Die Geschichte klingt zu gut: Bekannter, aber alt gewordener, weisser Wissenschaftler mit viel Prestige und Privilegien jetsettet um die Welt, und liefert vor Koreanerinnen eine bizarre, sexistische Rede ab. Eine deutlich jüngere, schwarze Journalismuslehrerin lässt sich das nicht gefallen, und informiert die Welt via Twitter empört über die Aussagen. Es kommt schnell zu einem Meme, in dem junge Wissenschaftlerinnen zeigen, wie „ablenkend sexy“ sie in ihren Tätigkeiten aussehen, die Medien steigen in den Shitstorm ein – und kaum betritt der alte Mann wieder britischen Boden, wird er vom Sturm überrumpelt und gezwungen, sich mit einer Entschuldigung von seinen öffentlichen Ämtern zurück zu ziehen.
Der Fall des Nobelpreisträgers und Krebsforschers Tim Hunt sieht auf den ersten Blick aus wie ein phantastisches Hollywood-Drehbuch mit klar verteilten Rollen: Hier der groteske weisse Schuft, da die engagierte, schwarze Kämpferin gegen Ungerechtigkeiten, umgeben von Heerscharen von aus dem Nichts kommenden Aktivistinnen, die zusammen mit den Medien beweisen: Egal wieviel jemand früher geleistet hat, für Sexismus ist in dieser Gesellschaft kein Platz mehr. „In diesem Fall muss es wohl sein“, twittert da auch ein Blogger des deutschen Spektrumverlags nachdenklich zum erzwungenen Rücktritt von Tim Hunt. Jeder will dabei sein, beim Sturz eines Mannes, der sich nach Jahrzehnten der Wohltaten für die Menschheit mit ein paar Worten als untragbarer Unhold bewiesen hat – im bewusst von drei Teilnehmern konzipierten Shitstorm als Warnung für alle anderen: Hat Hunt es doch angeblich gewagt zu sagen:
“Let me tell you about my trouble with girls,’ it purportedly went. ‘Three things happen when they are in the lab. You fall in love with them, they fall in love with you, and when you criticise them, they cry.”
Aber wie so oft ist das perfekte Drehbuch der sozialen Gerechtigkeit für die Lauten der anderen Grund, einmal genauer hinzuschauen. Man kennt das auch von bestimmtn Autorinnen deutscher Medien – etwa in der Unikategorie von Spiegel Online oder gerade erst wieder in der Süddeutsche Zeitung – die einen jungen Mann im Fall des sog. Mattress Girl und ihrer weltweiten Medienkampagne trotz klaren Freispruchs der mutmasslichen Vergewaltigung beschuldigt haben. Ein Twitteraufschrei, ein griffiges Meme, und schon finden sich überall junge, akademisch gebildete Journalist_Innen, die das in die Zeitungen tragen. Massenvergewaltigungen des IS, Genitalverstümmelung in Afrika, Sextourismus, Frauenbenachteiligung in China – das alles spielt seit gut zwei Jahren kaum mehr eine Rolle. Sexismus ist in der öffentlichen Darstellung vor allem in den Universitäten des Westens zu Hause, und auch nach dem spektakulär aufgeflogenen Fall einer erfundenen Vergewaltigung des Rolling Stone sprechen Aktivisten im englischen Sprachraum immer noch von „Campus Rape Crisis“.
Dahinter steht eine global vernetzte Bewegung mit Lobbygruppen und einer gut geölten Empörungsmaschine mit bei Medien schreibenden Aktivistinnen wie Laurie Penny, Jessica Valenti und ihre deutschen Nachahmer. Nachdem das Mattress-Girl ihrem später verfolgten Freund unter anderem die Bitte „Fuck me in the butt“ geschrieben hatte, und im Fall des Rolling Stones klar wurde, wie leicht sich Medien einspannen lassen, wenn die Geschichte nur krass genug ist, fielen die Aussagen von Tim Hunt im denkbar ungünstigen Augenblick: Die Bewegung brauchte einen neuen, plakativen Fall, und sie hat ihn bekommen. Oder genauer gesagt, sie hat eine gewisse Journalismuslehrerin Connie St. Louis bekommen, die bei Twitter Aussagen verbreitete, die Tim Hunt gemacht haben soll. Und da sind inzwischen Zweifel angebracht, denn obwohl es keine Audioaufzeichung der Rede gibt, ist ein Transkript der Rede für die Europäische Kommission aufgetaucht. Und darin wird deutlich, dass Tim Hunt einen Scherz gemacht hat: Indem er sich als eines der „chauvinistisches Monster“ ironisierte, die die besagte Einstellung hätten – und danach zum Lob für Frauen überleitete: „aber jetzt im Ernst“.
Was darf Satire, fragte Tucholsky und “Nichts” ruft ihm die Wissenschaftsredakteurin der Zeit in einem wütenden Artikel entgegen, als klar wurde, dass es zu den verurteilten Aussagen von Hunt durchaus einleuchtend das gibt, was man als „Kontext“ bezeichnet, aus dem sie gerissen wurden. Anna Behrend stellt sich dabei voll hinter die Interpretation der Ereignisse von Connie St. Louis. Der Verfasser dieses Blogs kommt aus dem Ausgrabungsgeschäft und hat allerdings gelernt, dass Funde gar nichts ohne den Kontext sind: Das Ausgraben von Töpfen ist unbedeutend im Vergleich dazu, wo sie zu liegen kamen. Oder von wem mit welcher Intention abgelegt wurden. Die einzigen „Wissenschaften“, die nach seiner Erkenntnis gerne auf Kontext – und Satire – verzichten, sind ideolgisch voreingenommen: Theologie, Marxismus, Genderforschung. Krebsforschung hat sich längst von der reinen Tumorbetrachtung entfernt, Archäologen berücksichtigen auch Pollenanalysen, Volkswirtschaftler ziehen auf den ersten Blick irrelevante Daten heran, um ihre Modelle zu verfeinern: Es ist Usus in der Wissenschaft, den Blick vom Befund zu heben und den Kontext zu studieren. Im Journalismus ist das: Genau schauen, wer wann was mit welcher Intention gesagt hat, und falls das nicht möglich ist, überprüfen, wer wen was warum gesagt haben lassen will. Zu diesem Zeitpunkt stellt sich der Fall Tim Hunt schon weniger eindeutig dar: Es gibt zwei Versionen seiner Ansprache. In der einen hat er in der Einleitung einen missverständlichen Witz gemacht, aus dem ein Teil willkürlich herausgenommen und als Sexismus hingestellt wurde. In der anderen bleibt es beim Hollywood-Drehbuch der schwarzen Frauenrechtlerin, die bislang überhaupt nicht bedauert, den Sturz von Tim Hunt herbei geführt zu haben.
Am 24. Juni stellte Connie St- Louis noch einmal ihre besondere Rolle heraus: Der Guardian liess es zu, dass sie einen Artikel mit dem Thema „Stop defending Tim Hunt“ veröffentlichte – eine seltsame Einstellung für eine Frau, die an der Universität der City of London Journalismus lehrt und wissen sollte, dass man genau recherchieren und zwingend beide Seiten hören sollte, und niemand verurteilen sollte, bei dem es Zweifel an der Schuld gibt. Die Argumente von acht Nobelpreisträgern, die sich gegen die Behandlung von Hunt ausgesprochen hatte, bezeichnete St. Louis schlichtweg als „idiotic“ – für eine Journalistin erstaunlich, aber für eine feministische Aktivistin, als die sie sich vorstellt, keine ungewöhnliche Art, andere in einer Debatte zum Schweigen zu bringen.
Aussage steht gleichwohl immer gegen Aussage. Alles hängt an der Glaubwürdigkeit und der Zielsetzung der Anklägerin und Aktivistin St. Louis – wäre es ein faires Verfahren vor Gericht, würde man bei ihr von „Belastungseifer“ sprechen müssen und davon, dass sie ein Motiv hat. Nachdem Journalisten weltweit ohne Faktencheck die Version von Connie St. Louis verbeitet haben, hat nun die – ansonsten nicht gut beleumundete – Daily Mail einen Reporter nachschauen lassen, wer genau die Anklägerin ist und was sie macht. Das hatte sich auch bei den Fällen des Rolling Stone, der rüde agierenden Aktivistin Shanley Kane und des Mattress Girl bewährt, dieses altmodische Überprüfen der Fakten und der Personen dahinter.
Das Ergebnis ist zumindest das Ende des Hollywood-Drehbuchs.
Connie St. Louis hat ihren Lebenslauf nach Stand der Recherche kräftig aufgehübscht und dann, als die Fragen wirklich unangenehm wurden, sie nicht weiter beantwortet. Eine Lehrerin für Journalismus mit einem äusserst schmalen Tätigkeitsnachweis, Unklarheiten über angeblich gewonnene Preise, Referenzen wie die besagte Daily Mail, die nach menschlichem Ermessen eindeutig unwahr sind, ein Amt, das längst nicht mehr ausgeübt wird, eine Mitgliedschaft in der Royal Institution, die keinerlei Bedeutung hat: Connie St. Louis hat, das darf man so sagen, ein eher relatives Verhältnis zur reinen Wahrheit schon in der eigenen Biographie. Die Frau, die die Karriere von Tim Hunt wegen ein paar Worten beendet sehen will, will zu ihrem eigenen Umgang mit den Fakten in ihrem Lebenslauf wenig oder nichts sagen. „This is about journalism. Secondly it’s about women in science“ sagte sie noch, als es um Tim Hunt ging Jetzt, wo es in diesem Fall zum ersten Mal wirklich um Journalismus und Frauen wie sie in der Wissenschaft geht, legt sie auf.
Es ist zu diesem Zeitpunkt völlig unklar, ob das schon der ganze Kontext des Shitstorms war, oder ob die feministische Aktivistin St. Louis, die wie einige andere im Graubereich zwischen Journalismus und politischer Überzeugung agiert, noch mehr Gesprächsstoff liefert. Düpiert sind dabei neben dem Mob der leichtsinnig glaubenden und vorschnell twitternden Wissenschaftsszene alle Medien, die auch nach dem Auftauchen entlastender Aussagen weiterhin die Version und die Agenda von St. Louis stützten und nun mit dem Umstand leben müssen, dass ihre Hauptbelastungszeugin alles andere als vertrauenswürdig erscheint.
Trotzdem ist dem Verfasser bislang noch kein Fall bekannt, in dem die Verantwortlichen in den Medien nun wegen ihrer Nachlässigkeit ähnlich scharfe Konsequenzen für sich gezogen hätten, wie sie im Fall von Tim Hunt gefordert wurden.