Selena70007 tut mir nichts. Im Gegenteil, Selena mag meine Bilder. Jetzt ist es Winter, und als ich ein besonders schönes Winterbild meiner bayerischen Heimat verbreite, mit Schnee, blauem Himmel und viel Sonne, ist Selena entzückt und retweetet das, damit ihre 2.997 Follower das auch sehen. Es ist ein hübsches Bild und passt jetzt nicht ganz optimal zu den anderen Interessen von Selena. Sicher, sie bringt auch schöne Bilder ihrer russischen Heimat, Sonnenuntergänge, Holzkirchen, Störche, Tundra, Natur. Habe ich schon gesagt, dass Selena sexy ist, soweit man das auf dem verschwommenen Profilbild erkennen kann?
Jedenfalls, Selena hat auch noch andere Interessen ausser Natur, Holzkirchen und leicht rausgfressne FAZ-Autoren vom Tegernsee. Sie mag zum Beispiel auch russische Rüstungsprojekte wie die Armata-Panzer, die demnächst auf der Siegesparade in Moskau vorgestellt werden. Hat ein dickes Ding, dieser Panzer, eine 152 mm Glattrohrkanone, und Selena findet, das sei der stärkste Panzer der Welt. Über Finanzierungsprobleme des geplanten Vorgängers – der Armata ist eher eine abgespeckte Version einer gescheiterten Konstruktion – verliert sie kein Wort. Selena ist nämlich russische Patriotin: Sie will auf Twitter laut Eigenaussage die Gegner nicht schlecht machen, aber die Helden unterstützen. Und Helden gibt es jede Menge.
Da wären neben den historischen Helden des grossen vaterländischen Krieges und den Erbauern von Schiess- und Bombardierungsgerät vor allem die russischen Patrioten, die sich im Osten der Ukraine in jenem Krieg wehren, den ihnen der Westen und das von ihm an die Macht geputschte Regime der Ukraine aufgezwungen hat. So sieht das Selena. Es ist ein Krieg wie jene, die der Westen in Libyen und Syrien angezettelt hat. Selena sorgt sich natürlich um die Verwundeten, sie verweist auf die ukrainischen Opfer dieses Konflikts, die für ihr prowestliches Regime leiden müssen, und feiert ausgiebig die Erfolge der Separatisten, egal ob vor oder nach den Verhandlungen von Minsk. Und sie freut sich über Heldenfeiern in „Novorussiya“ und natürlich auch über die Anti-Maidan-Demonstrationen in Moskau und Paris.
Im schönen Paris hat Selena selbstredend auch Freunde, aber von denen verbreitet sie keine Winterbilder, sondern politische Parolen. Es sind Parteigänger der rechtsextremen Front National, die von ihr hervorgehoben werden, und dankbar nimmt sie zur Kenntnis, wenn Frau Le Pen einen prorussischen Standpunkt vertritt. Über die freundliche Finanzierung mit einem 40-Million-Kredit, den Moskau der Front National gewährt haben soll, schweigt sich Selena allerdings keusch aus. Bei so viel Völkerverständigung muss man es wohl verstehen, wenn sich die polyglotte Selena auch mit dem Hashtag #JeSuisDonbass schmückt, wenn es um die Bestrebungen der Separatisten geht. Wenn es gegen den verhassten Hollande geht, der wegen der Sanktionen die Auslieferung zweier Kriegsschiffe nach Russland stoppt und auf den Kosten sitzenbleibt, wird das natürlich auch erwähnt. Die Franzosen sollen schliesslich wissen, was da in ihrem Namen passiert.
In Deutschland ist Selena angeblich gerade auf einer Konferenz und bei ihren Quellen nicht sonderlich wählerisch – neben dem dicken Knaben, den sie mit mir umschmeichelt, hält sie es gleichermassen mit friedensbewegten Linken über Krone-Schmalz und Pegida-Anhängern und freut sich narrisch auf Deutsch, wenn dieselben ihre Meinung bestätigen: EU, wach auf, ruft sie uns zu und das klingt immer noch netter als eine 152 mm Glattrohrkanone oder in ihren Ohren die Lügenpresse, der Selena ihre deutschen Lieblingsmedien entgegensetzt: Sputnik und Russia Today nämlich liefern ihr die Hauptinformationen. Andere Medien kommen auch vor, neben den Deutschen Wirtschafts Nachrichten auch seriöse Häuser, wenn etwa Frau Wagenknecht mehr Distanz von Amerika fordert. Überhaupt, Amerika, das schätzt Selena überhaupt nicht, denn Amerika führt dauernd Kriege und die Verbindung von Islamischer Staat, Saudi Arabien und Uncle Sam wird auch gern betont – da haben wir sie alle beeinander. Zum Glück kommt aber auch Zyperns Ministerpräsident in Moskau vorbei und betont, wie wichtig die wirtschaftliche Zusammenarbeit ist.
Und noch ein Europäer mag der adretten Blondine zusagen: Der Brite Graham Phillips, der vor Ort in „Novorussiya“ den Krieg auf Film bannt und per eigenem Youtubekanal verbreitet. Phillips gilt als abweichende Stimme des Westens, und er hat einen guten Einblick: Aus der Ukraine hat man ihn wegen seiner Parteinahme für die Separatisten ausgewiesen, jetzt rückt er mit ihnen vor und macht Berichte vom russischen Siegeszug, die wiederum bei Russia Today grossen Anklang finden.
Eventuell ist die junge, hübsche, hochgradig internetaffine Selena mit famosen Kenntnissen in Französisch, Englisch und Deutsch nicht echt, sondern vielleicht ein unterstützendes Propagandavehikel aus Moskau, das versucht, neben den normalen und als Angebote Moskaus erkennbaren Projekten die Brücke zwischen Russland und den russlandfreundlichen Kräften im Westen zu schlagen. Damit ist sie nicht allein, unter ihren Followern sind auch noch andere Accounts, die sehr bewusst einseitige Berichte verbreiten. Das Schema ist immer das gleiche, zu Wort kommen die strategischen Partner der Russen, kritische Stimmen des Westens, gerne auch aus angesehenen Medien als Feigenblatt, sofern es inhaltlich passt, und reinrassige Verschwörungs- und Propganadaseiten. Dennoch, die Follower sind nicht alle nur Bots, sondern auch Partner für jene Gruppen im Westen, von denen uns „Lügenpresse“ entgegenschallt. Die müssen sich ihr Weltbild nicht mühsam zusammensuchen und international Partner finden. Selena macht das für sie und garniert das mit einer Rakete für Obama und einem entzückenden Winterbild meiner Person. Selena bedient sich überall, man muss sich nicht schämen, sie zu lesen, schliesslich ist sie jung, hübsch und mag auch die FAZ und den Tegernsee. Können diese unscharfen Augen lügen? Fragen sich manche, und folgen ihr.
Das sind nicht so viele, wird man als Beobachter vielleicht denken, aber auch aus anderen ideologisch-toxischen Kampfgebieten von Bitcoins über Gender bis zu Vorratsdatenspeicherung zeigt die Erfahrung, dass zwei, drei Dutzend verbissene Netzkämpfer und Trolle schon ausreichen können, um einem ein Thema grundsätzlich zu verleiden. Denn die Selenas dieser Welt liefern Berichte und Argumente dagegen. Man muss ihnen nur folgen und hat Hunderte von Beiträgen, Videos und Bilder verfügbar, die beweisen sollen, dass die USA schuld sind, die wahren Opfer die Russen sind, und der Westen ein zynisches Spiel um die Weltbeherrschung betreibt, während die von den Medien eingelullte Öffentlichkeit nicht erkennt, was für ein dreckiges Spiel da gespielt wird. Selena und ihresgleichen liefern das geschlossene Weltbild, das mir und vielen anderen in die Kommentare gehämmert wird, und ich stehe vor der Frage: Lasse ich mich auf eine Debatte ein oder trete ich die Propaganda in die Tonne und die wüsten Kommentare, ich würde zensieren und das Grundrecht auf Meinungsfreiheit beschneiden, gleich hinterher.
Dass Selena wirkt, dass sie bei manchen funktioniert – das ist wie Pegida, Front National und was da sonst noch alles Putin als Befreier feiert eine Erscheinung, mit dem man in einer pluralistischen Demokratie leben muss. Man muss auch mit derartigen Operationen leben, und mit Selena.
Mit dem Umstand, dass die Leute dahinter möglicherweise nicht so hübsch sind, sondern eher wie Rosa Klebb aussehen, müssen dagegen zum Glück nur Selenas notgeile Pegidaanhänger klarkommen.