Deus ex Machina

Deus ex Machina

Über Gott und die WWWelt

Es ist die Systemfrage, Dummerchen!

Im naiven Glauben an die Transformationskräfte des Netzes haben die Vorbeter der Netzgemeinde viel zu lange die realpolitische Umwelt da draußen ausgeblendet.

Zu dem Vorgang „Sascha Lobo ist enttäuscht vom Internet“ ist womöglich schon alles gesagt, nur noch nicht von allen. Im Grunde könnte man die Befindlichkeiten des Berliner Binär-Bohemiens auch unkommentiert auf sich beruhen lassen, wäre die idealistische Verpeilung, welche seiner Enttäuschung vorausging, nicht typisch für eine ganze Blase von Erweckungspredigern und Evangelisten des Elektronikzeitalters, die den digitalen Diskurs der vergangenen Jahre maßgeblich mitgeprägt haben. Und nachdem das Feuilleton dieser Zeitung weitere Debattenbeiträge hierzu angekündigt hat, liefert das geradezu eine Steilvorlage, von dieser Stelle aus ein paar Gedankengänge beizusteuern.

Bereits zur Jahrtausendwende hatte Hans Magnus Enzensberger diagnostiziert, dass die Diskussion über Computer und neue Medien beherrscht wird von Heilsverkündern und Apokalyptikern. Beide hätten überdies etwas gemeinsam: „Propheten sind gegen die Tatsachen immun.“ Die offenkundigen Irrtümer der Weltuntergangspropheten möchte ich in diesem Zusammenhang mal außen vorlassen, mir geht es hier in erster Linie um die in netzaffinen Kreisen sehr weit verbreitete Heilsvorstellung, das Internet werde eine bessere Welt schaffen, mehr soziale Teilhabe ermöglichen, die Gesellschaft demokratisieren, Bildung und Kultur zu neuer Blüte führen und was nicht alles.

© FAZ 

Über die Genese dieser schönen Vorstellungen aus dem geistigen Erbe der Hippie-Ära und der Hightech-Industrie in Kalifornien (Stichwort: kalifornische Ideologie) und wie diese Ideen dem Internet gewissermaßen eingewebt sind, könnte man lange Abhandlungen schreiben. Aber um die Kurve etwas schneller zu kriegen: Bei aller Freude über das neue Spielzeug ist der Funke des auf das Netz gerichteten Heilsglaubens auf mich nie so richtig übergesprungen. Das war in meinen Augen so etwas spezifisch amerikanisches – wie die immer adrett-korrekt gekleideten Mormonen aus der neuen Welt, die so überaus enthusiastisch an den Haustüren und in der Fußgängerzone meiner Heimatstadt missionierten, mir aber nie so recht erklären konnten oder wollten, was genau denn nun ihre Theologie von den mir einigermaßen bekannten katholischen und lutherisch reformierten Glaubensinhalten unterscheide. Entscheidend wäre, dass ich mal ins Gemeindezentrum zum gemeinsamen Gebet käme, hieß es immer, dann sähe ich bestimmt klarer.

Bezogen auf das Netz lag für mich als nur leicht spirituell angehauchten Agnostiker jedenfalls ganz offen zutage, dass dem unbestreitbaren emanzipatorischen Potenzial stets auch konträr gerichtete Vektoren entgegenwirkten. Da war das völlige Hohldrehen der sogenannten „New Economy“ in den späten 90ern, das sich dann im Platzen der Dotcom-Blase entlud. In jenen Jahren war schon das weltumspannende Echelon-Horchprojekt der NSA ein Medienthema, der sogenannte Große Lauschangriff wurde vom Bundestag durchgewinkt, und kernige Aussagen von irgendwelchen Internet-Tycoons à la „Privatsphäre im Internet? Vergessen Sie’s“ standen schon damals im Raum.

Es gingen ein paar Jahre ins Land, plötzlich war die neue digitale Dachmarke „Web 2.0“ in aller Munde – und mit dem Aufkommen von Wikis, Blogs und anderen kleinteiligen Partizipationsformen schienen manche Verheißungen dann aber doch noch in greifbare Nähe zu rücken. Dass Internetcommunitybenutzer, die in jenen Jahren des erneuten Aufbruchs ihre Netzsozialisation erlebten, förmlich mitgerissen wurden von diesem Schwung und sich dank ihres fortschrittlichen Werkzeugs auf der richtigen Seite der Geschichte wähnten, ist menschlich nur allzu verständlich. Schließlich gaben Vorbeter und Fürbittenvorleser ihrer Netzgemeinde ja auch nicht zu knapp Zucker von ihren TED-Talk-Kanzeln herunter und mit hochbezahlten Keynotes auf Zukunftskongressen, wo sie dem „long tail“, der „share economy“, der „post privacy“ und der segensreichen Disruption das Hohelied sangen. Und schickte sich nicht wikileaks an, als zentrale Abladestelle für allerlei Enthüllendes das traditionelle Gefüge im Medienmarkt gründlich durcheinanderzuwirbeln?

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Ich will künftigen Historikern nicht vorgreifen beim Versuch, den Ort, Anlass und Zeitpunkt genauer zu benennen, an dem dieses Machbarkeitsgefühl und die Zuversicht umkippte in Lähmungsgefühle und tief empfundene Machtlosigkeit. Aber deutliche Dämpfer für die digitale Euphorie gab es schon vor den Enthüllungen des NSA-Whistleblowers Edward Snowden. Wolfgang Michal von carta.info beispielsweise hält das Scheitern von wikileaks für eine tiefgreifendere Zäsur, die viele Hoffnungen auf eine transparentere Gesellschaft zunichte machte. Bei Licht besehen waren auch die sogenannten Facebook- und Twitter-Revolutionen im arabischen Frühling nicht so glorreich, zumindest nicht, was die Rolle des Netzes dabei angeht. Aber zumindest konnten sich unsere einheimischen Twitteure und Twitteusen kurzzeitig in der Gewissheit sonnen, an etwas ganz Großem teilzunehmen: dem amtierenden Weltgeist, dargereicht und verteilt in 140-Zeichen-Häppchen.

Tja, und dann holten die NSA-Enthüllungen so manchen aus der erdnahen Umlaufbahn zurück auf den Boden der Tatsachen. Für Häme oder „Hab ich‘s nicht immer gesagt?“ sollte das aber keinen Anlass liefern. Die schlussendliche Gewissheit über das geradezu monströse Ausmaß der Datenschnorchelei nicht nur der NSA ist selbst für bekennende Aluhüte und Berufsparanoiker schwer zu verdauen. Vor Snowden hatte man zumindest noch eine Resthoffnung haben können, dass vielleicht nicht alles ganz so schlimm ist, wie man immer befürchtet hatte.

Auf die ambivalente Natur und die potenziell dunkle Seite des Netzes hat Evgeny Morozov, der von den Netzevangelisten und Propagandisten der kalifornischen Ideologie so gehasste advocatus diaboli, schon früh hingewiesen. In seiner Replik auf Sascha Lobos Zerknirschungsbeichte benennt er den zugrundeliegenden Internetzentrismus vieler Netztheoretiker als den zentralen Schwachpunkt im Weltbild. Internetzentrismus, so wie Morozov ihn versteht, ist, kurz gesagt, „die Vorstellung, dass allem, was im digitalen Bereich geschieht, eine kohärente Logik zugrunde liege“. Wobei das meiner Meinung nach nicht zwingend verhindert, auf dieser Grundlage zu brauchbaren Hypothesen zur weiteren Entwicklung des Netzes zu kommen. Der „wired“-Mitgründer Kevin Kelly ist in seinem Buch „What Technology wants“ sogar einen Schritt weiter gegangen mit seinem Versuch, die Summe aller technischen Entwicklungen als Wesenheit aufzufassen und der Frage nachzugehen, was diese Wesenheit salopp gesagt wollen könnte. Dabei haben sich einige recht interessante Trendlinien herauskristallisiert, die einer weiteren Diskussion durchaus würdig sind – ganz gleich, ob man bereit ist, an die von Kelly beschriebene fast schon biologisch agierende Entität der Gesamt-Techniken zu glauben oder nicht.

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Der Internet-Zentrismus, den ich in weiten Teilen des Netzdiskurses kritisieren würde, ist hingegen eher von der Sorte „Wer nichts hat als einen Hammer, dem erscheint die ganze Welt als Nagel.“ Mit der Schulbildung hapert’s? Na, dann mal schnellstens alle Schulen ans Netz. Die Medien informieren uns tendenziös oder nicht ausreichend? Blogs, Twitter und Podcasts werden die Medienlandschaft tiefgreifend umpflügen und der Wahrheit ans Tageslicht helfen. Wir haben ein politisches Problem mit dem repräsentativen parlamentarischen System? Das Netz wird es lösen, mit Online-Petitionen, Wahl per Mausklick und Liquid Democracy – Obama hat im Wahlkampf getwittert, ist das denn zu glauben? Yes, we can! Und jetzt alle retweeten: YES, WE CAN!

Schön wär’s. Ich will aber nicht ungerecht sein: Es hat in der netzpolitischen Ecke auch immer Protagonisten und Mitstreiter gegeben, deren Horizont über den Tellerrand ihrer digitalen Spielwiese hinausreicht. Die auch noch andere Sorgen hatten als die möglichst barrierefreie Runterladbarkeit interessanter Medieninhalte. Aber viel zu lange hat man sich in der Illusion eingerichtet, qua Netz wäre man schon auf der richtigen und auch auf der Gewinnerseite. Morozov, der wortgewaltige Kritiker der Netzideologie, fordert stattdessen eine Rückbesinnung oder besser noch einen neuen Glauben an die Politik. Aber er sagt leider nicht, worauf sich dieser Glaube gründen sollte, wie er konkret zu leben sein sollte angesichts der fatalen Verschränkung von datensammelnder Konzernmacht und einer Überwachungsobrigkeit, der (nicht zuletzt dank der fleißigen Sammelei von personenbezogenen Daten in der privatwirtschaftlich organisierten Digitalsphäre) so gut wie nichts mehr verborgen bleibt, was wir tun oder lassen. Die entscheidende Frage ist: Ist das ein Webfehler im System, den man mit systemkonformem politischem Handeln vielleicht noch ändern kann – oder müssen wir nicht das ganze System in Frage stellen? Wenn ja, was folgt daraus? Reicht die innere Emigration in ein möglichst analoges Leben, soweit das noch geht – oder ist gar bewaffneter Widerstand geboten?

Was wir meiner Meinung nach jedenfalls nicht brauchen, ist ein neuer Netz-Optimismus, wie ihn Sascha Lobo fordert (leider auch, ohne genau zu sagen, worauf der eigentlich gründen sollte). Die bisherige Entwicklung des Netzes hat ja wohl eher Gustave Flaubert bestätigt, der in seinem Wörterbuch der Gemeinplätze zum Stichwort „Optimist“ folgende Erklärung notiert hatte: „anderes Wort für Schwachkopf“.