Ich hätte mich heute Nacht mit Vorratsdatenspeicherung ziemlich verdächtig gemacht – ich habe nach automatischen Maschinengewehren und Rohrbomben gesucht, nach Terrororganisationen und Taktiken im Untergrundkampf. Meine Browserhistory umfasst Informationen zu Organisationen wie jener, deren Mitglieder gestern Abend in Belgien erschossen oder heute Nacht in Berlin festgenommen wurden. Von aussen betrachtet sähe es so aus, als hätte sich da erst jemand für Sprengstoffattentate in Deutschland interessiert, und sich danach intensiv mit der Ermittlungstaktik von Behörden auseinander gesetzt. Ausserdem habe ich Mails mit verdächtigen Wörtern empfangen und verschickt, und mein Handy, das man zu meiner Ortung benutzen könnte, ist seit Monaten ausgeschaltet. Das liegt lediglich daran, dass ich das Ladegerät im Oktober in Italien vergessen und bislang kein Interesse hatte, ein neues zu beschaffen – aber man könnte auch eventuell vermuten, ich sei untergetaucht und würde mir nun überlegen, wie man idealerweise mit einer Rohrbombe effektiv der Verfolgung durch staatlichen Behörden entgeht.
Aber eigentlich geht es mir nur um die anlasslose Vorratsdatenspeicherung, die uns dank der Überwachungsfreunde der CDU, ihrer Unterstützer bei den Medien und der Verräterpar redewilligen SPD droht. “Round up the usual suspects“ ist alt, “speichert erst mal alles, was ihr kriegen könnt, danach sehen wir weiter“ ist das neue Credo der Organisationen und Parteien, die eigentlich dazu da sein sollten, die Freiheit des Individuums und seiner Privatsphäre zu sichern. Und das obwohl, wie gezeigt, im Fall des Anschlags auf Charlie Hebdo genau dieses Mittel vorhanden war und nicht zur Verbeugung eingesetzt wurde, wie auch all die anderen Erkenntnisse, die man schon längst über die Täter hatte. Nach neuesten Berichten konnte man sich sogar auf der Strasse als Islamist rüde nach dem Büro von Charlie Hebdo erkundigen, dafür der Polizei zur Kenntnis gebracht werden und damit unbehelligt davon kommen. Es ist also absehbar, dass es in Frankreich noch längere Debatten um das Versagen der Behörden geben wird.
Genau solche Ereignisse wollte man in Belgien und Deutschland jetzt offensichtlich verhindern und, so würden Zyniker denken. vielleicht der Bevölkerung auch genau zum richtigen Zeitpunkt zeigen, dass man achtsam ist und genau weiss, wen man beschatten muss. In der Behördensprache heisst das “nach monatelangen Ermittlungen“ und erweckt den Eindruck von emsig arbeitenden Beamten, die präzise wissen, wo sie suchen müssen, und ein klares Bild von der Gefährdung haben. Ruhig kann der Bürger schlafen, der Staat hat die Lage im Griff und ist stets informiert über das Treiben derer, die andere radikalisieren, nach Syrien schicken und von dort als Terroristen wieder importieren.
Dass das nicht immer so sein muss, zeigt die aktuelle Nachrichtenlage in Frankreich: Dort wurden erst jetzt mutmassliche Helfer der Attentäter, die bei der Beschaffung von Fahrzeugen und Waffen geholfen haben könnten, festgenommen. Zehn Tage sind eine lange Zeit, wenn es darum geht, Beweise verschwinden zu lassen. Eines der Hauptargumente für die Vorratsdatenspeicherung, Durchsuchung ohne Richtervorbehalt oder die Umgehung von Verschlüsselung ist eigentlich, dass man in Notsituationen möglichst schnell und effektiv in der Lage ist, terroristische Strukturen zu erkennen und auszuheben: Nicht lange bei Richtern und Firmen betteln, einfach zugreifen, Täter finden und Menschen schützen. Diese zehn Tage sind folglich das, was man mit allen Mitteln im Fall einer veritablen Staatskrise, herbeigeführt durch lang bekannte Extremisten, in Frankreich zu leisten in der Lage ist. Und das BKA leistet sich, wie üblich, die nächste Forderung nach einer Vorratsdatenspeicherung.
Das kann es, weil die Datenspeicherung in den Hirnen von Politikern und Publikum extrem kurz ist. Denn auch in Deutschland hatte man beim BKA Ermittlungspannen französischer Art. So hob die Polizei im Januar 1998 in Jena eine veritable Bombenwerkstatt aus, in der vier funktionsfähige Rohrbomben und 1,4 Kilo TNT auf den Einsatz warteten. Gebaut wurden sie von drei aufgrund mehrerer Straftaten hinlänglich bekannten Neonazis, die erst über zehn Jahre später als NSU bekannt wurden und bis dahin eine einzigartige Serie von Attentaten verübt hatten. Nach der Entdeckung der Bombenwerkstatt tauchten die Mitglieder der Gruppe ab – aber das BKA erfuhr, welches Handy Uwe Böhnhardt nutzte. In der Folge wurde das Handy vier Wochen komplett überwacht, abgehört und der Standort mit Funkzellenabfrage erkannt. Böhnhardt telefonierte damals mit Helfern, die heute als logistisches Netzwerk des NSU vor Gericht stehen.
Aber die Überwachung wurde nach vier Wochen vom LKA Thüringen beendet, und die abgehörten Telefonate wurden gelöscht. Kein Ermittlungsansatz. Und es sollte nicht das einzige Mal bleiben, da deutsche Behörden einfach nicht in der Lage waren, mit den vorhandenen Daten aus Überwachung etwas anzufangen.
Am 9. Juni 2004 verübte der NSU ein Nagelbombenattentat in Köln mit 22 Verletzten. Die Person, die die an einem Rad befestigte Bombe zum Ziel des Anschlags brachte, wurde dabei von einer Überwachungskamera gefilmt. Das BKA verfügte über die Aufzeichnung. Das gesamte Material der Überwachungskamera wurde aber erst von einem am NSU-Prozess beteiligten Anwalt gesichtet, und zeigt, dass hier zwei Täter am Werk waren, die das für den NSU typische Fluchtverhalten mit Rädern aufzeigten. Im besten aller möglichen Fälle wurde das Videomaterial von den Beamten einfach nicht ausreichend analysiert, obwohl sie darüber verfügten und alle nötigen Informationen zu Zeit und Ort des Anschlags hatten. Statt dessen wurde ein terroristischer Hintergrund ausgeschlossen und ein kriminelles Handeln angenommen.
Das Amt, das jetzt die anlasslose Vorratsdatenspeicherung gegen alle Bürger des Landes fordert, war offensichtlich nicht in der Lage, auch nur ein Video vom Tatort eines Bombenanschlags richtig auszuwerten. Die Frage muss erlaubt sein, was dieses Amt aus der enormen, meist harmlosen Datenmenge der Kommunikation des Landes herausfiltern können möchte.
Wenn aber dieses Amt nun in der Lage ist, uns, wie heute gezeigt, in monatelanger Arbeit vor terroristischen Strukturen mit Festnahmen zu schützen, sollten die Befugnisse eigentlich ausreichen. Das BKA kann abhören, belauschen, verfolgen, verwanzen und mit Trojanern arbeiten, wenn es dafür einen Anlass und eine richterliche Erlaubnis hat. Es verfügt wie jeder andere in diesem Land, der Medien lesen kann, und wie die französischen Behörden über viel Wissen zur islamistischen Szene, und dann ist da noch der Umstand, dass der ein oder andere Islamist auf der Gehaltsliste des Verfassungsschutzes steht. Ein Beispiel dafür ist etwa der früher in Ulm tätige Mediziner Yehia Yousif. Yousif gilt als zentrale Figur bei der Radikalisierung der sog. Sauerlandgruppe, die den Freunden der Vorratsdatenspeicherung als Idealbeispiel für die Notwendigkeit der Vorratsdatenspeicherung gilt. Die auslösenden Informationen kamen nämlich aus den USA, die den Mailverkehr zwischen Deutschland und Pakistan überwachten – wie wir dank Snowden wissen, vermutlich im vollen Umfang.
Und bei diesem Zugriff auf Schüler eines vom Verfassungsschutz bezahlten und bestens bekannten Informanten stiessen, während ihr Kontaktmann zu Al-Kaida zumindest Kontakte zum türkichen Geheimdienst hatte.
Ich würde nach dieser Nacht also zur Ansicht tendieren, dass sich die Freunde und Unterstützer der Behörden und ihrer Gier nach den Daten unbescholtener Menschen erst selbst das zulegen, was sie fordern, aber offensichtlich nicht verbreiten möchten: Mehr Informationen über die Fähigkeiten derer, denen man diese Mittel in die Hand geben soll. Das recht häufige Wort “Ermittlungspanne“ hilft dem nächsten Opfer gar nichts, das mit “Vorratsdatenspeicherung“ nicht geschützt werden konnte.