Jede Straftat, egal von wem sie begangen wurde, ist eine zu viel.
Ich bin Bayer. Aber das heisst nicht, dass ich Bier trinke. Genau genommen trinke ich überhaupt keinen Alkohol, denn ich finde, wenigstens eine Tugend sollte man haben. Ausserdem bin ich Vegetarier und finde Fleisch widerlich. Als Spross der besseren Kreise habe ich ein Faible für klassische Musik – der Musikantenstadl ist mir ein Graus. Grosse Mengen gemeinen Volkes widern mich an. Ich gehe in der Folge auf kein Volksfest. In meiner Münchner Zeit habe ich die Stadt während der Oktoberfeste immer verlassen, und einen schlechteren Verteidiger als mich könnte diese abstossende, kulturfreie, alkoholersäufte Jauchegrube mit ihrem Billigtracht tragenden Gschleaf nie und nimmer finden. Echte Bayern hassen oft das Oktoberfest als totale Perversion ihrer Tradition. Nicht einmal mehr gscheide Masskrugschlägereien gibt es dort. Die wurden schon vom Rat Stierhammer gnadenlos ausgerottet.
Sie sehen also, ich bin voreingenommen, angewidert und subjektiv gegenüber meinem Mandanten, den ich jetzt vor dem Netz zu verteidigen gedenke. Hauptanklägerin ist die hier bereits bekannte ARD-Journalistin Anna-Mareike Krause. Sie ist Feministin und nicht neu im Geschäft der unfeinen Zuschreibung. Ich suche mir solche Streitereien nicht heraus, Krause schiebt sich mit über tausend Retweets selbst dorthin, wo ich den Radi putze, und diesmal sagt sie in Bezug auf den sexualisierten Massenmissbrauch am Hauptbahnhof in Köln und auf eine Äusserung der ehemaligen Familienministerin Christina Schröder:
Wenn sexuelle Gewalt etwas mit herkunftsbedingten Männlichkeitsnormen zu tun hat, dann hätte ich ein paar Fragen zum Oktoberfest.
Das wurde vom Umfeld der Social-Media-Redakteurin eifrig verbreitet, das Oktoberfest wurde danach schnell zu einem “Trending Topic”bei Twitter, und in der Folge versuchten viele den Eindruck zu vermitteln, das Oktoberfest sei auch so eine Art zweiwöchiges Silvesterverbrechen in München. Besonders beliebt ist dabei ein Artikel, der 2009 in der linken Tageszeitung erschien und ein Betreuungsprojekt für Frauen vorstellte. Der Artikel erweckt den Eindruck, die Einrichtung habe sich um hundert Frauen gekümmert, die sexuelle Gewalt erlebt hätten, und behauptet, es gäbe eine Dunkelziffer von 200 Vergewaltigungen während des Festes – von denen nur zehn angezeigt würden.
Tatsächlich weist die Kriminalstatistik für 2008 lediglich vier und im Folgejahr sechs Vergewaltigungen aus – also nur rund die Hälfte der in der taz behaupteten Zahlen. Was der Artikel nicht deutlich klärt ist, dass sich die Einrichtung um alle Frauen kümmert. Die meisten wissen aufgrund von Trunkenheit, verlorener Freunde oder Handtaschen nicht mehr weiter. Eine Quelle für die Dunkelziffer der 200 Vergewaltigungen gibt der Beitrag ebenso nicht an. Um die Zahl in Relation zur Realität zu setzen: Vorletztes Jahr registrierte die Polizei in ganz München im ganzen Jahr 147 Vergewaltigungen. Die Horrorzahl der taz erscheint also eher fragwürdig und wird auch ansonsten nicht gestützt. Sie wird dennoch von genau jenem – auch journalistisch arbeitenden – Umfeld als Gewissheit im Netz verbreitet, das Xenophoben begründet vorwirft, Vergewaltigungen für ihre eigenen Ziele zu erfinden und zu instrumentalisieren. Am Ende werden die falschen und veralteten Zahlen dann von der Feministin Anne Wizorek der Frankfurter Rundschau als Tatsache untergeschoben.
Trotzdem ist es natürlich zulässig, grosse Ereignisse in Relation zu setzen. Es kann als gegeben vorausgesetzt werden, dass am Bahnhof in Köln aus einer Gruppe von rund tausend Männern heraus Straftaten vor allem gegen Frauen unternommen wurden, die bis heute zu über hundert Anzeigen führten, drei Viertel davon mit sexuellem Hintergrund – vermutlich werden in den kommenden Tagen noch weitere dazu kommen. Was die Herkunft der Täter angeht, gibt es widersprüchliche Angaben aus dem Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung. Es wird von Tätern nordafrikanischer oder arabischer Herkunft gesprochen. Gleichzeitig wird von der Oberbürgermeisterin Reker betont, es gäbe keine Erkenntnisse über die Teilnahme von Flüchtlingen – was allerdings im Gegensatz zu einem Medienbericht steht, in dem ein Polizist mehrere entsprechende Personalien festgestellt haben will: „Sie hatten alle kopierte Papiere dabei, Aufenthaltsbescheinigungen für Asylverfahren.“. Mal heisst es, einige Täter seien polizeibekannte Intensivtäter, dann heisst es wieder, die Polizei habe keine Erkenntnisse. Es ist offensichtlich, dass die Gruppe stark alkoholisiert und in “Feierlaune” war – insofern ist es natürlich zulässig, als Vergleich das Oktoberfest mit seinen Alkoholexzessen zu nennen.
Es fällt allerdings auf die Twitternutzer zurück, denn man kann bei genauem Hinschauen zeigen, wie manche im Netz selbst Relativierung von sexuellen Gewalttaten betreiben. Das Oktoberfest 2015 hatte 5,9 Millionen Besucherinnen und Besucher während der 17 Tage seiner Dauer. Nimmt man an, dass jeder zweite Besucher männlich und strafmündig war, standen im Schnitt täglich 174.000 Männer auf der Wiesn. Schreibt man dieser Gruppe alle von der Polizei erfassten Straftaten zu, so verübten sie während des gesamten Festes insgesamt derer 1.191 – darunter insgsamt 20 Sexualdelikte, und im Gegensatz zu den im Netz verbreiteten Behauptungen keine einzige vollendete Vergewaltigung. Das bedeutet, dass die Polizei pro Tag 70 Straftaten feststellte, bei rund doppelt so vielen Einsätzen. Auf 100.000 männliche Wiesnbesucher und Tag kommen also 40 Straftaten.
Am Hauptbahnhof in Köln gibt es bislang über hundert Anzeigen auf eine Gruppe von tausend Menschen. Abgerundet, seien wir gnädig, und bei vollem Bewusstsein, dass das Oktoberfest auch viel Gschleaf, Säufer, Streithansel, Menschen aus Neuburg an der Donau und Berlin an der Spree und auch Journalisten der ARD anzieht, und nur eine Minderheit echt ethnische Bayern sind und auch Trickbetrüger kommen – sind Teilnehmer des Mobs von Köln rein rechnerisch immer noch über 200 mal so anfällig für das Begehen von Straftaten wie Vertreter der tausend männlichen, feiersüchtigen und meist am Ende sternhagelblauen Besucher des Oktoberfestes. Selbst, wenn man die 20 mal so hohe Dunkelzifferunterstellung der taz glauben und auf alle Delikte ausweiten wollte, wäre Köln ohne jede Dunkelziffer mehr als zehn mal so gefährlich.
In München werden im Jahr pro 1000 Einwohner 70 Straftaten registriert. Der Mob von Köln hat dazu nicht einmal eine einzige Nacht gebraucht. Aufs Jahr gerechnet kämen 1000 rein männliche Wiesnbesucher dagegen auf 145 Straftaten. Damit hätten die männlichen, betrunkenen, feierwütigen Oktoberfestbesucher in etwa die normale Kriminalitätsrate von Köln ohne den Silvestermob. Das hat auch etwas damit zu tun, dass in Bayern noch vieles in Ordnung ist, denn für Ordnung sorgt die gut vorbereitete Gendarmerie und für die Gerechtigkeit Gerichte, die beim Oktoberfest auch schnell und hart durchgreifen. Anzeigen werden hier schnell aufgenommen, es gibt ein sehr effektives Sicherheitskonzept, das für stetig sinkende Delikte sorgt – in linken Kreisen wird das gern als „Polizeistaat Bayern“ diffamiert. Da gibt es auch jede Menge Security. Das Fest ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, und es ist im Interesse des Staates, dass es dort sicher zugeht.
Es gibt dort einfach keine Szenen wie in Köln. Wer so etwas behauptet, hat entweder keine Ahnung, oder lügt absichtlich. Wer so etwas bei der Presse behauptet….
könnte das alles schnell und bequem im Internet recherchieren, und deshalb verstehe ich nicht, warum Feministinnen, Journalist_Innen und Politiker_Innen versuchen, mit einer weitgehend friedlichen Grossveranstaltung via Twitter die Zusammenkunft von teilweise gefährlichen Elementen kleinzureden. Das ist bestes Futter für diejenigen, die den Medien nicht trauen, und eine krasse Verharmlosung einer brandgefährlichen Szene, die einen Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung zu sexuellen Übergriffen benutzt hat. Natürlich geht es in manchen Bierzelten nicht wie bei der Böllstiftung zu, natürlich gibt es in München übergriffiges Verhalten. Alle Beteiligten wissen dort um die lockeren Sitten und nicht wenige – auch Frauen – sind explizit auf Exzesse aus. Ich mag das auch nicht. Ich hasse dieses Fest. Ich mag Dirndl lang, traditionell und sittsam und nicht diesen Ballermann, der bayerisch lackiert wird.
Aber er taugt nicht zur Internethetze, und er taugt aufgrund der geringen Kriminalitätsrate der Besucher nicht zur Relativierung schwerer Straftaten. Wer so etwas als politisch Verantwortliche macht, kann sich heraussuchen, ob sie damit die meist friedlichen Besucher des Festes auf eine Ebene mit brutaler Kriminalität stellt, oder organisierte Kriminelle und ihre Taten verharmlost, und ihre Opfer zusätzlich herabwürdigt – als sei das, was ihnen angetan wurde, eine Art freiwillig besuchtes Volksfest. Beides ist unredlich, beides verwischt die Fakten und die Grenzen zwischen Tätern und Opfern. Und der Twittermob mit den falschen Zahlen muss sich fragen lassen, ob die Unterstellungen ein besserer Rassismus sind, weil er von denen vorgetragen wird, denen das Kölner Debakel für die Willkommenskultur nicht in ihre politische Doktrin passt, in der die Schurken idealerweise weisse, heterosexuelle Männer sein müssen.
In diesen Kreisen denkt man, man sollte ganz offen über das Oktoberfest reden, aber nicht über die Herkunft von Tätern, deren Existenz man vor Silvester noch als übelste Nazipropaganda abgetan hätte. Jetzt ist sie Realität, und die Aktivist_Innen versuchen, die Nacht von Köln zu einer deutschen Normalität umzuschreiben. Ich hätte übrigens keine Fragen an die ARD zu Frau Krause. Mir reicht schon das Ahnung, dass Martin Delius und Christopher Lauer vermutlich dem nächsten Berliner Parlament nicht mehr angehören werden.