Deus ex Machina

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Über Gott und die WWWelt

Aufbruch ins Netz

Der Beginn der #aufschrei-Debatte liegt ein halbes Jahr zurück, vorbei ist sie nicht. Das Hashtag und seine Rezeption zeigen, wie neue politische Öffentlichkeiten entstehen – und neue Macht.

Die Frage, was nach #aufschrei kommen solle, zieht die Linie. Die Linie zwischen denjenigen, die aus Distanz beobachten, was Feminismus in der Gegenwart bewegt, ob er noch etwas bewegt. Aus einer Distanz, die klar gewählt ist oder die entsteht, weil erst die Empathie und dann die Offenheit fehlen, andere Perspektiven einzunehmen. Diejenigen stehen dort an einem Zaun und warten.

Auf der anderen Seite bewegt sich etwas. Menschen schreiten im Kreis, drei Schritte vor und einen halben zurück. Sie grübeln, streiten, schreiben, wischen sich eine Träne von der Wange, halten einander die Hände und lachen. Die Fragen, was #aufschrei war und was darauf folgt, sind auf den Seiten des Feminismus nachrangig; es ist klar, dass es weitergehen muss. #Aufschrei ist keine Bewegung gewesen, keine Kampagne, und sicher kein Aktionsplan. Die Tweets, die unter dem Hashtag gesammelt wurden und werden, das Erfahrungen von Sexismus und Gewalt markiert, sind Zeichen der Zeit, die aufflackerten und weiterhin Funken sprühen. Von #aufschrei allein kann nur wenig über aktuelle feministische Bewegungen abgeleitet werden, zum einen, weil es „den Feminismus“ nicht gibt, zum anderen, da er viele Aktive nicht mit einbezog oder repräsentierte, zum anderen aber Menschen neu politisierte, für sie Feminismus erst öffnete. So ist #aufschrei ein Angelpunkt in mitten der Vielfalt des Feminismus, von dem wir vor allem über die Transformation von medialen Diskursen lernen können, über die neue politische Öffentlichkeiten entstehen.

Neue Online-Debattenkultur

Den Beginn dieses miteinander Lernens formulierte auch die Jury des „Grimme Online Awards“, die allen, „die sich konstruktiv an #aufschrei beteiligt haben“ am 21. Juni 2013 den Preis verlieh. Das erste Mal in der Geschichte des Awards war ein Hashtag nominiert, das eine so große Gruppe von Menschen zu einem medialen Ereignis und zu einer gesellschaftlichen Debatte mitgestaltet hatten, dass die Auszeichnung von konkreten Preisträgerinnen hinfällig wurde. In der Laudatio hieß es:

„Dabei belegt #aufschrei eindrucksvoll, wie der Brückenschlag zwischen digitalem Resonanzraum und arrondierenden publizistischen Leistungen gelingen kann. Der Wunsch der Jury, die diese Nominierung intensiv diskutierte: Weitere gesellschaftlich virulente Themen sollen eine digitale Diskussionsheimat finden, gestützt von einer neuen, verzahnten On- und Offline-Debattenkultur.“

Die Grimme-Jury fasste damit ebenfalls, dass die Preisvergabe keinen Abschluss einer Debatte feststellen sollte, vielmehr erkannte er die Debattenführung als eine Praxis an, die Zukunft haben soll.

Um zu verstehen, dass #aufschrei eher ein mitten drin im Feminismus als einen neuen Feminismus kennzeichnete, muss man innerfeministische Diskursräume betreten. In den „Feministischen Studien“ lobte Ulla Wischermann #aufschrei als Erfolg, da den Aktivistinnen etwas gelang, „was herkömmlichem feministischen Protest seit Jahrzehnten nicht mehr gelingt: frauenpolitische Themen in Mainstream-Medien unterzubringen“. Hier habe eine feministische Intervention „politische Gelegenheitsstrukturen“ genutzt und aktiv mitgestaltet. Im gleichen Text stellt Wischermann jedoch auch die Problematik am „Medienfeminismus“ heraus: er komme „weitgehend ohne Bezug zur Frauen- und Geschlechterforschung“ aus und suche die Abgrenzung zum so genannten „alten Feminismus“, von dem sich neuer Feminismus abgrenzen müsse, um erfolgreich zu sein. Wischermann bezieht diese Beobachtung auf neue Protagonistinnen des Feminismus, die ein Narrativ suchen, dass sich von Vorgängerinnen absetzt und sich in die Logik von Mainstreammedien und Gleichstellungsrhetorik einpasst. Die Konstruktion von Medienfeminismus ist jedoch komplexer, da die Glättung feministischer Forderungen und die Stilisierung „neuer Gesichter“ des Feminismus mitunter erst über das Zusammenspiel mit großen Medien geschieht, obgleich jüngere Strömungen des Feminismus existieren, die radikal sind und auf theoretisches Fundament aufbauen. Wie „neuer Feminismus“ konstruiert wird belegt beispielhaft eine große Reportage des „SPIEGEL“, die knappe drei Woche vor Verleihung des Grimme-Online-Awards erschien.

“Neuer Feminismus” im Spiegel der Medien

„Hände hoch!“ das titelte das Magazin erschrocken, als auch in den Redaktionsräumen angekommen war – vier Monate nach Beginn der #aufschrei-Debatte – dass Feminismus nicht leise und heimlich von der Bildfläche verschwunden war, sondern sich über neue Formen des politischen Widerstands mit einer Wucht an die mediale Oberfläche gehackt hatte, so dass auch der SPIEGEL das Thema besetzen musste. Kaum eine große Zeitung hat in der ersten Jahreshälfte 2013 darauf verzichtet, die entblößten Brüste der transnational agierenden Gruppe „FEMEN“ abzubilden, die auch der SPIEGEL als Vertreterinnen eines „feministischen Frühlings“ proträtierte. Doch die entscheidende Vorbereitung, feministische Forderungen einem größeren Publikum zugänglich zu machen, haben in Online-Öffentlichkeiten und deren Umfeldern stattgefunden.

Wo Mainstream-Medien und andere prominente Plätze lange kein Ort gewesen sind, an dem Feminismus sichtbar und laut gelebt wurde, haben sich Frauen über digitale Bündnisse selbst Bühnen geschaffen, die klassischen Präsentationsflächen gewachsen sind und diese herausfordern. Die Mechanismen des öffentlichen Diskurses haben sich mit der digitalen Vernetzung von Menschen gewandelt: Geschichten und Impulse für Debatten benötigen keine Nachrichtenagenturen oder Massenmedien, um etwas in Bewegung zu setzen; über soziale Netzwerke und selbst organisierte Publikationen wie Blogs, kann die Quelle einer Story sichtbar sein, die Nachricht sich von dort aus entwickeln und Knotenpunkt einer vernetzten Erzählung bleiben. Forterzählung in klassischen Medien kann ihre Verbreitung entscheidend unterstützen, Journalistinnen werden jedoch nicht mehr benötigt, um eine Geschichte zu legitimieren. Der Druck auf Medien, ein Geschehnis ebenfalls aufzugreifen, kann heute binnen Minuten von denjenigen Bürgerinnen ausgeübt werden, die lange Zeit ein vornehmlich passives Publikum gewesen sind. So wurde über den Brief von sieben Frauen, die Bundespräsident Gauck nicht durchgehen lassen wollten, dass er #aufschrei als »Tugendfuror« bezeichnet hatte, kurz nach Erscheinen als Topmeldung auf Spiegel-Online veröffentlicht.

Geschichte(n) selbst schreiben

Diese neue Möglichkeit selbst zum Medium zu werden, das große Mengen von Menschen leichter erreicht als ein Flugblatt oder ein Fanzine, fällt in das Selbstverständnis von Feministinnen: Sie wollen selbst handeln – nicht be_handelt werden. Als Feministin soziale Netzwerke zu nutzen und Blogs zu schreiben, gehört damit nicht nur zur Agency und zum Werkzeugkasten. Die Publikation von feministischem Wissen, Ideen, Forderungen und die virtuelle Organisation hat das Potential feministische Bewegungen sichtbarer, größer und durchsetzungsfähiger zu machen. Auch die Dokumentation und die damit entstehende Transparenz über feministisches Denken und Handeln kann die Bewegungen nachhaltig stärken: Klischees und Vorurteile können widerlegt werden, Feminismus kann in seiner Vielfalt dargestellt werden, aber vor allem Zugänge für Menschen eröffnen, die sich informieren und dann beteiligen wollen. Insbesondere kann online-basiertes Mitwirken zuvor existierende Hürden senken oder auflösen: Landes- und Sprachgrenzen werden überwunden, Mobilität ist nicht erforderlich, anonymes Engagement ist möglich. Zwar sind die Partizipationsmöglichkeiten über das Netz noch lange nicht vollständig barrierefrei und produzieren Exklusion, dennoch haben sie bereits bewiesen, dass feministische Bewegungen dank des Internets nun auch Menschen erreichen, die in der analogen Welt nicht auf Zugänge und Verbündete gestoßen sind.

#Aufschrei ist dabei auf mehreren Ebenen als feministische Intervention wirksam geworden: Menschen, die sich nicht als Feministin bezeichnet haben, traten für feministische Ziele ein und haben mitunter eine Identifikation mit Feminismus gefunden. Menschen, die zuvor nicht politisch aktiv waren, haben über das niedrigschwellige Engagement bei Twitter erleben können, dass ihr Handeln wirksam wird. Menschen, die sich allein mit ihren Erlebnissen gefühlt haben, haben Verständnis und Solidarität erfahren und vielleicht ähnlich Denkende und Fühlende gefunden. Feministische Blogs, Tweets und Online-Aktionen können die Eintrittstür für neue feministisch Aktive sein. Eine Stufe des Ziels, Frauen oder feministisch denkende Menschen zu einem handelnden (politischen) Kollektiv zusammenzuführen, haben #aufschrei und andere feministische Online-Angebote realisiert. Feministische Netzwerke im Internet speisen sich also von zwei Seiten: Menschen, die über Social Media mit Feministinnen in Berührung kommen, und Feministinnen, die online nach Verbündeten suchen.

Accessoires des Frühlings

Digitale Medien haben die öffentliche Sphäre für junge Feministinnen geöffnet, die zuvor gegen Unsichtbarkeit gekämpft haben. Transnationale Bewegungen wie die „Slut Walks“ oder die #aufschrei-Debatte in Deutschland wurden nicht über Nacht ins Leben gerufen, ihre Kraft basierte auf den Vernetzungen und Vorarbeiten, die über Jahre hinweg virtuell und vor Ort gemeinsam geschaffen wurden. Die Kulturwissenschaftlerin Angela McRobbie nannte die gesteigerte Aufmerksamkeit für das organisierte Engagement einen „feministischen Frühling“, ein Bild, das zunächst an den Überraschungseffekt der arabischen Revolution anknüpft, doch die grundlegende Gemeinsamkeit mit der ägyptischen Bewegung aufweist, die in der Nacherzählung oft vernachlässigt wird: Der Frühling schlug seine Knospen und Blüten aus Wurzeln, die unter der Oberfläche massenmedialer Aufmerksamkeit gesund und getränkt waren – basierend auf langjähriger Vorarbeit. Die Formulierung der SPIEGEL-Autorinnen „Feminismus ist das Thema der Saison“ legte diese Medienmechanismen unbewusst noch deutlicher offen: Wie in der Mode die Aufmerksamkeit für Farben, Schnitte und Materialien dem Willen der Designerinnen und dem Zusammenspiel mit Kritikerinnen unterliegt, ist Feminismus lange Zeit abhängig gewesen von Ideen, die kompatibel mit Nachrichtenwerten und Publikumstauglichkeit waren, sowie dem Interesse von Journalistinnen Feminismus zu einem Thema zu machen.

Brüste und Titeltauglichkeit

Dass in der Spielzeit 2012/13 feministische Teams und Torchancen titeltauglich wurden, lag nicht zuletzt daran, dass sich die Bewegung einfacher über Bilder vermitteln lässt, als in der Analyse ihrer Forderungen: So macht auch der SPIEGEL-Artikel auf mit einem Bild von drei FEMEN-Akvistinnen, die mit freiem Oberkörper für Menschenrechte protestieren. Selbst der ehemals linksintellektuelle „der Freitag“ bildete zwei FEMEN-Mitglieder und ihre unbedeckten Brüste auf seiner Titelseite ab; er wählte sogar eine der Protestaktionen aus, für die FEMEN als rassistisch und bevormundend gegenüber muslimischen Frauen kritisiert worden waren. Auf dem Oberkörper der weißen Frau steht der Spruch: „Muslim let’s get naked“. In dem journalistischen Glücksmoment den schönen weiblichen Körper als Instrument politischer Arbeit auf die erste Seite setzen zu können, blieb keine Aufmerksamkeit mehr für den problematischen Inhalt. Das Saisonthema hatte somit an Fläche in klassischen Medien gewonnen, die tiefere inhaltliche Auseinandersetzung ist jedoch ausgeblieben. Die Sozialwissenschaftlerin Zara Pfeiffer sagte in der letzten Woche auf einer Veranstaltung der Evangelischen Akademie Tutzing: „#aufschrei hat einen utopischen Überschuss produziert. In den Mainstream-Medien ist er jedoch nicht angekommen, dafür aber in Blogs und sozialen Netzwerken.“

Die Beteiligung und das Interesse an den digital organisierten Feministinnen zeigt jedoch sehr deutlich, dass Feminismus nicht out ist – im Gegensatz zu dem Schicksal, was jedem Saisonaccessoire droht. Im Netz und darüber hinaus sind belastbare Strukturen gewachsen, hier organisieren sich insbesondere Mädchen und junge Frauen, die im Feminismus bislang keinen Platz gefunden haben und aus diesem Grund ihre eigenen Orte und Aktionsformen selbst schaffen. In der medialen Konstruktion von Wirklichkeit mag wahrgenommen worden sein, dass #aufschrei ein zeitlich begrenztes Phänomen gewesen ist, dessen Beteiligte von der Massenwirkung wieder in viele, lose und wenig mächtige Einzelakteurinnen zerfallen sind. Doch erkennt man die digitalen Sphäre als eigenständigen Kulturraum an, lässt sich Online-Aktivismus als viel mehr begreifen, als punktuelles Engagement und spielerischen Widerstand: Blogs und die Schwester-Aktivitäten aller Formen des Publizierens im Netz sind von Jugend- und Subkulturen zu ernstzunehmenden Gegenöffentlichkeiten gewachsen. Die Medienagenda rotiert, die neuen politischen Öffentlichkeiten hingegen entwickeln gerade erst Dynamik und testen Strategien, um mit Ideen in den Mainstream zu stoßen und sie dort zu verankern.

Der SPIEGEL-Artikel – der aktuelle feministische Bewegungen staunend beschrieb und ratlos zurückblieb – ist beispielhaft für die Transformation des medialen, öffentlichen und politischen Diskurses, in denen sich langsam die Machtverhältnisse ändern und neue Akteurinnen Einfluss nehmen können und gehört werden. Forderten 2006 noch 15 prominente Frauen in einem ZEIT-Dossier „Wir brauchen einen neuen Feminismus“ finden Zusammenschlüsse von Frauen, die gemeinsam Texte und politische Ziele formulieren, jetzt immer häufiger in digitalen Medien statt, selbst publiziert und mit der letzten inhaltlichen Kontrolle bei den Autorinnen selbst. Die „Neofeministinnen“, die im SPIEGEL zu Wort kommen, sind nicht etwa die „Enkelinnen Schwarzers“, die von der EMMA geprägt wurden oder dort Autorinnen sind, sie stammen nicht aus Parteien oder etablierten Organisationen, sie sind Frauen, die über online Publiziertes – Blogtexte, kurze Tweets, offene Briefe und Äußerungen in virtuellen Diskussionen – auf die Fläche getreten sind und Eindruck hinterlassen haben. Die neuen Publizistinnen benötigen für Einfluss keine Chefredaktion mehr und keinen Verlag. Sie erhalten ihre Legitimation vor allen Dingen von anderen Frauen, die das Netz zusammengebracht hat und zusammenschweißt. So lässt sich auch die Beobachtung entkräften, es handele sich nicht um Frauenbewegungen sondern um Bewegungen von einzelnen Frauen. Die Masse wird jedoch in der Leserinnenschaft im Netz schwerer fassbar, hier lassen sich keine Bilder abgreifen; nur wer geschult ist, kann Daten auswerten und darstellen.

Feministische Blogs als Culture Jamming

Das bekannteste feministische Blog in Deutschland heißt „Mädchenmannschaft“ und wurde 2007 von den Autorinnen des Buches „Wir Alphamädchen“ gestartet. Bereits 2009 war die Autorinnengemeinschaft für den Grimme-Online-Award nominiert – ein weiterer Hinweis, dass die digitale Vernetzung von Feminismus nicht aus dem Nichts kam. Das Gemeinschaftsblog hat sechs Jahre später bereits mehrere Generationenwechsel hinter sich. Das Interesse, auf der Plattform über queer-feministische Themen zu bloggen ist groß. Über das Blog haben sich zahlreiche Autorinnen und Aktivistinnen auch jenseits des Netzes etabliert, es hat neue Blogs angestoßen und Menschen miteinander an virtuellen und physischen Orten miteinander in Kontakt gebracht. Der Abschied von Autorinnen und das Hinzukommen neuer hat innerfeministische Konflikte sichtbar gemacht und die Bandbreite der Themen erhöht: als Blog mit intersektionellem Anspruch werden bei der Mädchenmannschaft heute vor allem queere Perspektiven und Kritik an „Mainstream-Feminismus“ diskutiert, insbesondere sind antirassistische Arbeit und Texte gegen „Fat Shaming“ als Perspektiven hinzugekommen, die in der Verschränkung von jüngerem Feminismus und Medienöffentlichkeit bislang kaum vorgekommen sind.

Dass Frauen jeglichen Alters nach Medienangeboten verlangen, die Menschen in ihrer Diversität widerspiegeln, ist durch die zahlreichen Möglichkeiten des “Self Publishing” im Web sichtbarer geworden. Online Publiziertes trägt erheblich dazu bei, eine Medienvielfalt für und von Frauen herzustellen. Susanne Klingner, Mitgründerin der Mädchenmannschaft, beschrieb das Entdecken amerikanischer feministischer Blogs wie feministing.com, das seit 2004 exisitiert, in einem Gespräch 2009 als „regelrechte Offenbarung“. Im englischsprachigen Raum ist in den vergangenen Jahren ausgehend von Blogs eine kritische weibliche Medienlandschaft gewachsen, die neben großen eigenständigen Angeboten Einfluss in Medienkonzernen gewonnen hat, wie zum Beispiel Jezebel.com, das zu Gawker Media gehört, oder das Ressort „The Sexes“ von Atlantic.com, das sich seit 2012 Genderthemen widmet. Tavi Gevinson, die zunächst als Modebloggerin bekannt wurde und im Alter von 15 das erfolgreiche Onlinemagazin „Rookie Mag“ gründete, hat mit dem Klischee aufgeräumt, dass Teenager sich nicht für Feminismus interessieren könnten und dieser nicht mit offenkundigen Jugendthemen wie Mode, Popkultur und Makeup zusammengeht. Tavi Gevinson macht mit ihrer inhaltlichen Ausrichtung deutlich, dass der Horizont junger Mädchen weit über materielle Wünsche und den Stereotyp des verwöhnten Görs hinausragt – und kontert die fehlende Ansprache junger Mädchen mit einem eigenen Magazin. Denn die Seite, die sie mit anderen jungen Autorinnen und erfahrenen Medienproduzentinnen wie Cindy Gallop schreibt, soll sich von Mainstream-Publikationen unterscheiden, die, wie Tavi findet, vor allem darauf ausgerichtet sind das typische Teenage-Girl zu definieren und sie zum Konsum zu animieren:

“It seems that entire industries are based on answering these very questions. Who is the typical teenage girl? What does she want? And, a lot of the time, How can we get her allowance?”,

schreibt sie im Editorial ihrer Seite. Weiter sagte sie in einem Interview: “Our content respects a kind of intelligence in the readers that right now a lot of writing about teenage girls doesn’t.” Bloggen ist also eine Kulturtechnik, die es Mädchen und jungen Frauen erlaubt gegen und in einer Kultur zu sprechen, die für sie oft kaum Platz bereit hält.

Julie Zeilinger gründete mit 16 „The F-Bomb“, eine Community deren Selbstbeschreibung lautet: „The FBomb.org is a blog/community created by and for teenage girls who care about their rights as women and want to be heard“, das Projekt wird mittlerweile jeden Monat von mehreren einhundertausend Menschen in der ganzen Welt gelesen. Die beiden international bekannten Jungverlegerinnen haben gemeinsam mit anderen Blogs und Autorinnen Feminismus in vielen Formen von einem inneren Bedürfnis zu einer tragbaren Haltung gemacht, nicht als Accessoire der Saison, sondern als täglich getragenes Shirt, das junge Frauen sich mit der gleichen Selbstverständlichkeit überziehen, wie sie miteinander über TV-Serien, Schulprobleme und Liebeskummer sprechen. In dem junge Menschen lernen, dass sie Feministinnen sein können und sich gleichzeitig für Popkultur interessieren können, gibt ihnen das die soziale Erlaubnis, sich für Gleichberechtigung einzusetzen. Humor, kreatives Schreiben, engagierte, provokante Tweets und Memes, die von Feministinnen im Netz genutzt werden, seien effektive Mittel dafür, dass junge Menschen sich mit der Ernsthaftigkeit von Ungleichheit auseinandersetzen könnten, folgern Courtney E. Martin und Vanessa Valenti. Internetkultur gibt ihnen die Werkzeuge an die Hand, in Gegenöffentlichkeiten aktiv zu werden.

In der deutschen Blogosphäre hat sich seit Beginn der Mädchenmannschaft viel getan. Susanne Klingner kann sich über aktuelle feministische Diskussionen nun auch aus einer Vielzahl von deutschsprachigen Blogs informieren, die Lektüre der verschiedenen Angebote ermöglicht das Eintauchen in unterschiedlichste Perspektiven von Alltagserfahrungen bis hin zu akademischen Sichtweisen; sogar Sueddeutsche.de betreibt ein eigenes Blog, das sich Geschlechterthemen widmet. Die feministische, unabhängie Popkultur-Zeitschrift „Missy Magazine“ kann sich seit Launch 2008 aus Verkäufen und Abonenntinnen finanzieren. Zu Missys Erfolg hat die Wiederbelebung einer breiten feministischen Diskussion über selbst produzierte Onlinemedien und die Verknüpfung von Magazin, Blogs und Veranstaltungen entscheidend beigetragen.

Das Hashtag als neue Erzählform

Viel wichtiger jedoch als eigene Publikationen ist der Echtzeit-Austausch von Feministinnen geworden, den Blogs und soziale Netzwerke ermöglichen. Denn Reaktionen auf oder das aktive Einbringen von Themen in digitalen Kanälen entwickeln über das Zusammenbringen von vielen Interessierten eine Einflussgröße, die Agenda-Setting ermöglicht. Dass Feminismus kein bißchen gestern ist, sondern die Unzufriedenheit über Ungleichheiten und Sexismus lange brodelte, zeigte jene intensive Debatte, die im Januar 2013 über Tweets mit dem Hashtag #aufschrei angestoßen wurden. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte kein anderes gesellschaftspolitisches Thema, nicht einmal die Internetsperren, die das Medium selbst unmittelbar betrafen, Internetnutzerinnen derart mobilisieren können. Die Menschen, die über Twitter tausende Fälle zusammentrugen, in denen sie sexuell belästigt, missbraucht oder aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Identität diskriminiert worden waren, leisteten zudem etwas, dass Journalismus nicht leisten kann. Einzelne sexualisierte Übergriffe oder Beleidigungen sind nach zeitgenössischen journalistischen Kriterien nur dann berichtenswert, wenn Prominente involviert sind. Als strukturelles und massenhaftes Problem lässt sich die Alltagssituation von Frauen in Deutschland jedoch von Medien kaum aufarbeiten. Über Twitter jedoch wurden binnen von Stunden tausende von Quellen zusammengetragen, die damit eine neue Erzählform für gesellschaftliche Probleme schufen. #Aufschrei mobilisierte so viele Internetnutzerinnen, da die Hürden für die Beteiligung extrem niedrig lagen: eine Person, die schon einen Twitter-Account hatte, konnte direkt beginnen zu schreiben, der Dienst lässt sich anonym benutzen, einzelne Postings sind auf 140 Zeichen begrenzt und damit meist prägnant formuliert und einfach und schnell zu konsumieren. Das Hashtag #aufschrei verknüpfte die Geschichten mit Links und schuf damit eine unendliche Geschichte, deren Forterzählung live beobachtet werden konnte. #Aufschrei gelang, weil viele Personen daran mitwirken wollten, weil tausende bereit waren, ihre Erlebnisse zu schildern, weil sie wütend genug waren, sie endlich herauszulassen, weil sie in der Gemeinschaft der anderen Erzählerinnen das Gefühl hatten, das Teilen der persönlichen Geschichten könne zunächst Ventil sein, und dann Anstoß für Veränderung.

Für die Medienlogik jedoch musste die Onlinebewegung an Personen gebunden werden, um sie für ein Publikum, dass fernab von Twitter jeden Tag im Fernsehen Geschlechterstereotype reproduziert sieht oder sich über das Seite-3-Mädchen der BILD-Zeitung freut, nachvollziehbar zu machen. Seither gelten Anne Wizorek und Nicole von Horst als Initiatorinnen; Nicole von Horst, weil sie begann Erlebnisse im späten Abend in dichter Reihenfolge zu twittern, Anne Wizorek, weil sie das Hashtag für die Kurzberichte vorgeschlagen hatte. Über Akteurinnen, die über Mainstream-Medien eine breite Bekanntheit erlangen, und von ihnen als Verkörperung eines „neuen Feminismus“ vorgestellt werden, haben feministische Diskurse zunächst insgesamt profitiert. Junge Frauen bekamen die Gelegenheit selbst zu erklären, was gerade geschah und warum. Die Teilnehmerinnen sind die Expertinnen, die von anderen Nutzerinnen aber auch von Journalistinnen direkt befragt werden können – damit verlieren ehemalige Wortführerinnen wie Alice Schwarzer im Diskurs an Bedeutung. Es ist also der Feminismus im Netz gewesen, der das lang bestehende mediale Narrativ gehackt hat, dass es in Deutschland nur eine einzige feministische Stimme gebe.

Personalisierung und Unsichtbarmachung

Die Personalisierung durch Medien hat jedoch auch dazu geführt, die Vielfalt der Bewegung unsichtbar zu machen, die Masse der beteiligten Personen zu verdecken und die ausgewählten Feministinnen zu überlasten. Um feministische Ziele zu realisieren – sei es über politische Entscheidungen wie zum Beispiel die Einführung von Geschlechterquoten, gesellschaftlichen Wandel für ein Ende von Homophobie und Transphobie – müssen diese Ziele im Mainstream diskutiert werden und eine kritische Masse von Menschen überzeugen. Noch braucht es dafür klassische Medien mit hoher Reichweite, auch wenn soziale Netzwerke mit der Akzeptanz von Facebook sowie Suchmaschinen wie Google schon zu einem eigenständigen Massenmedium geworden ist, die für Inhalte aus Blogs und Onlinedebatten durchlässiger werden.

DER SPIEGEL hat für eine Bestandsaufnahme des „neuen Feminismus“ bekannte Vertreterinnen jüngerer Strömungen ausgewählt: Anna-Katharina Meßmer, eine Soziologin, die den offenen Brief an den Bundespräsidenten Joachim Gauck mitschrieb, nachdem er die Sexismus-Debatte als “Tugendfuror” bezeichnet hatte, Klara Martens und Zana Ramadani, Mitgründerinnen von FEMEN Deutschland, und die Mädchenmannschaft, die als Vertreterinnen von „Critical Whiteness“ beschrieben werden, ohne das Blog oder Namen von Autorinnen wie Nadine Lantzsch oder Magda Albrecht zu nennen. Eine objektive Annäherung an die Thematik ist das nicht, die politischen Strategien der Feministinnen werden schon über Auslassung klar gewertet. Die „EMMA“ wird nur erwähnt, weil sie über FEMEN berichtet hat. Eine eigene Rolle im aktuellen Feminismus wird Alice Schwarzer und ihren Redakteurinnen im SPIEGEL-Bericht nicht zugewiesen. Das Stück von Wiebke Hollersen und Jan Fleischhauer ist überdies lustlos recherchiert, denn die einzig konkrete Forderung von Feminist_innen, die sie für ihren Artikel belegen können, ist die Strafbarkeit von Freiern, die Frauen für Sex bezahlen, so wie FEMEN es fordern. Dass #aufschrei nicht nur Artikulation von Wut bedeutete, sondern eine enorm große Forderung nach einer Welt ohne sexualisierte Gewalt und Sexismus, fällt den Autorinnen nicht auf. Oder Ziele wie Gesetzesänderungen, die gleichgeschlechtlichen Paaren die Adoption ermöglichen und ihnen Zugang zu künstlicher Befruchtung ermöglichen, Geschlechterquoten, Equal Pay, Schwangerschaftsabbruch von einer lediglich straffreien Tat hinüberzuführen zu einer regulären Gesundheitsmaßnahme, die freie Erhältlichkeit der „Pille danach“.

Diese konkreten Vorhaben bestehen zum Teil schon so lange und werden so breit geteilt, dass sie in parlamentarischen Initiativen und Parteiprogrammen zu finden sind. Ein weiterer Beleg für die stete politische Arbeit von Feministinnen und zugleich Beweis für die Notwendigkeit, das Engagement aufrecht zu erhalten, denn in der Legislaturperiode seit 2009 hat sich in diesen Fragen nichts getan.

Kilian Trotier kommentierte den Gewinn des Grimme-Awards von #aufschrei in der ZEIT: „Es siegte nicht nur die Empörungsdebatte über sexuelle Belästigungen, (…) Es siegte die Form. Das Prinzip. Die totale Reduktion, die das perfekte Mittel zur Debattenentzündung und Debattenfokussierung ist.“ Diese Form war neu – und lieferte damit den Nachrichtenwert, der #aufschrei mit Medienverstärkung in Gang setzte. Diese Neuartigkeit und die Bilder, die Femen liefert, funktionieren in der Medienöffentlichkeit gut und zeigen gleichzeitig, warum die SPIEGEL-Autorinnen in ihrem Text zu keiner Schlussfolgerung kamen, was dieser „neue“ Feminismus eigentlich will. Viele der jungen Feministinnen vertreten sehr alte Forderungen – die nach wie vor ihre Realisierung in der modernen Gesellschaft suchen. Journalismus, der Feminismus heute verstehen will, muss also die Geschichte der Frauenbewegung sowie Geschlechterforschung miteinbeziehen. Die Frage, was nach #aufschrei kommt, muss zu einer Beschäftigung mit den Fragen werden, warum Feminismus heute noch als notwendig erachtet wird, und an welchen politischen Zielen Feministinnen aktuell arbeiten. #Aufschrei war – wie Ulla Wischermann schreibt – eine Gelegenheitsstruktur um lang bestehende Ideen von weiblicher Freiheit ein Stück weiter Wirklichkeit werden zu lassen.

Mystifizierung des Tomatenwurfs

Statt das zu tun kritisierte DER SPIEGEL ein Verharren der Aktivistinnen in der Selbsterkenntnis und rät süffisant: „Irgendwann hat jemand mal einen Stein in die Hand genommen – oder zumindest eine Tomate.“ Ein Schlusssatz, der jegliche Ernsthaftigkeit der vorausgegangenen Zeilen wieder zurücknimmt und Engagement und Ziele de facto delegitimiert. Denn anders als der Tomatenwurf durch Sigrid Rüger 1968 zur damaligen Zeit für Aufsehen sorgte, würde eine Tomate dies heute nicht mehr bewirken können. Schon die nackten Brüste von FEMEN schocken nicht mehr, sie sind für feministische Anliegen sogar kontraproduktiv. Darüber hinaus sprach Sigrid Rüger sich später entschieden gegen die „Mystifizierung des Tomatenwurfs“ aus und legte dar, was auch für #aufschrei zutrifft: die Entrüstung und der Anstoß für gesellschaftliche Bewußtseinswerdung und Wandel schwelten schon länger. Rüger sagte in einer Diskussionsveranstaltung 1988:

„Also mystifizieren ist nie gut und deshalb habe ich mich auch gegen die Mystifizierung des Tomatenwurfs und der Frauenbewegung in dieser Zeit gewandt. Ich möchte deshalb meine Ausführungen eher übertiteln: “Entstehung der neuen Frauenbewegung” oder etwas lockerer “Die neue Frauenbewegung war überfällig und die Tomaten waren überreif”. Ich möchte also darlegen, daß die neue Frauenbewegung, so wie auch die Studentenbewegung benennbare Ursachen hatte und nicht plötzlich entstand, sondern sich als Bewegung und Bewußtwerdung von Menschen entwickelte.“

Die Forderung des SPIEGEL nach einem neuen Tomatenwurf kann interpretiert werden als: Die Ursachen eurer Wut erkennen wir nicht an, die Argumente für einen Wandel wollen wir nicht hören, erheitert uns doch mit ein wenig Show, deren Bilder Klickzahlen und Einschaltquoten steigern.

Unabhängigkeit

Mädchen und Frauen gehen ins Internet, weil ihnen dort nicht Raum und Stimme gewährt werden müssen, sie können sich diesen Raum eigens erschaffen – endlosen Raum, in dem sie eigene Regeln für den Umgang miteinander festlegen und verhandeln können.
Diese Schaffung von Unabhängigkeit, hat die italienische Philosophin Annarosa Buttarelli in dem Band „Macht und Politik sind nicht dasselbe” beschrieben:

„In der Tat ist weibliche Souveränität, wenn sie ausgeübt wird, schon für sich genommen Unabhängigkeit von der Irrealität, die die im Todeskampf liegenden Institutionen geschaffen haben. Sie gewährleistet die Rückkehr zur Realität und zur Möglichkeit, die Wahrheit zu sagen.“

Sie spricht sich damit dafür aus, die Institutionen, die von Männern geschaffen wurden, hinter sich zu lassen. Genau so lassen Menschen, die sich ihre Publikationen eigens im Netz schaffen, die Institutionen hinter sich, an deren Erstellung sie nicht beteiligt waren, in denen sie keinen Platz finden.

Buttarelli schreibt weiterhin: “Wir können heute Souveräninnen werden, weil die Zeiten dafür gut sind, und nicht, weil es unser Recht wäre.“

Genau diese Chance bietet auch das Internet – um davon ausgehend Frauenbewegungen zu stärken. Machtverhältnisse können sich ändern. Laut und deutlich. Blogs und soziale Netzwerke sind Belege dafür, dass Frauen und Mädchen wollen, dass ihre Stimmen, ihre Anliegen gehört werden. Sie brauchen lediglich eine Plattform, um sichtbar zu werden. Das Netz bietet uns heute die Möglichkeiten, die gemeinsamen Kräfte strategisch freizusetzen, wie nie zuvor.

Doch was zählt heute als politischer Widerstand? Ich denke, wir sollten das technologie-gestützte soziale und politische Engagement ernst nehmen, da es eine neue Richtung von Aktivismus ist. Es schafft neue Gemeinschaften, in denen Menschen mitwirken können. Online-Engagement schafft erweiterte Möglichkeiten, sich als öffentliche Person zu positionieren. Virtuelle Räume funktionieren ähnlich wie Subkulturen: hier können junge Menschen politisches Engagement an ihrer Lebenswirklichkeit ausrichten. Die Neudefinition des Internets als ein Ort der Möglichkeiten, des sozialen Engagements und Aktivismus kann uns vor allem auf Mädchen und junge Frauen schauen lassen als aktiv Handelnde, kulturell Beteiligte und Bürgerinnen, in Abgrenzung zu passiven Konsumenten und marginalisierten Gruppen. Feministisches Bloggen ist daher kein Trend, der vorbei geht, sondern eine bedeutsame Praxis für die Gegenwart und Zukunft des Feminismus.

Online-Aktivismus ist die Bewusstseinsbildung (“Consciuosness raising”) des 21. Jahrhunderts. “Wenn Feminstinnen es schaffen, radikale, intentionale und transformative Beziehungen zwischen allen Beteiligten von feministischen Strömungen zu schaffen, wenn wir uns gegenseitig antreiben und ermutigen können auf kreativen, respektvolle und wechselseitige Art und Weisen, kann über die gemeinsame Macht und Agenda-Setting gesellschaftlicher und sozialer Wandel geschehen”, schreiben Courtney E. Martin und Vanessa Valenti in ihrem Paper #FemFuture: Online Revolution.

Genau das wird sicherlich nicht einfach. Denn es gibt nicht die eine feministische Bewegung. Es gibt viele intersektionelle Bewegungen, die voneinander viel lernen können. Daher müssen die neuen Beziehungen grenzüberschreitend sein: generationenübergreifend, kulturübergreifend, klassenübergreifend – über jede Hürde hinweg, die Feministinnen aktuell noch voneinander trennen.

Online-Feminismus wird jedoch Infrastruktur und Initiativen brauchen, damit Beziehungen wachsen können und damit aus den Stimmen, die hier hörbar werden, Einfluss erwächst. Denn noch leidet der Online-Feminismus vor allem daran, dass er zu den größten Teilen auf ehrenamtlicher Arbeit und Zeit beruht, die Menschen neben Ausbildung, Beruf und Familien investieren. Nicht selten führt das zu Diskontinuität, Frustration und das, was heute als „Feminist Burnout“ bezeichnet wird.

Der utopische Überschuss

Der utopische Überschuss von #aufschrei hat zunächst das Schweigen gebrochen über bestehende Strukturen, die Sexismus und sexualisierte Gewalt nähren. Ein weiteres Mal, doch in einer neuen Dimension. Dieser so klein wirkende Schritt ist unglaublich wichtig, für die Dinge, die kommen werden. Denn die Fähigkeit und der Mut über Geschehnisse zu sprechen, ist Voraussetzung um zu heilen, um das Vertrauen in die Welt und in andere wieder zu fassen. #aufschrei ist ein Anstoß und allein deswegen schon bedeutsam und wertvoll. Aktivistinnen und Betroffene wissen, dass die »Heilung« von den gesellschaftlichen Strukturen, die eine kranke Welt hervorbringen, Zeit brauchen wird. Dass es viel wichtiger als ein politischer Maßnahmenkatalog ist, einander zuzuhören und miteinander zu sprechen.

Als Frau nehme ich eine Welt wahr, die gespalten ist: in die Welt, in der wir funktionieren und sprechen können, und in die andere, in der wir verletzt sein dürfen und das aussprechen, worüber wir in der anderen Welt schweigen. Ich hoffe, dass #aufschrei die Bühne dafür eröffnet, darüber sprechen zu können, was uns krank macht, was uns traumatisiert hat, was wir fühlen und was wir wirklich wollen. Dass wir stolz sind auf Lebensläufe mit Ecken und Kanten, mit Brüchen, auf unsere Persönlichkeiten, die nicht auf Unangreifbarkeit getrimmt sind.

Frauen, sollen weniger Führungsqualitäten haben sollen, weil sie Erfahrung in der Familie gesammelt und nicht in einem Konferenzraum? Wie tough ist eine Person, wenn sie eine Depression überlebt hat? Eine Magersucht? Eine Vergewaltigung?
Wie tough, wie klug, wie qualifiziert ist jemand, der Sexismus witzig findet? Der Frauen nicht ernst nehmen kann? Der sich schon bei einer Männerquote von 85 Prozent benachteiligt sieht?

Ulrike Lembke brachte  es für für die Blätter im März auf den Punkt:

“Sexualität ist etwas Höchstpersönliches, aber sie hat auch eine politische Dimension. Wer sie entpolitisiert (und entkontextualisiert), verhilft dem Herrenwitz zu Wirksamkeit. Dies könnte der entscheidende Mehrwert der aktuellen Sexismusdebatte sein: Dass aus den gesammelten persönlichen Erfahrungen gesellschaftliche Strukturen und Muster erkennbar werden und die Bereitschaft zu ihrer Veränderung wächst. Spannend wird es genau dann, wenn das Privat(isiert)e auch wieder politisch wird.”

Mich hat #aufschrei nicht enttäuscht zurückgelassen, ganz im Gegenteil. Eine Öffentlichkeit, die auf Stärke und Unnahbarkeit als Fassade setzt, wird letztlich schwächer sein. Denn es fühlt sich machtvoller an heilen zu können, gemeinsam mit anderen, als ein abschätziger Kommentar eines „Mächtigen“ über die Bewegung. Es ist privat bedeutsam und damit politisch, denn hier – in Tweets, in Blogs und weit darüber hinaus entsteht Gemeinschaft – und eine neue politische Öffentlichkeit, in der wir verletzlich sein dürfen und gleichzeitig stark.

 

 

Anmerkung: Die Autorin schreibt selbst ein feministisches Blog, ist Co-Autorin des Briefs an Bundespräsident Gauck im Kontext der Sexismusdebatte und kennt einige der im Text erwähnten Personen persönlich.
Der Artikel verwendet durchgängig die weibliche Form und meint damit alle jeweils beteiligten Geschlechter.

Ein Teil dieses Textes wurde als Vortrag bei der Münchner Frauenkonferenz »next_generation« am 10. Juli 2013 vorgetragen.