollziehbar machen: einen Ball kann man noch so weit auseinanderschneiden und in kleine Flächen zerlegen, die verbleibenden Stücke müssen stets verbogen werden, wollte man sie auf eine Fläche pressen. Das läßt sich immerhin näherungsweise tun, allerdings nur indem man Lücken oder Verzerrungen inkaufnimmt. In der Tat tun dies bis heute sämtliche Projektionen. Fast jeder hat schon einmal die Projektion von Mercator gesehen, bei der die Längen- und Breitengerade als parallele Linien erhalten bleiben – allerdings um den Preis, daß die Flächen der Kontinente verzerrt sind, und zwar umso mehr, je weiter die Flächen vom Äquator entfernt sind. Grönland hat dann zumindest optisch annähernd die Fläche von Afrika.
Wünschenswert wäre es, sämtliche Eigenschaften der Erdoberfläche auf einer zweidimensionalen Karte erhalten zu können, namentlich Flächen, Distanzen, Winkel, Umrisse, Richtungen und Größenverhältnisse. Wünschenswert, aber leider unmöglich: irgendeinen Tod muß man bei der Projektion sterben. Will man daher mit einer Karte Flächen analysieren, ist die Mercator-Projektion suboptimal, aber mittlerweile gibt es für fast jeden Bedarf die verschiedensten Projektionsmethoden. In Zeiten hochentwickelter Mathematik und Computerrechnerkraft ist die Auswahl groß, doch früher war die Projektion mühevollste Kleinarbeit. Im ersten Schritt mußten Längen- und Breitengerade in ein kartesisches Koordinatensystem überführt werden, womit gleichzeitig die wesentlichen mathematischen Entscheidungen und Verzerrungsart bestimmt waren, um dann im nächsten Schritt die verschiedenen Flächen passend einzutragen. Das Projektionsdilemma erklärt jedenfalls, warum manche Weltkarten viereckig sind, andere eher oval, und wieder andere alle möglichen Lückenmuster aufweisen – das scheint im schulischen Erdkundeunterricht völlig an mir vorbeigegangen zu sein. Bei Länderkarten, oder überhaupt Landkarten, die kleinere Ausschnitte der Erdkugel abbilden, ist das Problem natürlich weniger gravierend, und die Verzerrung jedenfalls deutlich weniger augenfällig.
Heutzutage hingegen muß der Geograph seinem GIS nur sagen, welche Projektion anzuwenden ist, um bestimmte Berechnungen auszuführen, und der Computer macht den Rest. Wobei natürlich die Entscheidung über die geeignete Projektion nach wie vor nicht trivial ist, und Fachkenntnis voraussetzt.
Theoretisch eröffnen Computer und GIS ganz neue Möglichkeiten, Projektionsprobleme anzugehen, einerseits weil die Projektion vom drei- in den zweidimensionalen Raum einfacher geworden ist, und damit der Wechsel hin und her auch leichter wurde. Alternativ wird daran gearbeitet, kugelige Körper in vielflächige, eckige Körper zu überführen (ähnlich wie Fußballmuster, tatsächlich in Anlehnung an die platonischen Körper), die dann leichter zu projizieren sind.
Während sich Kartographen und Geographen weiter mit den technischen Finessen der Kartographie plagen, freuen sich die Wissenschaftler vieler Disziplinen über unendliche neue Forschungsmöglichkeiten. Auch sozialwissenschaftliche Daten lassen sich mit Georeferenzierung und GIS unter völlig neuen Gesichtspunkten analysieren, angefangen bei Distanzen und geographischen Hilfsvariablen bis hin zur räumlichen Berücksichtigung von Spillover-Effekten zwischen Nachbarn. Ganz abgesehen davon, daß auch Laien inzwischen ohne großartiges Fachwissen schöne Landkarten mit lustigen Details basteln können, nicht zuletzt dank des prominentesten Kartenanbieters im Internet, Google.
Dessen Dienstleistungen basieren natürlich in vieler Hinsicht auf GIS, und die Frage, inwieweit es sich dabei um ein veritables GIS handelt wird im Internet sehr ernsthaft diskutiert. Jeder Nutzer kann theoretisch kleine Datenpunkte hinzufügen, aber die Möglichkeiten der statistischen Auswertung und bildlichen Darstellung sind im Vergleich zu professioneller Software doch sehr beschränkt. Dennoch: führt man sich vor Augen, wie unendlich aufwendig es ist, die vielen Informationsstückchen, die im Navigationsgerät abrufbar sind (Tankstellen, veränderte Straßenführungen, Distanzen, Zeiten, Hotels etc.), in eine Landkarte einzupflegen, dann wundert es nicht mehr, daß es der Konkurrenz schwer fällt, in diesem Geschäft ein Bein auf den Boden zu bekommen. Die Ressourcen, die Google in seinen Dienst investiert, sind enorm – aber dafür ist die entstehende, hochorganisierte Datenbank auch enorm.
John Snow wäre sicher sprachlos, wie weit die geographisch-empirische Datenanalyse seit seiner handgemalten Karte eines Londoner Stadtviertels gediehen ist. Welche Fortschritte bei diesem Tempo in den 150 Jahren zu erwarten sind, vermag ich mir nicht vorzustellen.