Man kennt diese Geschichten aus der Schwarzen Serie der Kriminalliteratur: ein schmieriger Verbrecher setzt eine Tochter aus besserem Hause unter Drogen, um Sexphotos von ihr zu machen. Mit denen wird die Familie erpresst, die dann den Privatdetektiv Marlowe engagiert, um die Sache zu bereinigen. Nach einer verwickelten Geschichte sind viele Menschen tot, Marlowe hat die Abgründe der besseren Kreise gesehen, und muss die Polizei belügen, um am Ende wieder einsam in seiner Wohnung zu sitzen – aber die Bilder und die Negative hat er beschafft, und die Gefahr für das Ansehen der reichen Familie ist gebannt. Zum Glück haben wir das nicht nötig: Dank der gestrigen Entscheidung des Bundesgerichtshofes müssen intime Photos nach dem Ende einer Beziehung entweder auf Verlangen an die oder den Abgebildeten herausgegeben oder gelöscht werden.
Das klingt erst einmal schön, wird doch damit ausgeschlossen, dass der frühere Partner sein Unwesen mit den Bildern treibt. Also, theoretisch. Die Gefahr des Revenge Porns, der Veröffentlichung solchen Materials zur Beschämung ist ebenso ausgeschlossen wie der Verkauf an interessierte Kreise. Höchstrichterlich wird festgestellt, dass nach dem Ende der Beziehung das Recht auf die Bilder besteht, sofern sie intim und sexuell explizit sind, und keine Urlaubs- oder Alltagsszenen darstellen. Das gilt, auch wenn die Bilder früher von den Abgebildeten selbst erstellt und überlassen wurden. Das klingt wirklich gut, nach Datensicherheit und Selbstbestimmung im digitalen Zeitalter.
Leider hat das Gericht darauf verzichtet, ein paar Sätze ins Urteil zu schreiben, die in etwa so lauten könnten:
„Ihr schwachsinnigen Trottel – wenn ihr vorher auch nur einen Moment nachgedacht hättet, bevor ihr da euren privaten Schmuddelkram gedreht habt, wäre euch vielleicht gekommen, dass das alles eine ausgesprochen bescheuerte Idee ist. Porno bekommt ihr tonnenweise umsonst im Netz. Und wer auch nur einen Funken Hirn hat, weiss doch, dass solche Bilder nach dem Ende einer Beziehung Probleme bereiten. Macht sowas einfach nicht. Dann müssen wir hier keine Urteile fällen, die schön klingen, aber praktisch undurchführbar sind“.
Denn bei Marlowe war das mit den Bildern noch recht leicht. Es gab Negative und Abzüge, und wenn die vernichtet waren, war das Problem gelöst. Aber wie soll man heute digital gespeicherte Bilder herausgeben und löschen? Ich mache für die Arbeit hier vergleichsweise viele Bilder, und sie sind nach einer Weile mindestens sieben mal auf vier Medien gespeichert: Auf der Speicherkarte der Kamera, in mindestens einem Ordner auf dem Rechner in einer bearbeiteten und einer originalen Version, und beide sind nach einer Weile auf zwei Backup-Festplatten. Das Recht zur Löschung wird schwierig, wenn ich die originale SD-Karte suchen muss. Darauf befinden sich zwischen 2000 und 4000 Bilder. Ich muss die richtigen Ordner finden, mit ebenfalls tausenden von Bildern, und mir muss wieder einfallen, unter welchem Namen ich die bearbeiteten Versionen abgespeichert habe. Selbst wenn ich sie alle finde – wie gebe ich sie dem ehemaligen Partner? In Form meiner Datenträger?
Denn nimmt man das Urteil ernst, soll wirklich nichts beim Partner bleiben, geht es nicht ohne die Übergabe oder komplette Zerstörung der Datenträger. Die Platten und Karten sind die Bildträger, und das einzige Mittel ihrer restlosen Übergabe ist eben der Ausbau, oder sehr nachhaltige „Löschung“. Vermutlich haben sich die Richter noch nie damit beschäftigt, was Bildlöschung im digitalen Zeitalter überhaupt bedeutet: Normales, „endgültiges“ Löschen auf dem Rechner belässt die Daten immer noch auf der Platte, und auch Überschreiben ändert nichts daran, dass Forensiker die Daten trotzdem noch herstellen können. Mit Löschung meinen Richter „komplett weg“. Das geht bei Filmnegativen. Aber bei Daten ist das ein enormer Aufwand. Wie man das überwachen soll, sagen die Richter nicht. Woher man wissen soll, dass es nicht irgendwo noch Kopien gibt, ist auch nicht klar. Aber es ist kinderleicht, diese Kopien zu machen, zu speichern, zu verschicken – die Richter haben der Klägerin einen Anspruch bestätigt, aber sie und ihren Gegner mit der praktisch unmöglichen Umsetzung allein gelassen.
Noch schwieriger ist es, sollten beide auf die – heute nicht unübliche – Idee gekommen sein, ihre Bilder nicht über feste Datenträger, sondern elektronisch auszutauschen. Dann sind die Bilder irgendwo auf mindestens einem Server im Netz, und der gehört meistens einer amerikanischen Firma. Natürlich gelten deutsche Gesetze weiter, aber wie setzt man sie hier um? Wie bekommt man Google, Facebook, Skype, Twitter, Tinder dazu, solche Bilder wirklich zu löschen? Denn der Normalfall ist nicht das, was am BGH zwischen einer Frau und einem professionellen Photographen verhandelt wurde. Der Normalfall sind blöde junge Erwachsene, die solche Bilder mal eben mit dem Mobiltelefon machen und aus einer dummen Laune heraus verschicken. Das BGH-Urteil ist prima für das Marlowe-Zeitalter. Es ist sinnlos in einer Epoche, in der Daten ohne Nachdenken verschickt und gespeichert werden. Und es geht nicht mehr nur um eine dumme Tochter, die mit Laudanum abgefüllt vor einer Kamera eines Erpressers landet: Es kann jeder betroffen sein. Das geht ganz schnell. Und es ist kein Problem der Festplatten, sondern eines der Mentalität. Gerichte können Gesetze auslegen und Ansprüche formulieren, aber wer unerwünschte Daten nicht möchte, kann sie nur verhindern, indem sie erst gar nicht entstehen. Sobald sie erst einmal auf einem Datenträger sind, ist es zu spät.
Das geht übrigens auch ohne Porno. Letztes Wochenende beispielsweise posaunten unter dem Hashtag WhyIsaidnothing, begleitet von viel medialem Zuspruch, feministischer Ideologie und gegenseitig angeheizt, ein paar Dutzend Menschen ihre mutmaßlichen Erfahrungen mit Vergewaltigung ins Netz. Das steht da jetzt so drinnen. Natürlich sind die Vorwürfe nicht überprüft, selbst wenn in gewissen Fällen recht deutlich wurde, wer der Täter gewesen sein könnte. Es gibt in Deutschland zum Glück Opferschutzeinrichtungen, die sich der Fälle professionell und vor allem diskret annehmen könnten, aber eben auch Internet und andere Aktivist_Innen, die einem für solche Einlassungen zujubeln. Die taz bastelte sich trotz der Nennung von Tätern aus dem feministischen Nahbereich in Berlin lieber aus den Reaktionen mancher Trolle einen Beitrag über die angebliche „Rape Culture“ – ein bei der Aktion spektakulär angegriffener Politiker, den eine linke Aktivistin beschuldigte, wurde bei linker Verortung nicht herausgepickt. So kann sich jeder aus der Aktion für seine Sichtweise herausziehen, was er will, und die Daten für die jeweilige Agenda benutzen. Aktivisten betteln im Netz um solche Geschichten. Ob aber die Beteiligten in ein paar Jahren noch glücklich darüber sind, ihre kurzen Einlassungen bei diversen Medien zu finden, ist eine ganz andere Frage. Sie haben ein Recht auf Vergessen gegenüber Twitter. Aber nicht gegenüber den Medien, die ihre Geschichten ausschlachten. Momentan finden sie das noch toll. Ob es ihnen noch gefällt, wenn ein TV-Boulevard-Magazin so einen Fall später mal aus dem Netz zieht und mit dem Reporterteam vor ihrer Tür steht, sei dahingestellt.
Es ist hochanständig vom BGH, nun den Blick auf Daten und Datenträger zu senken, und zu sagen: Nein, das muss zurück in die Verfügungsgewalt der Betroffenen. Es ist richtig und gut. Es ist zwar komplett an der Realität vorbei, aber trotzdem ist es ein gutes Urteil. Es kann gar nicht anders, als er technischen Entwicklung hinterher hinken, und es ist kein Reparaturbetrieb für eine exhibitionistische Netzkultur, die allen psychisch Labilen ein Handy oder gar den Zugang zu einem Medium gibt und sagt: Mach mal. Gib uns den harten Content. Blau gefärbte Achselhaare, Piercings, eine Vergewaltigungsgeschichte, Hauptsache was mit Sex und Empörung und Aufmerksamkeit. Leg dich mal krass geschminkt aufs Sofa, rutsch etwas rum, wir machen da ein Wackelbild aus dir. Hau Deine Posen raus auf Twitter und lache, wenn dein Freund ein Bild verbreitet, auf dem du auf dem Boden einer dreckigen Wohnung vor Junkfood liegst, das dann in alle Netze geteilt und ausgelacht wird. Es ist schön, Richter zu haben, die Probleme erkennen und das Individuum schützen. Aber der Endgegner des Rechts ist im Netz nun mal die menschliche Dummheit, die Gier nach Awareness und Gefallsucht, verstärkt durch Community und fehlende Impulskontrolle. Dieser Kampf ist nicht zu gewinnen, und für jeden, dem das Recht hilft, stehen täglich Hunderttausende auf, die erst etwas speichern und verbreiten. Und danach immer noch nicht nachdenken.