Wenn ich vor wenigen Jahren das Büro an meiner Universität deutlich vor 18 Uhr verließ, musste ich mich stets darauf einstellen, von einem Kollegen gefragt zu werden, warum ich schon gehe. Man liest häufiger von den typischen Bürosprüchen in solchen Situationen: Ob man neuerdings eine halbe Stelle habe oder etwa Urlaub, wenn man – und ein Kollege sieht das! – früher die Arbeitsstätte verlässt, kurz: Wenn man nicht dem Verhalten entspricht, das vor dreißig Jahren von einem Büroarbeiter erwartet wurde.
Ich habe das Glück, in einem Bereich zu arbeiten, in dem ich oft nur meinen Laptop und einen Internetzugang brauche. Habe ich weder Gespräche mit Kunden noch Treffen in einem Projekt, ist es ziemlich egal, ob ich im Büro sitze oder in einem Café in der Stadt, in der ich mich gerade befinde. Es ist sogar so, dass ich abhängig von der gerade anstehenden Aufgabe meine Arbeitsstätte bewusst wähle, weil ich manche Dinge im Café besser erledigen kann als im Büro. Mein Arbeitgeber bietet mir einige Flexibilität, damit befinde ich mich allerdings bestenfalls im Mittelfeld von dem, was noch möglich ist.
Es gibt zahlreiche Blogs, die das digitale Nomadentum propagieren. Meist sind es junge Menschen in Digitalberufen, die Fotos aus Hängematten oder Tortenbilder veröffentlichen und darunter beschreiben, wie es möglich ist, seinen Arbeitsalltag derart zu gestalten. Beinahe alle sind selbstständig und unterstützen ihre Auftraggeber bei der Ausarbeitung von Kommunikationsstrategien. Einige bieten Webdesign oder Programmierdienstleistungen an, wieder andere arbeiten in verschiedenen Zeitzonen in unterschiedlichsten Ländern, in denen es meist wärmer ist als an jenen Orten, an denen die Besucher ihrer Webseite die Beiträge lesen. Das kann Zweifel wachsen lassen an der eigenen Situation, denn sucht man nach ihnen, findet man zahlreiche Beispiele für diese Arbeitsweise und Freiheit. Man kann darüber den Eindruck gewinnen, den meisten anderen ginge es wie jenen digitalen Nomaden.
Eine Eigenheit des Netzes: Man findet für alles Informationen und Beispiele, und wenn man sich in der Suche einschränkt, sieht die sich in den Ergebnissen spiegelnde Welt tatsächlich so aus, als betrieben alle das gleiche Hobby, als hätten alle die gleiche Meinung. Zahlreiche Beratungsblogs mit teilweise furchtbaren Namen, hinter denen wieder Freelancer stehen, die versuchen, damit Geld zu verdienen, geben Tipps zur Selbstoptimierung und Produktivitätssteigerung. Die schweigende, der Ideologie nicht folgende Mehrheit sieht man nicht, sie mitzudenken ist stets eine Anstrengung. Auch jene, die scheitern, schreiben nur selten.
Es gibt in größeren Städten einige Projekte, die Arbeitsformen alternativ zu den traditionellen Strukturen umsetzen. Im Gegensatz zu den erwähnten Blogs sind dies keine Einzelkämpfer, sondern Gruppen von Menschen, die Individuen und kleineren Teams einen Arbeitsraum bieten. Coworking-Spaces sind eine weit verbreitete Ausprägung und ersetzen oft das Büro und die Kollegen, die man als Freelancer nicht mehr hat. Die Nutzer von Coworking-Spaces haben die Möglichkeit, einzelne Arbeitsplätze zu mieten. Oft bieten die Betreiber die Möglichkeit, neben Monatsbeiträgen flexibel und nach Bedarf auch kürzere Zeiträume oder einzelne Tage zu buchen. Coworking-Spaces bieten einen festen Ort, den man aufsuchen kann, um am Ritual des Arbeitsweges festhalten zu können, auch wenn man sich gegen einen festen Arbeitgeber mit festen Strukturen entschieden hat. Der Nutzen dieses Rituals ist für manche Menschen sehr wichtig: Ich erinnere mich an einen Zeitungsartikel, der beschrieb, dass ein älterer Herr auch nach seinem Eintritt ins Rentenalter jeden Morgen das Frühstück mit seiner Frau einnahm und wie die vielleicht vierzig Jahre zuvor die Wohnung zur stets selben Zeit in einem Anzug verließ. Anstatt in sein Büro ging er jedoch eine Runde um seinen Wohnblock und kam anschließend zurück. Dieses Ritual half ihm, mit der neuen Situation der Arbeitslosigkeit zurechtzukommen. Zu diesem Ritual, das für viele die Trennung zwischen Lebens- und Arbeitsbereich beschreibt, kommt die Schwierigkeit, am heimischen Schreibtisch produktiv sein zu können. Die Ablenkung ruft: Es muss gewaschen werden und ist es wirklich schon zwei Jahre her seit dem letzten Fensterputz?
Vor einigen Jahren bin ich auf made@gloria! gestoßen, einer gemeinsamen Webseite von vier Programmierern, die ihre Programme in einem Café erstellen. Das Gloria ist ein Café in Zürich, in dem sich die Entwickler vor Jahren getroffen und gearbeitet haben. Ein bekanntes Beispiel eines ähnlichen Konzepts ist das St. Oberholz am Rosenheimer Platz in Berlin, das mittlerweile dem digitalen Nomaden deutlich mehr bietet als nur ein Café. Im letzten Jahr besuchte ich einen Freund in Berlin, irgendwann landeten wir dann dort. Wir waren die Einzigen ohne Laptop. Vor wenigen Wochen stand ich in Paris vor dem AntiCafé, das die Idee von Coworking und Café noch weiter vereint: Der Besucher zahlt für die Zeit, die er in dem Café verbringt und nicht für die Getränke, die im Eintrittspreis bereits enthalten sind. Das AntiCafé war gefüllt bis auf den letzten Platz.
Das Münchener Lenbachhaus beherbergt zur Zeit die Ausstellung Playtime, die unter anderem das Vermischen der Arbeits- und der Nichtarbeitswelt thematisiert. Vor etwa dreißig Jahren veranstaltete der Taiwanesische Künstler Tehching Hsieh eine ein Jahr dauernde Performance, während der er jede Stunde eine Karte in eine Stempeluhr steckte. Die Stempelkarten und ein Video erinnern auf eindringliche Weise daran, wie beide Bereiche ineinander fassen und sich gegenseitig beeinflussen. Sind also diejenigen, die Arbeit von Privatleben gar nicht mehr trennen (möchten) im Recht? Haben jene gewonnen, die den Begriff Work-Life-Balance bereits vor Jahren zu Grabe getragen haben und als eine nicht-zutreffende Beschreibung der heutigen Lebensrealität ansehen? Es sind die Webworker, die Digital Natives, die diese Thesen vertreten. Und das Internet, die alte Echokammer, spiegelt dies dem Interessierten bereits als Realität.
Gegenbeispiele findet man selten im Internet, oftmals jedoch im persönlichen Umfeld, nämlich im Kreis jener, die über aktuelle Entwicklungen im Social-Media-Bereich und bei Smartphones nicht gut informiert sind: Ein guter Freund liest seine eMails nicht täglich. Wenn ich ihn in einer eMail etwas frage, kommt die Antwort normalerweise während des darauffolgenden Wochenendes. Er hat zwei Kinder und eine Stelle in einem großen Konzern, wenn er davon spricht verwendet er oft das Wort Hamsterrad; an ihn muss ich denken beim Satz »Ein Hamsterrad sieht von innen aus wie eine Karriereleiter«. Er hat Abends andere Dinge zu tun (und oftmals ist es nur schlafen), wenn er das Büro verlassen hat und in seiner Eigentumswohnung im Speckgürtel einer der teureren Städte sitzt. Eine Aussage aus einem in der erwähnten Ausstellung gezeigten Film über eine Hamburger Planungs- und Organisationsagentur ist mir im Gedächtnis geblieben: Viele der Arbeitnehmer fürchten die Flexibilität, die neue Technologien ermöglichen (und vielleicht auch erfordern). Das Bedürfnis des Arbeitnehmers nach Vertrautheit des Arbeitsplatzes ist höher zu bewerten als das Bedürfnis des Arbeitgebers nach Flexibilität des Arbeitsumfelds. Man darf nicht übersehen: Unternehmen aus anderen Industriesektoren als der Informationstechnologie können und wollen aus verschiedenen Gründen ihren Angestellten oftmals nicht die Möglichkeit bieten, außerhalb des Büros zu arbeiten.
In der Medienwissenschaft gibt es eine Theorie die besagt, dass es stets eine Generation dauert, bis die Menschen die Möglichkeiten nutzen, die eine neue Technologie bringt. So war das Fernsehen in den Anfangstagen (und ist vielleicht bis heute) wenig mehr als ein Radio mit Bildschirm. Das Internet ist (gefühlt) für den Großteil der Bevölkerung wiederum wenig mehr als Fernsehen; die Möglichkeiten zum Erzeugen, Kompilieren und Senden von Inhalten verwenden nur wenige. Jedoch: Wir werden besser, erkennen die Möglichkeiten und einhergehenden Gefahren dieses Mediums immer mehr. Wir loten aus, was möglich ist, Geheimdienste und Vertreter der Post-Privacy-Propaganda ebenso wie deren Gegenspieler. Genauso verhält es sich mit der Art und Weise zu Arbeiten: Die meisten adaptieren den Nine-to-Five-Tagesablauf, bestenfalls in Variationen. Die wenigsten liefern sich der Unstrukturiertheit aus, die das Verlassen der festen Strukturen bedeutet, und nutzen die neuen Freiheiten. Die Möglichkeiten auszuloten ist anstrengend, weil man sich selbst ausprobieren muss, es Best Practices kaum gibt und diese nur selten auf die eigenen Anforderungen und Vorlieben passen. Es braucht noch eine Generation, und wenn Medien von den kaum erfüllbaren Forderungen der Generation Y schreiben, meinen sie genau das.
Es ist nicht nur ein Kampf mit den Unternehmen, es ist auch ein Kampf mit der Technologie. Wenn wir ab und zu die Tür der Echokammer öffnen, um einen Blick nach draußen zu wagen, sehen wir die Grenzen: Wie soll man ernsthaft und täglich ortsunabhängig arbeiten, wenn die Datentarife, -volumen und Roamingangebote der Mobilfunkanbieter bestenfalls als suboptimal zu bezeichnen sind. Das Internet ist noch nicht überall, fahren Sie einmal Bahn! Gunter Dueck, ehemaliger CTO von IBM Deutschland, hat sich einmal über Kopfbahnhöfe gefreut: Das bedeutet fünf Minuten eMails! Vielleicht ist nicht allein die Überforderung traditioneller Arbeitgeber der Grund, weshalb Firmen, die sich innovativ nennen, ihren Mitarbeitern Festnetztelefone auf den Tisch stellen.