Heute war einer jener Tage, an denen eine Telefonkonferenz die nächste jagte und sich die Arbeit zwischendurch ständig Gehör verschaffte: Zur Zeit analysiere ich Netzwerkverbindungen und versuche, das Kommunikationsverhalten einiger modernen Smartphones zu verstehen. Zusammen mit Kollegen arbeite ich in einem Projekt für einen Kunden, den interessiert, wie sich die vier größten Mobilgeräteplattformen der Zeit verhalten, welche Daten sie wann und wie oft wohin transportieren, ohne dass der Nutzer eines Mobiltelefons dieses merkt. Der Kunde hat dafür eine stattliche Summe investiert, so dass wir praktische Tests durchführen und gleichzeitig auch Dokumente lesen, die man sonst eigentlich meidet: Nutzungsbedingungen und Datenschutzrichtlinien. Dabei ist die Kunst, unklare Formulierungen zu finden und zu überlegen, welche Freiräume sich der Autor dieser Richtlinien lässt, um im Zweifelsfall auf die Daten des Anwenders zuzugreifen und diese gegen dessen Willen zu analysieren oder anderweitig zu nutzen. Bei 25 Grad Celsius fällt die Konzentration schwer und mehr als einmal träumte ich mich in ein Café – denn lesen kann man diese Dokumente schließlich überall – wie ich es erinnere:
Das Café am Grün nennt man selten bei seinem offiziellen Namen, mit dem man es beispielsweise im Telefonbuch einer kleinen hessischen Stadt finden kann. In der Umgangssprache trägt das Café den Namen der angeschlossenen Buchhandlung und heißt Roter Stern. Es liegt direkt hinter dem Buchgeschäft am Ufer des Flusses, der die Stadt durchzieht, und wird von einem Kollektiv betrieben, das zum Großteil noch aus den Menschen besteht, die ich von meiner Studienzeit kenne und die sich selbst vielleicht noch an mein Gesicht erinnern. Weil man sich kennt und vertraut, zahlen viele ihre Getränke nicht gleich, sondern beim Gehen. Das erfordert, weil an der Kasse nicht Buch geführt wird, dass sich jeder an seinen Konsum erinnert. Etliche Seiten in meinen Notizbüchern aus dieser Zeit sind gefüllt mit Strichlisten.
Einmal in all diesen Jahren habe ich das Zahlen vergessen: Nicht ein Getränk, sondern für den gesamten Tag; ich bin gedankenverloren nach Hause gegangen und irgendwann in der Nacht fiel es mir auf. Und am nächsten Tag sprach mich die Eine vom Team, die wieder da war, darauf an. Sicher, ich hätte mich dumm stellen, ich hätte trotz meiner Strichliste die Hälfte der Getränke verschweigen können, aber so funktioniert der Rote Stern nicht und so funktionieren nicht seine Gäste. Natürlich war es gar kein Problem, wir haben später noch darüber gelacht. So funktioniert dieses Café, an das ich mich träume an Tagen wie diesen.
Ich arbeite im Bereich der IT-Sicherheit. Dort besteht meine Aufgabe darin, ständig zu misstrauen, zu überlegen, welche Angriffsmöglichkeiten es auf die Systeme und Daten der anderen gibt. Mein Job besteht darin, acht Stunden am Tag das Gegenteil dessen zu tun, weshalb ich den Roten Stern schätze. Und zu hoffen, das dies ohne Folge bleibt… Ich habe mir einige Gedanken gemacht, ob sich mein Bild der Menschen und der Gesellschaft geändert hat über die letzten drei Jahre. Ich kann das nicht mit Sicherheit sagen, ich kann nur beschreiben, was ich seit vielleicht letztem Jahr merke.
Als letztens die neue ortsbasierte App Swarm von Foursquare veröffentlicht wurde, dauerte es keine fünf Minuten, bis bei Twitter jemand auf die Privatsphäreeinstellungen der App hinwies inklusive Screenshot seiner Einstellungen, in der das Teilen der Ortsinformation unterbunden wurde. Swarm tritt in gewisser Weise die Nachfolge des vor längerer Zeit eingestellten Google Latitude an, das es Benutzern in Echtzeit erlaubt, den eigenen Standort zu veröffentlichen und so von anderen Nutzern gefunden zu werden. Es ist ersichtlich, warum diese App daher ständig den eigenen Standort bestimmen und auf den Servern der Betreiber veröffentlichen will. Erlaubt dies niemand, kommt das System zum Erliegen und die App kann nicht funktionieren.
Dabei scheint die Standardstrategie zu sein, wenn man ein System nicht versteht und benutzt: Erst einmal blockieren! Und das macht aus Sicherheitssicht perfekten Sinn. Und Sicherheitseloquente freuen sich diebisch ob des eigenen Coups, wenn damit gute Ansätze schon im Keim erstickt werden: Wieder eine mögliche Innovation versenkt! Dabei ist es so, dass viele Technologien ihren Sinn erst enthüllen, wenn man sich als Anwender darauf einlässt und sie benutzt. Diese Möglichkeit nehme ich mir als Nutzer natürlich selbst, wenn ich all die Funktionalität deaktiviere, die sie unterscheidet von bereits Bekanntem. Wir wollen die neue Technologie nicht, denn wir sind unsere Eltern, und werden so zu Personen, denen selbst niemand mehr traut.
Aus meinem Nebenfachstudium der Medienwissenschaften habe ich die Aussage im Kopf, dass es mindestens eine Generation dauert, bis die Menschen ein Medium und seine Möglichkeiten ausnutzen. Die vorhergehende Generation verwendet das Medium auf jene Weise, die es bereits von älteren Medien kennt. (Falls jemand die Quelle dieser Theorie kennt, würde ich mich sehr über einen Hinweis freuen und reiche die Quelle an dieser Stelle gerne nach.) Im Falle des Fernsehens zum Beispiel war das so: Das Radio als Vorläufer des Fernsehens bot eine unidirektionale Kommunikation. Mit dem Aufkommen des Fernsehens hat sich dahingehend nicht viel geändert, zu der Audio- kam nun auch noch die visuelle Ebene. Vom Prinzip her fanden sich stets Individuen auf der Senderseite, die von anderen Individuen auf der Empfängerseite wahrgenommen wurden. Hierdurch wurde Wissenstransfer ermöglicht oder in späterer Zeit der Voyeurismus mit drittklassigen Fernsehprogrammen befriedigt, indem diese einen Blick in das Leben Sendungswilliger erlaubten. Das Web 2.0 ist die Emanzipation von den festen Sender- und Empfängerstrukturen, denn ohne viel Aufwand kann jeder heutzutage einen Blick in sein Leben gewähren. Zum Beispiel mit einer unter anderem am MIT entwickelten App, in der man zwanzig Tage lang seinen Ort, seine Aktivitäten und seinen Tagesablauf mit einer anderen, unbekannten Person austauscht. Das Web 2.0 wird jedoch nur von einer digitalen Avantgarde exzessiv benutzt. Der Großteil unserer Generation ist noch immer dem Fernsehen verhaftet und experimentiert gerade mit der Anwendung jener neuen Technologien in Form des Second Screen, einem Versuch, die Unidirektionalität des Fernsehens weiter aufzulösen, diesem Medium aber weiter zu nutzen. Eine Evolution, wie man sagt, keine Revolution.
Man findet viel über mich im Internet und man findet einiges nicht. Schon zu meiner Schulzeit wurde die Entwicklung von Medienkompetenz angemahnt. Heute ist es elementar, dass Internetnutzer verstehen, dass Informationen, die veröffentlich wurden, dort sind und sich nicht mehr kontrollieren lassen. Dagegen hilft auch der Löschzwang nicht, den europäische Datenschützer gegenüber Google durchgesetzt und sich dafür einen Orden aufs Revers geheftet haben. Ich finde das Urteil auch nicht in diesem Sinne dramatisch, dass nun die manchmal postulierte Post-Privacy-Vision gewaltsam unterdrückt werden soll. Nur wird sich nichts ändern: Harmlose bei Facebook und Google veröffentlichte Informationen können aus den Suchergebnissen verschwinden (wie sie es heute schon tun), legt es ein Webseitenbetreiber jedoch darauf an, stehen die Server mit den Informationen eben nicht im Einflussbereich westlicher Regierungen und Gerichte, von denen wir hier gerade sprechen, sondern auf einer Inselgruppe fernab jedweder Jurisprudenz. Und diese Informationen bleiben auffindbar in den für sie bestimmten Kreisen. Und es hilft nicht, dieses Medium nicht zu nutzen; dann versteht man es nicht. Der einzige Weg ist das bewusste Veröffentlichen von Daten, zu unterscheiden, welche Daten im Web 2.0 unproblematisch sind und welche man besser nirgends publiziert.
»Der deutsche Datenschutz als Standortvorteil« krakeelen jetzt Verkäufer und Politiker suchen den nächsten öffentlichkeitswirksamen Coup. Welchen Suchkatalog kann man als Nächsten zensieren, wie man damals Google Streetview verpixelt in Ketten gelegt hat?! Und wir starten Petitionen von unserem GMail-Account und wir rufen Freunde an mit unserem Android-Handy, denn wir glauben unsere Freiheit bedroht. Und als Generation Fernsehen verstehen wir nicht, wie symptomatisch das ist.
Wir sind unsere Eltern. Und wir sollten es dringend nicht sein.