Blogartikel können Karrieren massiv beeinträchtigen. So hat etwa das Blog „Störungsmelder“ der Zeit im März einmal zusammengestellt., welche Äusserungen und Ansichten Xavier Naidoo seit ca. 2009 so von sich gegeben hat. Zweifel an der Souveränität Deutschlands, ein Auftritt bei einer Reichsbürger-Demonstration, ein Lied, das man als homophob interpretieren kann, auch wenn Naidoo es nur als Kritik an Missbrauch von Kindern verstanden haben will, und daneben auch einige Zeilen, die der Autor des Blogs als Anspielung an antisemitische Klischees verstehen möchte. Störungsmelder ist nun mal ein Blog, das sich mit dem Thema Rechtsextremismus auseinander setzt und dabei wenig Nachsicht kennt: Mit Roland Sieber hat die Zeit bei diesem Beitrag zudem einen Antirassismus-Aktivisten rangelassen, dessen Urteile recht schonungslos auszufallen belieben. Die Zusammenstellung des Blogeintrags ist eine Hauptquelle der Leute, die im Netz die Entscheidung des NDR, Naidoo zum Eurovision Song Contest zu schicken, kritisiert haben. So entsteht dann der Vorwurf, Naidoo sei antisemitisch. Weil, sowas ähnliches steht ja in der Zeit.
Man muss da, denke ich, vorsichtig sein. Überhaupt, das wird man nach Jahren der Tätigkeit für jüdische Medien und Organisationen noch sagen dürfen, ist selbstüberzeugter Antisemitismus in Deutschland selten, sehr selten anzutreffen. Selbst Radikale auf beiden Seiten des politischen Spektrums, die sich nachweisbar antisemitisch verhalten, geben mit Vorliebe zu Protokoll, dass sie nichts gegen Juden haben. Nur eben manche, die das Ansehen des Judentums in ihren Augen schädigen, seien schlimm und da tun sie etwas. Fast erwarten sie, dafür den Leo-Baeck-Preis zu bekommen. Und wenn sie nur prominent genug sind, findet sich auch eine jüdische – oder sich jüdisch gebende oder von einer Ex-Stasi-IM geleitete – Splittergruppe, die ihnen einen Persilschein ausstellt, und zudem unterstreicht, wie sehr der Betreffende doch Recht hatte. Ich bin da wirklich ein Freund des sehr genauen Hinschauens. Antisemitismusvorwürfe sind unter Deutschen nun mal die ultimative Erstschlagswaffe im Kampfe um die grösste Meinungsführerschaft aller Zeiten.
Christian Stöcker jedenfalls ist weit, weit weg von dieser Szene, und sicher kein Antisemit. Auch wenn Christian Stöcker gerade bei Spiegel Online einen Beitrag über Marek Lieberberg geschrieben und darin über seine Motivation Mutmassungen angestellt hat, warum er, unterschrieben von über hundert Prominenten, eine Anzeige für Xavier Naidoo in der FAZ hat schalten lassen. Lieberberg, das ist bekannt, ist ein prominenter Konzertveranstalter und betreut unter anderem Naidoo. Stöcker nun schreibt bei Spiegel Online, nachdem er sich breit über die nicht geringen Kosten der Anzeige ausgelassen hat, über den jüdischen Unternehmer:
Warum also hat Marek Lieberberg die mindestens 67.000 Euro investiert, die so eine Anzeige kostet? Vielleicht einfach deshalb, weil Xavier Naidoo eine Marke ist. Eine Marke, mit der man immer noch eine Menge Geld verdienen kann. Weil es sich um eine vorbeugende Maßnahme handelt, eine Rufrettungsmarketingmaßnahme. Und dafür ist so eine Anzeige ja im Grunde auch genau das richtige Mittel.
Man könnte da auch von einer infamen Unterstellung sprechen: Stöcker jedoch gerät mit diesem antisemitischen Stereotyp nicht unter die Räder des Naidoo unfreundlich gesonnenen Roland Sieber, der den Link zu diesem Beitrag auch bei Twitter verbreitet. Stöcker sagt Lieberberg ganz offen und ohne Nachfrage eine Strategie nach, der zufolge er die Rufschädigung einer für ihn wertvollen Marke fürchte, und somit unter dem Fanal der Menschlichkeit verdeckt seine eigenen kommerziellen Interessen fördert. Der Jude als durchtriebener Verführer anderer Leute, der scheinbare Menschlichkeit nur benutzt, um seine, durch einen zwielichtigen Partner erspielten Gewinne ins Reine zu bringen: Das kann selbstverständlich als antisemitisches Stereotyp aufgefasst werden, es ist nachgerade ein Klassiker der judenfeindlichen Vorwürfe. Hätte Naidoo so etwas über einen prominenten Juden geschrieben, würde man das entsprechend negativ interpretieren, und echte Antisemiten können sich von Stöcker in ihrer Weltsicht bestätigen lassen. Und das in einem Beitrag, in dem explizit darauf hingewiesen wird, dass manche Aussagen von Naidoo als homophob, verschwörungstheoretisch und antisemitisch beurteilt werden.
Davor twittert Stöcker übrigens auch noch, wofür er wohl lieber eine Anzeige in der FAZ gesehen hätte:
Gab es eigentlich auch eine ganzseitige “Menschen für Flüchtlinge”-Anzeige in der FAZ?
Die Zeiten, da Opa noch einen Juden im Keller versteckt haben musste, sind schliesslich vorbei: Heute reicht politisch korrektes Twittern für Flüchtlinge als Persilschein aus. Lieberberg, der die Unterstellungen von Stöcker und Genossen energisch zurückweist, hat sich nicht so verhalten, wie es der Mainstream gern hätte: Der Mainstream hat Naidoo verurteilt und wegen seiner Aussagen entsprechend abgestempelt. Wenn ein Mensch mit Migrationshintergrund Gewaltphantasien vorträgt, wenn er an Kindesmissbrauch denkt, ist eben nicht so akzeptabel wie etwa die Vorgeschichte grüner Politiker in Deutschland, die dazu früher deutlich nachsichtigere Haltungen eingenommen haben. Der gewaltige Shitstorm gehen Naidoo, der mit seiner Nominierung für den European Song Contest durch den NDR anhob, ist auch einer der Mobilisierungserfolge aufgestachelter Netzbenutzer: Man hat es geschafft, dass der NDR Naidoo wie eine heisse Kartoffel fallen lässt.
Und da kann später keiner kommen und es wagen, sich nun mit Naidoo solidarisch zu erklären. Denn das strategische Hauptziel jedes Shitstorms, die maximale Menge an Ausgrenzung auf ein möglichst kleines Ziel zu konzentrieren, bis es unter der Last des Ansturms zusammenbricht, bevor sich Widerstand geordnet organisiert, hat den moralischen Sieg errungen und einen Sender gedemütigt. Wenn hier nun jemand Zweifel anmeldet und etwa betont, dass dabei menschlich ausgesprochen unschöne Dinge getan wurden, kommt die zweite Stufe: Der Shitstorm verhängt Sippenhaft und richtet seine Waffen auf Nichtkombattanten. Wenn das Vorgehen gegen Naidoo der Erhaltung der deutschen Nationalmoral diente, muss Lieberberg geradezu ein unmoralischen Verhalten unterstellt werden. Echte deutsche Moralisten meinen zu wissen, dass es im ewigen Ringen um die einzig wahre Wahrheit nicht zwei Sichtweisen geben kann. Ein moralisch nachvollziehbares Motiv für die Ablehnung des Shitstorms wird gar nicht erst in Betracht gezogen. Und wenn manche, die auf der Liste stehen, im Internet erreichbar sind, werden sie eben auch noch gleich für ihre Sicht der Dinge mitgeshitstormt. So tobt sich der deutsche Mob, weil der erste Shitstorm so erfolgreich war, dann auch an der Halbperserin Miriam Pielhau aus, die die öffentliche Meinung nicht teilt.
Wie gesagt, ich halte Stöcker oder den “Journalisten” Sieber, der eifrig bei der zweiten Welle auch Forderungen mittwittert, so eine Anzeige in einem freien Land zu verhindern, nicht für Antisemiten. Gewisse Verhaltensweisen sind einfach sehr Deutsch. Ich habe auch schon Lesungen jüdischer Autoren erlebt, in denen deutsche, philosemitische Zuhörer dem Autor nachweisen wollten, dass er so etwas in Deutschland nicht über Juden sagen kann. Aber es ist schon interessant zu sehen, wie viel Druck jetzt auf Ziele zweiter und dritter Ordnung gemacht wird, sich zu entsolidarisieren und keine andere Auffassung als die Sieger zu äussern oder auch nur zu verbreiten: Mit denen, die verurteilt wurden, darf man nach Ansicht der Nationalmoralisten keine Geschäfte machen, oder sich mit ihnen blicken lassen. Sonst ist man selbst im Verdacht, ein Reichsbürger zu sein. Und man geht nicht auf Konzerte von Lieberberg und seinen Freunden. Wer da anderer Meinung ist, wird bei der Bewerbung der Titanic für den Julius-Streicher-Sippenhafthumorpreis berücksichtigt.
Bei Promis darf man das, da machen sie es halt. Alles keine Antisemiten. Trotzdem, wissen Sie, manchmal frage ich mich nur so als Kulturhistoriker: Wie überdeutlich dürfen eigentlich die Parallelen werden, damit lustige Fratzen von einer Kirche in Venedig noch nicht durch Arno Brekers Recken ersetzt werden sollten? Wie auch immer, wir erleben gerade die Entgrenzung des Shitstorms, der einen totalen moralischen Sieg erringen will. Ein Shitstorm, der nur noch richtig und falsch kennt, und jede menschliche Regung Unbeteiligter verdammt, wenn sie mit der falschen Seite empfunden wird. Das ist nicht antisemitisch, wenn die Juden als Gruppe nicht das Ziel sind, aber es funktioniert strategisch wie jede totalitäre Ideologie. Man darf kein Mitleid mit den Feinden empfinden. Man darf nicht anderer Ansicht sein. Der Twittergerichtshof kennt keine Revision, und was den Schwulenverbänden Xavier Naidoo ist, wird beim nächsten Anlass für die Netzfeministinnen die Popgruppe Wanda werden. Dafür haben SPEX und Süddeutsche Zeitung im Verein mit dem Netzfeminismus bereits die Anklageschriften verfassen lassen. Vorwurf Machismo und mangelnde Bereitschaft, der Genderideologie zu glauben. Die einen schalten hinterher Listenanzeigen, die anderen wissen, dass das zu spät ist und machen ihre Abschusslisten, bevor sie zuschlagen.
Deshalb bin ich der Meinung, dass man wirklich genau hinschauen und nicht gleich mitmarschieren sollte. Nicht jede dumme Äusserung eines Prominenten ist gleich menschenfeindlich. Nicht jede scheinbar „gute“ Pressuregroup hat immer recht. Und manchmal hat man es auch nicht mit Antisemiten zu tun, sondern einfach nur mit indoktrinierenden Filterblasen, die gern gemeinsam Fackelmärsche aufführen, und anderer Leute Gedanken auf den Scheiterhaufen werden. Damit allen klar ist, wie das hier zu funktionieren hat, und wer, wenn er sich nicht an die herrschenden Vorstellungen anpasst, auch eine aufs Maul bekommt und von Stöckers Freund und Kollegen Ole Reissmann beim SPON-Spinoff Bento graphisch zur, Zitat „rechten Ecke“ gestellt wird. Es gibt keinen zwingenden Zusammenhang von Antisemitismus und anderen hässlichen Verhaltensweisen.
Wie gesagt, echte Antisemiten sind ausgestorben, aber wenn die Shitsturmtruppen diejenigen sein sollen, die aus der deutschen Geschichte gelrnt haben, dann braucht man auch keine mehr.
Damit hier kein Verdacht aufkommt, ich würde finanziell durch die Anzeige von Lieberberg und hundert Mutigen, die sich nicht dem Pöbel beugen, etwa profitieren, plane ich das Honorar für diesen Beitrag abzüglich der in meinem Fall recht hohen Unkosten – Ambiente mit Silberkannen und Gemälden der Aufklärungsepoche – einem guten, sehr guten, staatsbürgerlich wertvollen Zweck zuzuführen, wie man das heute unter Nationalmoralisten – Flüchtlinge1einself – angeblich so tut.
Gibt es einen Pfeffersprayfonds der Berliner und Hamburger Polizei?