Das sind die Ruinen der Thermen von Volterra: Marmorsäulen, Mosaike, diverse Bäder, Saunen, eine imposante Architektur, die der römischen Kultur zu verdanken ist. Nicht umsonst greifen moderne Badhersteller gern auf Bezüge zur Antike zurück. Dass es in Europa eine lang zurückreichende Kultur der Sauberkeit gibt, verdanken wir natürlich dem Imperium und seinem segensreichen Wirken.
Was Rom in der Kulturgeschichte des Bades ist, sind London und das Vereinigte Königreich bei Menschenrechten, Toleranz und Aufklärung. Die Insel war – von ein paar gern übersehenen Verbrennungen Andersdenkender der ein oder anderen Religion, brutalen Bürgerkriegen und zynischer Politik auf dem Kontinent mal abgesehen – ein Land, in dem die Bürgerrechte gegenüber dem König gesetzlich in der Magna Carta verankert waren. Es war ein Land der Gewaltenteilung, des Parlamentarismus, der Toleranz, des Liberalismus, des technischen Fortschritts, des Frauenwahlrechts und der Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz. Wer auf dem Kontinent verbotene Bücher drucken wollte, konnte auf die Insel ausweichen, sofern sie nicht auch dort zur Verbrennung führten. Vieles, was uns heute als Demokraten selbstverständlich erscheint, wurde im Vereinigten Königreich erfolgreich entwickelt. An diesem Schicksalstage also blicken wir verträumt auf die Leistungen dieses Volkes, wie wir auch gern in unseren Bädern den Marmor der Römer hätten.
Wir ignorieren dabei, dass in vielen italienischen Cafes die Toilette noch aus einem nackten Loch im Boden besteht, das meist nicht sonderlich sauber und für zivilisierte Europäer unbenutzbar ist. Einen grösseren Unterschied als den zwischen römischer Badekultur und einfachen Toiletten in Cafes kann man sich kaum vorstellen. Ausser man vergleicht die theoretischen Bürgerrechte und demokratischen Ideale früher Briten mit der Kloake, die britische Regierungen, egal ob sozialdemokratisch oder bürgerlich, mit dem alptraumhaften Überwachungsapparat GCHQ und ihrer sonstigen Netzpolitik dem freien Internet vor die Tür gesetzt haben.
Ich höre aus der Szene der Datenschützer nur vergleichsweise wenig Sorgen über den Austritt der Briten aus der EU. Es kann sein, dass das Volk heute über diese Frage zu Ungunsten des Gemeinsamen befindet. Aber dank Snowden weiss jeder, der sich etwas mit dem Thema beschäftigt und es im Gegensatz zu vielen Europapolitikern wirklich wissen will, dass die Briten in der Frage ihrer angeblichen “inneren Sicherheit“ den Rest Europas wie einen Feind behandeln, und dabei auch keinerlei Rücksichten auf geltendes Recht in der EU nehmen.
Das GCHQ sitzt auf den Überseekabeln und speichert, wie es ihm gefällt, und ohne jede Rücksicht auf den Datenschutz von EU-Bürgern.
Dazu kommt mutmasslich – ganz genau wollte das niemand untersuchen – der komplexe Hack der Firma Belgacom, die die Telekommunikation unter anderem für die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und den Europäischen Rat übernimmt.
Da könnte man noch sagen, dass es eine unschöne Sache unter Freunden war, und alle so etwas tun. Aber das GCHQ hat auch Amnesty International infiltriert und überwacht.
Das GCHQ hat Möglichkeiten, digitale Schmutzkampagnen gegen Feinde zu fahren.
Und kennt auch SIM- und Kreditkartennummern, was es natürlich leicht macht, solche Kampagnen zu fahren.
Wenn sich das kompromittierende Material mal nicht in den Emails von Journalisten finden lassen sollte.
Wissen, wer Webradios, Pornoseiten und Chats mit welchem Passwort benutzt hat? Kein Problem für das GCHQ, ist alles zur Abwehr des islamistischen Terrors gespeichert.
Natürlich sind auch Antivirenhersteller, deren Produkte Angriffe aufspüren könnten, nicht ausgenommen.
Schliesslich hat man beim GCHQ eigene Viren, die ungestört ihre Arbeit tun sollen.
Am Parlament vorbei läuft die Massendatenspeicherung übrigens schon seit anderthalb Jahrzehnten.
Und manche Mitarbeiter bedienen sich gern auch mal privat aus den Beständen.
Währenddessen sehen deutsche Ministerien die Aufklärungsmöglichkeiten als “erschöpft“ an – die Briten haben damit gedroht, deutsche Dienste von den Informationen abzuschneiden. Und Versuche von Bürgerrechtlern, die Angriffe des GCHQ aufzuklären, werden von den Briten fast immer torpediert, etwa indem Gesetze passend zurecht gebogen werden.
Und obendrein leistet sich die Regierung in London jetzt ein Internetüberwachungsgesetz, das 12 Monate Vorratsdatenspeicherung und Angriffe auf Kryptographie legitimieren soll.
Und es liefert nach all den Skandalen auch eine VoIP-Verschlüsselung, die das nachträgliche Abhören von Gesprächen erlaubt.
Ohnehin sieht das GCHQ seine Zukunft an Seiten der USA und ihrer Dienste, mit denen es vom Boden der EU aus noch enger zusammen arbeiten will.
Und es ist absehbar, dass diese Sonderrolle des GCHQ als fünfte Kolonne der amerikanischen Geheimdienste in Europa bestehen bleibt, egal welche Regierung in London öffentlich Solidarität mit den europäischen Werten beschwört.
Man liest viel vom gemeinschaftlichen europäischen Haus: Wenn es das gäbe, stünde der Stalker und Schnüffler GCHQ längst mit seinen Erziehungsberechtigten vor einem Gericht. Wenn Politiker, die so etwas parteiübergreifend tun, fördern, finanzieren und abnicken, durch den freien Willen des eigenen Volkes vor die Tür gesetzt werden, und nicht mehr Teil der EU sind, ist das aus Sicht des Datenschutzes zuerst einmal der Ausschluss eines inneren Feindes, der kaltschnäuzig Eigeninteressen über die gemeinsamen Grundwerte stellt. Und es ist ein schwerer Schlag für die kontinentalen Überwachungs- und Kontrollbefürworter, die mit den Briten einen wichtigen Verbündeten beim Abbau von Grundrechten haben. Wie etwa jene Zeitgenossen in der EU-Kommission, die dafür gerügt werden, dass sie den Briten – vermutlich aus Rücksicht auf die Verbündeten bei der Abwehr des Brexit – nicht endlich in Sachen digitale Bürgerrechte auf die Füsse steigen.
Es gibt offen ausgetragene Debatten, ob man Griechenland wegen seiner Defizite aus dem Euroraum werfen sollte. Es gibt offene Überlegungen und Massnahmen, wie man Polen und Ungarn wegen ihrer Politik gegenüber der Opposition, Minderheiten und Grundlagen des Rechtsstaates über die EU disziplinieren kann. Aber wenn es um den grössten Spionageskandal der westlichen Welt geht, hüllt man sich in Schweigen und arrangiert sich mit den Schuldigen, um von den Briten eine Zustimmung für die EU in ihrer jetzigen, erkennbar reformbedürftigen Form zu erhalten. Dieser Deal der Mächtigen hat mit der Magna Carta so viel zu tun wie ein Fallrohrabort in Agrigent mit den römischen Bädern. Man sollte sich also nicht wundern, wenn Datenschützer auch in der EU, die sich von den Briten in dieser Sache öffentlich bekoten lässt, oftmals eher eine Kloake denn einen Ort der Reinigung erkennen.