Kamerabestückte Schaufensterpuppen beäugen heimlich die Kundschaft , Außenwerbeflächen scannen Passantenströme und passen die Motive an das Publikum an. Die Werbevisionen aus dem Kinofilm „Minority Report” werden wahr.
Fühlen Sie sich beim Shopping manchmal beobachtet, auch wenn gar kein Personal in Sicht ist? Mit gutem Grund, denn schließlich ist es inzwischen eher die Regel als die Ausnahme, dass Geschäfte per Videokamera überwacht werden. Normalerweise verdrängt man den Gedanken daran schnell wieder, der Schnäppchenjagdtrieb ist im Zweifelsfall stärker. Doch jetzt bekommt die Ausspähung der Kundschaft eine neue Qualität: Einige Modeketten rüsten ihre Ladenlokale mit Schaufensterpuppen aus, in deren Augen ist eine Videokamera installiert ist. Die dekorativen Figuren sind von herkömmlichen Artgenossen nicht zu unterscheiden, aber ihre Kameras arbeiten mit Gesichtserkennungs-Software und können Alter, Geschlecht und Ethnie ihres Gegenübers recht gut erkennen. Der in Italien ansässige Hersteller preist seine Puppen als potenziellen Verkaufsturbo: Mit Hilfe der so gewonnen Daten über die Kundschaft könnten die Auslagen besser an das Kundeninteresse angepasst werden, was sich in messbar steigenden Umsätzen auszahlen würde.
Nach Herstellerangaben zufolge tun bereits mehrere Dutzend der „EyeSee-Mannequin” genannten Kamerapuppen (Stückpreis um die 4000 Euro) in mehreren europäischen Ländern Dienst. In Deutschland sei derzeit noch keine Puppe im Einsatz, aber mehrere Modeketten hätten Interesse bekundet. Interesse an dem Thema bekunden freilich auch die Datenschützer, denen die Spähpuppen hochsuspekt sind: Peter Schaar, der Bundesbeauftragte für Datenschutz, hält den Einsatz dieser Figuren für „rechtlich mehr als zweifelhaft”, selbst wenn an der Ladentür auf die Überwachung hingewiesen würde. Aber mehr Sorgen macht dem Datenschützer die weitergehende Verknüpfungsmöglichkeit der biometrischen Scans durch die Puppen mit der regulären Videoüberwachung, der persönlichen Identität beim elektronischen Bezahlen, dem aus der Kundenkarte ersichtlichen Konsumprofil und mit aus Funketiketten gewonnenen Erkenntnissen. „Ich halte eine solche lückenlose Verhaltenskontrolle für unzulässig”, so Schaar gegenüber der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ).
Das sieht der Hersteller deutlich entspannter: „Natürlich werden einige Kunden den Gedanken zunächst unangenehm finden, von den Puppen beobachtet zu werden”, sagte Almax-Chef Max Catanese gegenüber der Berliner Zeitung. Doch dazu gebe es keinen Grund. „Wir werden doch ohnehin im öffentlichen Raum permanent beobachtet – und die Puppen rufen ja nicht meine Freundin an, wenn ich an einem Geschäft vorbei gehe.” Die Läden, welche die Puppen aufstellten, interessierten sich nicht für jede einzelne Person mit Namen und Adressen, sondern für aggregierte Daten. In einem Fall hätten die „EyeSee”-Puppen beispielsweise beobachtet, wie in den ersten beiden Tagen eines Schlussverkaufs vor allem Männer Kauflust gezeigt hätten – entsprechend wurde die Auslage angepasst, und die Verkäufe stiegen messbar an.
Aber heißt das notwendigerweise, dass die persönliche Erkennung und individuelle Ansprache des Kunden Zukunftsmusik bleibt? In Steven Spielbergs Science-Fiction-Film „Minority Report” ist die individualisierte Werbung gewissermaßen auf die Spitze getrieben: Überall im öffentlichen Raum sind Iris-Scanner installiert, es ist somit praktisch unmöglich, ungesehen und unerkannt durch die Stadt zu kommen. Und so wird die Hauptfigur John Anderton in einer Passage von einer Guinness-Werbung an einer elektronischen Plakatwand angesprochen und kurz darauf namentlich begrüßt, als er eine Filiale der Modekette GAP betritt. Die Filmhandlung spielt im Jahre 2054, aber glaubt man Werbeexperten, steht der Durchbruch der digitalen und intelligenten Außenwerbung kurz bevor: „Die Zeiten geklebter Papier-Plakate, die zehn Tage lang hängen, sind bald vorbei”, schreibt Thomas Koch, der Altmeister der Werbeplaner. Digital Signage, wie das elektronische Plakatmedium nun heißt, kennt Uhrzeiten, Wetterbedingungen, Verkehrsströme. „Sie ‚er-kennt‘, wenn erwünscht, jeden einzelnen Konsumenten, kennt seine Bedürfnisse – und leitet ihn zum nächsten Point of Sale”, schwärmt Koch. Allerdings erfordere die digitale Transformation gewaltige Investitionen.
Doch den Schritt zur gezielteren Ansprache nicht mitzugehen, ist keine ernsthafte Option. So wie der stationäre Handel durch den E-Commerce mit seinen profunderen „consumer insights” und kürzeren Reaktionszeiten unter enormen Druck gerät, muss sich die gute, alte Plakat- und Leuchtreklame im Wettbewerb mit anderen Werbemedien behaupten, die viel genauer nachweisen können, von wie vielen Adressaten sie gesehen wurden und welche weitergehenden Effekte daraus resultierten. Verglichen mit technisch gemessenen TV-Einschaltquoten, den auf Befragung basierenden Print- und Radio-Reichweiten oder gar der Datenfülle, die das Web über seine Benutzer ausspuckt, nehmen Werbeplaner die Schätzungen der Außenwerber, wie viele Passanten an Plakaten und Displays im Schnitt vorbei kommen und auch hinsehen, nicht so richtig ernst.
In Japan hat der Elektronikhersteller NEC bereits kamerabestückte Werbedisplays getestet, die alle Passanten vor dem Display erfasst und computergestützt deren Alter und Geschlecht bestimmt. Auf dem Bildschirm erscheint dann ein Angebot, das auf die Person zugeschnitten ist, die gerade vor der Werbung steht. So richtet sich zum Beispiel der Menüvorschlag einer Fast Food Kette nach dem Alter des Konsumenten. Ein ähnliches Projekt mit sogenannten Smart Displays läuft derzeit in mehreren U-Bahnhöfen in Tokio. Auch hier werden Alter und Geschlecht erfasst und die ausgespielten Werbebotschaften daraufhin optimiert. Dank dieser Datenfülle wissen die Betreiber wesentlich genauer als bisher, wie viele und welche Menschen sich die betreffende Werbebotschaft tatsächlich anschauen und wie lange sie durchschnittlich vor dem Display stehen bleiben.
Hierzulande hat das Berliner Außenwerbungsunternehmen Wall AG City-Light-Poster-Vitrinen mit Facetracking-Sensoren bestückt. Eine Kampagne von Amnesty International mit dem Slogan „Es passiert, wenn niemand hinsieht” spielte 2009 recht geschickt mit der Aufmerksamkeit des Publikums, um für das Thema häusliche Gewalt zu sensibilisieren. Schauten Wartende auf das Plakat in der Werbe-Vitrine des Haltestellen-Wartehäuschens, sahen sie ein scheinbar glückliches Paar. Sobald man wegsah, schlug der Mann plötzlich auf die Frau ein – und das vermeintliche Idyll entpuppte sich als Fassade für häusliche Gewalt.
Darüber hinaus eröffnen Bluetooth, QR-Codes, WiFi und Smartphone-Apps den elektronischen Plakaten allerlei Interaktionsmöglichkeiten mit den Passanten. Als nächsten Schritt sehen Experten das sogenannte „Gladvertising” – digitale Außenwerbung, die auf die Stimmungslage von Konsumenten reagiert, indem sie mithilfe von Emotionserkennungssoftware (EES) und Kameras ermittelt, in welcher Stimmung Personen sind. Laut einer Studie des britischen Centre for Future Studies werden wir in den nächsten Jahren eine „explosionsartige Verbreitung von intelligenter Out-of-Home-Werbung” erleben. Zu den interaktiven Innovationen, die sich bis 2015 durchsetzen könnten, zählt beispielsweise kontextbezogene Werbung, die die jeweilige Situation des Konsumenten berücksichtigt – also beispielsweise Außenwerbung für Regenschirme, sobald es regnet. Oder multisensorische Werbung, die mit Bewegtbild, Klang, Ton und Licht die verschiedenen Sinne der Adressaten anspricht. „Wir arbeiten derzeit an Technologien, die an den berühmten Film ‚Minority Report‘ von Steven Spielberg erinnern”, sagt Daniel Steinbichler, Vorsitzender der Geschäftsführung beim Außenwerbedienstleister GTG GmbH (3MGTG). Nur eben mit dem Unterschied, dass diese bereits 2015 und nicht erst wie im Film prognostiziert 2054 erhältlich sein werden, so Steinbichler – „und zwar weiter fortgeschritten, als es sich der Regisseur damals ausgemalt hat.”
Bild 4: © 2009 Wall AG (https://www.wall.de)