Soziale Netzwerke seien Orte der Glättung, niemand könne mehr anders sein, kritisiert der Philosoph Byung-Chul Han. Denn soziale Normen, die Themen tabuisieren und Internetnutzer dazu auffordern, weniger Privates öffentlich zu teilen, werden stärker.
„Sobald du das Gefühl hast, du musst sich verstellen und kannst nicht mehr frei darüber sprechen, was dich bewegt, ist die Zeit eines Netzwerkes vorbei“, sagte jemand zu mir nach einer Podiumsdiskussion in Frankfurt, auf der ich über Post-Privacy diskutiert hatte. Ich hatte mir den Gesprächsverlauf anders vorgestellt, denn bei dem sich wandelnden Umgang mit Privatsphäre und der digitalen Vernetzung mit anderen Menschen sehe ich zunächst die Chancen, die darin liegen, die guten Erfahrungen, die ich in den vergangenen Jahren damit gesammelt habe. Die Debatte fand sich jedoch schnell beim Thema Datenschutz wieder und offenbarte vor allem die Sorgen, die mit dem Thema verknüpft sind. Das Bild das gezeichnet wird, zeigt Menschen, die quasi schutzlos und nackt zur Kommunikation im Internet gezwungen werden und nur im beständigen Bemühen einen Restfetzen Kontrolle über ihre Daten zurückgewinnen können. Hinsichtlich sozialer Netzwerke sind es vor allem die Public-by-Default-Einstellungen, die in einer Vehemenz und oft Unwissenheit kritisiert werden, als sei die Registrierung bei Facebook ein Initiationsritus durch den Biss einer tollwütigen Wildkatze. Ich stellte im Zuge der Debatte zwei oder drei Mal die Frage in die Runde und an das Publikum, welche Mängel im Datenschutz konkret empfunden werden, warum Angst gegenüber einer erweiterten Öffentlichkeit im digitalen Raum besteht. Keiner der Teilnehmenden nannte im Rahmen seiner Bedenken Themen wie Fluggastdaten, Videoüberwachung, Vorratsdatenspeicherung oder Identitätsdiebstahl. Diffuse Ängste, vor allem aber Bedenken, dass Kinder und Jugendliche sich über unbedachte Kommunikation im Internet den Lebensweg ruinieren, dominierten. Debatten um Datenschutz spalten sich folglich auf; der Fokus auf die eigenen Vorsichtsmaßnahmen in sozialen Netzwerken gibt Menschen dabei das Gefühl zurück, ihre Daten kontrollieren zu können und Privatsphäre zurückzuerlangen. In dieser Hoffnung werden insbesondere Kinder und Jugendliche zur Selbstkontrolle angehalten. Dabei verhalten sie sich eigenständig bedacht im Nutzen des Internets. Ihre Techniken, Spuren zu verwischen und codiert zu kommunizieren sind hoch kreativ, wie zum Beispiel die Medienwissenschaftlerin Danah Boyd in ihren Forschungsarbeiten darlegt. Privatsphäre wird von den Jugendlichen nicht nur über die technischen Einstellungen kontrolliert, sondern primär über soziale Techniken, über die sie Gruppenzugehörigkeit herstellen und nur für Eingeweihte verständlich sind. Die Anpassung des Verhaltens erfolgt intendiert und bewusst. Was die Jugendlichen dabei auch lernen, ist, dass ihr freies Verhalten sanktioniert werden könnte und es Wege gibt, das zu vermeiden. Diese Erkenntnis ist dabei nichts Netzspezifisches, denn Menschen lernen fortwährend, welche Verhaltensweisen sozial erwünscht oder akzeptiert sind, auf welche Art und Weise sie sich anpassen und gefallen können, auch wie sie andere provozieren.
Kinder wachsen nicht nur mit zahlreichen ausgesprochenen Regeln auf, sondern auch mit unzähligen ungeschriebenen Verboten, mit Erwartungen und oktroyierten Normen. Die Erziehungsideologie, die insbesondere in Debatten über Medienerziehung offenkundig wird, setzt auf Anleitung, Kontrolle und Grenzen, selten auf Eigenständigkeit, Vertrauen und Freiheit. Sind Jugendliche in der Pubertät vielleicht nicht per Default schwierig? Was als bockiges und rebellisches Verhalten beschrieben wird, ist in der Tat ein Ringen um Freiheit. „Unangepasst“ ist dabei gemeinhin ein negativ besetzter Begriff, der jedoch genauso gut als “eigenständig” gelesen werden könnte. Eine Kernanforderung, die standardmäßig in Stellenangeboten zu finden ist. Eine wichtige Bildungsfrage ist daher, wie Eigenständigkeit junger Menschen gefördert werden kann, während angepasstes Verhalten in der Realität am meisten belohnt wird. Sind junge Menschen als Resultat dieses Systems, die mit Anfang zwanzig wieder „vernünftig“ werden, nicht letztlich weniger eigenständig und haben akzeptiert, dass nur das Einwilligen in einen gewissen Verhaltenskodex ihnen Freiheit garantiert, obgleich sie diese damit aufgegeben müssen?
Interessant an der Post-Privacy-Kritik ist, dass viel mehr als die Sorge um den Verlust von Privatsphäre über sie pädagogische Ansprüche gegenüber vermeintlich Erziehungsbedürftigen formuliert werden. Über den Anspruch zu wissen, was richtig ist, wird zunächst Deutungshoheit darüber beansprucht, was Privatsphäre bedeutet und angenommen, dass ihr Schutz Risiken reduziere.
Mann kann trefflich darüber streiten, ob das Credo „Privatheit vor allem anderen“ nun mehr Freiheit garantiert oder diese einschränkt. Doch wie soll die Kommunikation über digitale Medien als Freiheitspraxis funktionieren, wenn von allen Seiten Position dazu bezogen wird, was erlaubt, was gut, was „im Sinne des Netzes“ ist. Während wir einem Kleinkind staunend dabei zusehen, wie es intuitiv beginnt ein iPad zu bedienen, erklären Journalist_innen ihren Leser_innen, dass ein Politiker Twitter falsch benutze. Bilder, auf denen Alkohol getrunken wird, seien rufschädigend, Kommunikation über Beziehungen machten diese fragiler, die Handschrift schwinde. “Lesen können ist noch einmal etwas anderes, als im Internet zu sein”, sagte die Bundeskanzlerin im November. Das konservative Festhalten an einer Momentaufnahme der Welt, das in diesen Argumentationen zum Ausdruck kommt, ist eine subjektive Präferenz und frappierend eindimensional. Es legt nahe, mit dem roten Knopf für das Internet könne das Restrisiko Menschlichkeit in glanzvoll funktionierende Androiden verwandelt werden. So betrachtet hat das technische Gerüst der digitalen Welt den Menschen jedoch nicht zur Maschine gemacht, sondern ein Stück weit humaner. Ja, Menschen tun Dummes, sagen Abscheuliches, sehen betrunken nicht immer vorteilhaft aus und vergessen Kommata.
Der Begriff „Oversharing“ wird benutzt, um zu umschreiben wenn Personen über das Internet private Informationen verbreiten und eine Offenheit zeigen, die sie angreifbar macht. Wer kritisiert, dass andere Ausschnitte ihrer Lebenswelten öffentlich teilen, bringt darin zum Ausdruck, dass er oder sie selbst zum einen klare Vorstellungen von dem hat, „was sich gehört“, zum anderen seine Lebensrealität stark bestimmen möchte. Diese Haltung ist nahezu paradox, denn wer ohnehin nur Interesse an wenigen Menschen in seinem Bezugsrahmen hat, bräuchte sich für diejenigen, die ihre Privatsphäre anders verstehen, nicht einmal interessieren – geschweigen denn echauffieren.
Ich empfehle immer noch gern den Essay „Brave New World of Digital Intimacy“ aus der New York Times von 2008, der den Nutzen des Netzes für die Vertiefung von Beziehungen darlegte. Intimität, die über das Erzählen persönlicher Geschichten hergestellt wird, offeriert jedoch ebenso häufig relevantes Wissen und Gedankenanstäße für unterschiedlichste Diskurse. Nach dem Amoklauf in Newton war es der bewegende Blogpost einer Mutter über ihren psychisch erkrankten 13-jährigen Sohn, der hochbegabt und sensibel ist, gleichzeitig aber zu Gewaltausbrüchen neigt, der seinen Weg durch die sozialen Netzwerke machte. Die Erkrankung eines Familienangehörigen ist etwas, das gemeinhin als höchst privat betrachtet wird, der Text seiner Mutter verletzt strenggenommen sogar das Recht auf Privatsphäre ihres Sohnes. Der Beitrag ist zunächst ein zusätzlicher Blickwinkel auf Erklärungsversuche darüber, warum Menschen gewalttätig werden und drastische Ausbrüche erleben. Darüber hinaus stiftet der Text Gemeinschaft unter Menschen, die ähnliche Erfahrungen machen.
Denn Privatheit bietet nicht nur Schutz. Die gesellschaftlichen Normen und Tabus, über welche Themen öffentlich gesprochen werden kann, welche Situationen jedoch nur mit engen Vertrauten besprochen werden sollten oder Dinge, die ein Mensch niemandem anvertrauen kann, schaffen häufig Einsamkeit. Der Ausbruch auf dem privaten Rahmen in die Öffentlichkeit kann einen Schritt aus der Isolation bedeuten.
Doch anstatt das anzuerkennen, wird die Entscheidung dazu, Gedanken und Gefühle in einer größeren Öffentlichkeit zu verhandeln demjenigen oftmals als Schwäche ausgelegt, als mangelnde Reflexionsfähigkeit, als Narzissmus, als persönliches Versagen enge Freundschaften oder Familie zu besitzen, in deren Kreis persönliche Gespräche geführt werden könnten.
Post-Privacy-Kommunikation ist somit eine Praxis die Vertrautheit herzustellen, die das klassische Verständnis von Privatsphäre einst versprach. Als Beziehungsform ist sie eine Verbindung von einzelnen mit der Welt anstelle von kleineren Bündnissen. Vieles von dem, was Menschen im Netz publizieren, mag anderen banal erscheinen, verfänglich oder unangemessen. Für wiederum andere bedeuten diese Dinge Anknüpfungspunkte, sie schaffen Zugehörigkeit. Die Autorin Jodi Dean hat im Kontext politischer Bewegungen das Konzept der „Reflektierten Solidarität“ entworfen, dass ebenfalls Gedankenanstoß für den respektvollen Umgang in der digitalen Öffentlichkeit sein könnte. Sie schreibt: „Ich verstehe reflektierte Solidarität als wechselseitige Erwartung an eine verantwortungsvolle Orientierung gegenüber Beziehungen. In zeitgemäßen multikulturellen Gesellschaften ist ein sich Verschließen keine Option mehr. Es führt zu Verhärtungen, Gewalt und Exklusion. Es hindert und daran Verantwortung für andere anzuerkennen. Daher verstehe ich reflektierte Solidarität als die Offenheit gegenüber Unterschieden, in der unsere Meinungsverschiedenheiten die Basis dafür sind, Anschluss zu finden.“
In Demokratien ist die Meinungsfreiheit wenig wert, wenn in der digitalen Öffentlichkeit gesellschaftlichen Normen Meinungen stark unterdrücken oder sanktionieren. Verbale Gewalt ist dabei ein Zensurmechanismus; Debatten darüber, welche Themen und Verhaltensweisen sozial akzeptiert sind, verdrängen Meinungsvielfalt und freien Diskurs jedoch ebenso. Am Ende dieser Entwicklung bleibt nicht nur Schweigen, sondern vor allem Langeweile und Künstlichkeit. Die Journalistin Lauren Sandler beschrieb in ihren Beobachtungen zur weiblichen Blogosphäre kürzlich für das NY-Mag, dass die Frauen, die über ihren Alltag bloggten, dies nur noch allzu vorsichtig täten. Für Fotos arrangieren sie ihre ihre Wohnungen zu sterilen Katalogbildern: „Lifestyle ist etwas, dass online nun kuratiert wird, man gibt sich ihm nicht hin. Kein Lebensstil mehr, eher eine verpixelte Tyrannei der häuslichen Göttin.“ Der Philosoph Byung-Chul Han kritisierte kürzlich im SZ-Magazin: “Facebook ist ein Ort der Glättung, wo alle deswegen gleichförmig sind, weil sie anders sein wollen. Jeder wird warenförmig gemacht, damit er sich ins System einfügen kann. Auf Facebook kann keiner mehr anders sein.” Wenn unter sozialem Druck Gedanken und Bilder nur nach rigider Auswahl und mit Blick auf ein minimales Risiko dem digitalen Gedächtnis hinterlassen werden, ist diese Form des Datenschutzes vor allem ein Datenverlust. Die radikalen Möglichkeiten Geschichte umfassend zu dokumentieren, weicht dann der Entscheidung, Geschichten zu schreiben, die niemandem zu nahe treten – und damit schon vergessen sind.