Ein Gastbeitrag von Katharina Nocun, ehemalige politische Geschäftsführerin der Piratenpartei und Aktivistin bei Campact für den Wunsch, Snowden nach Deutschland zu bringen.
Genau an der Grenze zwischen Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen bei Borgholzhausen liegt ein unscheinbarer Hügel, durchzogen von jahrhundertealten unterirdischen Gängen. Seit Generationen brechen von hier aus Dachse und Füchse zu ihren Jagdzügen in den Teutoburger Wald auf.
Knochen und Federn von Fasanen verraten: die Population wächst und gedeiht. Kein vernünftig denkender Mensch würde jemals seinen Hund in eines dieser schwarzen Löcher schicken, eine Begegnung mit den Hausherren würde er nicht überleben. Nach der Ausrottung der Wölfe und Bären hat diese verschworene Gemeinschaft der Hügelbewohner keine natürlichen Feinde mehr – von den Metallkutschen auf der Bundesstraße einmal abgesehen.
Als ich ankomme, ist der der Hochsitz noch leer. Die anderen Jäger warten noch, erst wenn es schneit, lohnt sich die Jagd. Erst im Schnee verdichten sich die Hinweise. Erst dann werden die Jäger eingepackt in dicke Wollsachen hier am Hügel auf der Lauer liegen. Stundenlang in bitterer Kälte. Bis der Abschussplan erfüllt ist.
Mir ist es gleich, ich klettere trotzdem hinauf. Es ist ja sonst keiner da. Von diesem Punkt aus breitet sich vor einem das unterirdische Reich aus. Das heißt – man kann es erahnen, anhand immer neuer dunkler Eingänge. Die lichtscheuen Bewohner halten sie stets frei von Laub und Spinnweben. Dort unten kann man sogar riechen, welche Gänge gerade bewohnt sind. Hier oben hat man dafür einen Überblick – und viel Zeit zum Nachdenken.
Die Enthüllungen von Edward Snowden haben sich wie frischer Schnee über die Geheimdienstlandschaft gelegt. Wir sehen ihre Spuren vor uns ausgebreitet. Plötzlich erkennen wir, dass in dem malerischen, in gewichtigen Feiertagsreden beschworenen Bild einer funktionierenden Demokratie Löcher sind. Wir starren seitdem fasziniert auf diese Abgründe. Doch sie hören nicht auf, zurück zu starren. Auf unsere Mails. Unsere Internet-Suche. Unsere Metadaten. Still und leise und zugleich akribisch haben die Geheimdienste mit ihren Fuchsbauten den Rechtsstaat unterwandert. Ausgehöhlt. Geradezu entkernt. Die Maschinen wurden nie zurück gepfiffen. Sie verrichten Tag für Tag weiter ihr unbarmherziges Werk.
Natürliche Feinde haben Geheimdienste in diesen Tagen nicht. Die Öffentlichkeit wurde zu ihrer eigenen Sicherheit noch nie informiert. Flammende Wahlkampf-Appelle der Regierungsparteien ersticken still und leise an der Würde von Amt und Mandat. Die parlamentarische Kontrolle bemüht sich redlich, doch wirkt sie bisweilen wie ein Pudel, der zur Treibjagd ruft. Es fehlen die richtigen Instrumente – und vielleicht auch der Wille zuzubeißen wenn es notwendig ist. So wie jetzt. Der Generalbundesanwalt wird wegen des abgehörten Merkel-Telefons nicht ermitteln. Von den über 2000 eingereichten Strafanzeigen aus der Bevölkerung ganz zu schweigen. Weder Exekutive noch Legislative machen sich daran, den Fuchsbau auszuheben. Dabei sind die Spuren noch frisch. Eigentlich hat die Jagdsaison längst begonnen.
Doch der Hochsitz ist leer. Normalerweise müsste zumindest die Bundesdatenschutzbeauftragte Alarm schlagen. Wer den Presseverteiler von Andrea Voßhoff abonniert hat, wird zuverlässig und voll inbrünstigem Stolz über die Umgestaltung der Webseite informiert. Ansonsten beherrscht gespenstische Stille den Verteiler. Es ist schwer zu sagen, ob hier Machtlosigkeit, Bequemlichkeit oder politisches Kalkül überwiegen. Ich tippe auf letzteres. Aus Sicht der Großen Koalition macht Voßhoff ihren Job sicher ausgezeichnet. Sie lässt die Geheimdienste ungehindert weiter auf ihren Schleichwegen ihre Kreise ziehen.
Im NSA-Untersuchungsausschuss finde ich sie dann doch: Die Geheimdienst-Kontrolleure. Eine verschworene Gemeinschaft aus Journalisten und Aktivisten verfolgt unermüdlich von der Tribüne des Sitzungssaals im Paul-Löbe Haus aus die kafkaeske Inszenierung der Geheimdienstaufklärung. Fast alles, was von hier entgegen der Regieanweisung aus dem Kanzleramt an die Öffentlichkeit dringt, verdanken wir dieser Gemeinschaft auf dem Hochsitz.
Auf Außenstehende wirkt es langatmig und unspektakulär. Die Jagdgesellschaft auf der Tribüne ist es jedoch gewohnt, zwischen den Zeilen zu lesen. Wenn Abgeordnete sich über Fraktionen hinweg vielsagende Blicke zuwerfen. Wenn die Star-Anwälte der Geheimdienst-Zeugen bei Aussagen ihrer Mandanten mit nervösen Handzeichen dazwischen gehen. Wenn in der letzten Reihe ein Tribunal aus Geheimdienst-Mitarbeitern unruhig auf den Polstersitzen hin und her rutscht. Die Abgeordneten der Opposition lauern, legen Fallen aus. Ab und an hält die Tribüne kollektiv den Atem an. Wenn jedes Wort ein Treffer sein kann. Jetzt nur nicht verfehlen! Und dann wird die Sitzung wieder unterbrochen. Angespanntes Stop-and-go. Und das seit Monaten.
Mitarbeiter, Server, Software: Hier wird in zäher Kleinstarbeit aufgearbeitet, was Freundschaft unter Geheimdiensten ausmacht. Die Datenschutzbeauftragte des BND, „Frau F.“, hat hier jüngst enthüllt, dass sie über viele Programme und Datenbanken erst durch Presseberichte erfahren habe. Abgefangene Satelliten-Kommunikation, so erfahren die interessierten Zuhörer auf dem Hochsitz, fällt laut offizieller Rechtsauffassung des BND nicht unter deutsches Recht – schließlich würden die Daten doch im Weltraum abgefangen. Intergalaktisches Recht für die Geheimdienste – da bleibt selbst hart gesottenen Zynikern das Lachen im Halse stecken. Und trotzdem kommt man wieder. Die Jagdgesellschaft trifft sich jeden Donnerstag in den Sitzungswochen des Bundestags. Manchmal tagen und jagen sie bis spät in die Nacht. Immer mit dem Laptop im Anschlag.
Während dort Abgeordnete und Zeugen in einem quälenden Prozess Vergangenheit und Gegenwart deutscher Geheimdienste aufarbeiten, wird einige Häuser weiter die überwachte Zukunft zementiert. Der BND will aufrüsten. Noch mehr Gänge graben. Auf der Wunschliste steht der Kauf von Sicherheitslücken, die von den Geheimdiensten nicht etwa gemeldet und behoben, sondern zum Unterwandern von Systemen ausgenutzt werden sollen. Auch das Knacken von Verschlüsselung kostet. Der Termin zum Test der Überwachungssoftware für soziale Netzwerke steht bereits: Juni 2015. Bis 2020 soll der Etat für die “Strategische Initiative Technik (SIT)” beim BND um 300 Millionen aufgestockt werden. Wer auf Augenhöhe mit der NSA Grundrechtsbruch begehen will, der muss eben investieren.
Ein Fuchs muss tun, was ein Fuchs tun muss. Und das ist die eigentliche Tragik der Geschichte: Auch die zukünftige Aushöhlung des Rechtsstaats wird mit Steuergeld finanziert werden. Die erste Tranche soll noch in dieser Woche den Segen des Bundestags erhalten. Ein Erdrutsch, der den kostspieligen unterirdischen Palast zum Einsturz bringt, ist nicht in Sicht.
Nach Stunden auf der Lauer hört und sieht man jedes herabsegelnde Blatt, jeden im Wind sich wiegenden Ast und jede Bewegung im Unterholz. Mein Hochsitz thront inmitten des Waldes. Wir sitzen seit Stunden lautlos in der alles umhüllenden Stille. Die Landstraße ist längst Hintergrundrauschen. Langsam kriecht Kälte durch die Kleidung. Bis auf den Regen der bunten Herbstblätter ist nichts zu sehen. Der Blick durch das Fernglas wird trüb. Auf der Landstraße leuchten entfernt bereits erste Scheinwerfer auf. Und dann knurrt der Magen einem Donnergrollen gleich: Zeit aufzubrechen.
Der Weg zurück führt am Hügel mit dem gigantischen Fuchsbau vorbei. Es ist kalt und klar und eigentlich sehr schön hier. Und ich erinnere mich an diesen unseligen Artikel von Ludwig Greven nach den Snowden-Enthüllungen in der Zeit, in dem er vorschlug, von nun an einfach in den Wald zu gehen, um über Politik zu reden. Es gäbe viel zu erzählen. Aber bei der Jagd wird nicht geredet. Jeder sitzt schweigend auf dem Hochsitz, seinen Teil des Waldes im Blick. Handzeichen genügen vollkommen. Damit ist alles gesagt.
Die Frage, wer Jäger und wer Gejagter ist, lässt sich im Wald einfach beantworten. Doch anderswo ist das komplizierter. Fern vom Teutoburger Wald vergreifen sich Geheimdienste Tag für Tag für Tag weiter selbstherrlich an Trennungsgebot, Pressefreiheit und Unschuldsvermutung. Doch wenn dies hohe Gut lediglich Kollateralschaden ist, was wird hier eigentlich verteidigt?
Als der britische Geheimdienst GCHQ in die Redaktion des „Guardian“ eindrang und Festplatten zerstören ließ ging es nicht darum, Daten zu vernichten. Es gibt immer ein Backup. Nein, es ist das Bild einer Machtdemonstration. Es zeichnet die Rollenverteilung im neuen Machtgefüge. Es sagt: das hier ist mein Revier. Das Bundeskanzleramt verschickte kürzlich Drohungen an Abgeordnete. Der Strom der an die Öffentlichkeit sickernden BND-Dokumente reißt trotzdem nicht ab. Dafür sollten wir dankbar sein. Was bleibt denn auch sonst noch, wenn alle anderen Stricke reißen?
Die bittere Wahrheit ist doch: Wir sitzen gar nicht mehr auf dem Hochsitz. Wir sitzen längst im Fuchsbau fest. Dabei dachten wir immer, es sei unser Wald. Wir waren schließlich zuerst hier. Dabei hatten sie uns die ganze Zeit im Blick. Von ihrem Hochsitz aus.
Hoffentlich finden wir eines Tages das Backup aus der Zeit, als Geheimdienste unser Wertegerüst noch nicht entkernt hatten, um es wieder einzuspielen. Und die Demokratie samt Unschuldsvermutung, Pressefreiheit und Trennungsgebot wieder hochzufahren. Es gibt immer ein Backup. So sagt man jedenfalls. Irgendwo. Es wird Zeit, auf die Suche zu gehen.
Auf der Gebirgskette gehen die Lichter des großen Funkmasten an. Und ich mache mich auf dem Weg zurück aus diesem kleinen Reservat. Zurück in meinen eigenen Fuchsbau. Und dabei freue ich mich auf den Ausschusstag. Donnerstag. Den einen Tag, an dem wir zumindest für einen kurzen Moment das Gefühl haben werden, diejenigen auf dem Hochsitz zu sein. Und nicht die unter ständiger Beobachtung.