Es gibt Geschichte, die keinen stört, egal wie grausam sie ist. Wer seinen Tee aus einer massiv silbernen Kanne des Empire trinkt, kann davon ausgehen, dass das Basismaterial unter menschenmordenden Bedingungen in Mittelamerika in Potosi und anderen Gruben gewonnen wurde. Die Menschen wurden da auf übelste Weise verheizt, und nachdem man die indigene Gesellschaft ausgerottet hatte, importierte man für diesen Zweck Sklaven. Wer seinen Tee aus einer massiv silbernen Kanne des edwardianischen Zeitalters, also vom Beginn des 20. Jahrhunderts trinkt, hat gute Chancen, dass das Silber immer noch aus Potosi kam, aber für den Handel mit China verwendet und später durch den Einfuhr von Opium und anderer Güter des britischen Imperiums auf hässliche Art zurück geholt wurde. Man kann diese Geschichten überzeugten Linken über diese Teekannen hinweg erzählen, ohne dass sie fordern, man möchte doch bitte den Tee aus einer Rosenthalkanne servieren.
Das Empire ist historisch betrachtet weit weg, Potosi ist weit weg, das edwardianische Zeitalter hat kein heute noch lebender Mensch bewusst erlebt, und so ist es auch nicht erstaunlich, dass niemand den Abriss meines Hauses fordert, von dem aus der Katholizismus nach der Lutherketzerei erneut im Boden des Deutschen Reiches mit Wort und Krieg verankert wurde. Denn auch der 30-jährige Krieg und die Theologie der Jesuiten ist lange her, und niemand geht davon aus, dass die Bücher der Gesellschaft, die ich hier sammle, mich irgendwie beeinflussen würden. Hin und wieder übe ich mein Latein daran, aber das bringt mich nicht dazu, mich auf offener Strasse zu geisseln, wie das Bürger der Stadt hier vor 250 Jahren zum grösserem Ruhme Gottes und zur Ergötzung der Jesuiten noch taten. Auch der Gebrauch von Silberkannen bedeutet nicht, dass ich deshalb die Wiedereinrichtung von Kolonien fordern würde – selbst wenn eine dieser Kannen laut Inschrift in einem Kolonialregiment verschenkt wurde.
Und ich kann das hier auch ganz offen schreiben – niemand bei einem Konkurrenzblatt wird auf diesem Bekenntnis einen Skandalartikel über mich verfassen. Es ist zu lange her, es hat vielleicht noch eine historische, aber keine aktuelle, moralische Dimension mehr. Ich schreibe diese Geschichten an gebraucht gekauften, veralteten EEEPCs, währen die Geschíchten vieler Autoren heute an brandneuer Markenware von Apple entstehen, mit denen Zeitgenossen in China wie im Kolonialismus ausgebeutet werden. Wenn ich darüber schreibe, dass sie es tun, regt sich auch keiner auf – denn alle tun es. Wir haben uns mit gewissen Formen des Unrechts arrangiert und uns auf andere, beklagenswerte Formen des Unrechts geeinigt. Der Muslim bewirft einen Felsbrocken bei Mekka mit Steinen, der Deutsche findet das ultimativ Böse, mit gutem Recht, in der Zeit des Nationalsozialismus. Von 1933 bis 1945.
Wenn meine Grossmtter, die sich in der Stadt blendend auskannte, über jemanden sagte “Des is a Nazi”, dann meinte sie, das ist ein früheres Mitglied der NSDAP, das heute immer noch revisionistischen Gedanken nachhängt. Wenn sie sagte “Der war bei der Partei”, war es auch nicht schön, weil derjenige eben bei der Partei war, aber eben nur bis 45 und danach nicht mehr. Bei der Partei und ihren Unterorganisationen waren viele, und sie starben im Laufe der Jahrzehnte alle weg. Wer 1944 noch Mitglied der Partei werden wollte und über 18 war – was man als Jugendsünde in einer verblendeten und verhetzten Epoche sehen kann – ist heute mindestens 91 Jahre alt.
Echte Nazis im Sinne der NSDAP-Weiterführung gibt es nicht mehr, wie es auch keine echten Nazijäger mehr gibt. In den 40ern gab es die Nürnberger Prozesse der Alliierten, in den 60ern wurde Auschwitz gegen den Widerstand vieler Deutscher juristisch halbwegs aufgearbeitet, in den 80ern beschäftigte man sich unter Protesten und nicht freiwillig mit der Rolle der Wehrmacht, und in diesem Jahrzehnt kann es jemanden passieren, dass er wegen einer subalternen Rolle am Rande des Grabes noch einmal für Taten zur Rechenschaft gezogen wird, die er nach heutigem Verständnis unter Jugendstrafrecht begangen hat. Rückblickend muss man beim Blick auf die Karrieren deren, die Nazis oder bei der Partei waren, leider sagen: Man hat viele, viel zu viele laufen und wieder nach oben kommen lassen. Aber die sind zumeist tot, wie auch jene, die ihren Wiederaufstieg zugelassen haben. Und weil sie alle tot sind, geht man auch kein Risiko mehr ein, wenn man sie kritisiert. Das macht die Nazijagd 72 Jahre nach Ende des Krieges auch so beliebt.
Die letzte grosse, überregionale Jagd auf Nazi fand letzte Woche bei der SZ mit hohem Belastungseifer auf kleinem Anlass statt. Da hatten es zwei Kapellen aus Tirol gewagt, beim Trachtenzug in München beim Oktoberfest einen Marsch des Komponisten Sepp Tanzer zu spielen. Der hatte den “Standschützen-Marsch” 1942 auf Basis eines alten Volkslieds der k.u.k.-Monarchie komponiert und dem damaligen Gauleiter in Tirol gewidmet. Auch sonst findet man zu Tanzer bei Wikipedia einiges Unschönes, was vermutlich die Basis des Beitrags in der Süddeutschen Zeitung ist. Man liest bei Wikipedia, dass Tanzer einmal für Hitler dessen Lieblingsmarsch dirigierte, und es gibt den Verdacht, dass er auch nach 1945 Codes der Nazis in seiner Musik versteckte. Beschäftigt man sich tiefer mit der Person, kommt freilich heraus, dass er auch schon bis 1938 den Austrofaschisten diente, und am 1. Mai 1946 dann hinter der rotkommunistischen Fahne marschierte. Natürlich ist der Standschützenmarsch belastet, denn die Tiroler Schützen wurden von den Nationalsozialisten vereinnahmt und mit derartigem Liedgut propagandistisch benutzt. Das betraf aber nicht nur Sepp Tanzer, sondern auch alle Blasmusikkapellen und Trachtenvereine. Und nicht nur in Tirol, sondern im ganzen Reichsgebiet.
Tirol ist da ein Sonderfall, weil diese Form des Brauchtums immer einen hohen Stellenwert im Land hatte, und bis heute eine Stütze der dort regierenden ÖVP ist. Deshalb hat man sich lange, sehr lange nicht mit der Geschichte befasst. Tanzer und ähnlich engagierte Parteimitglieder stiegen nach dem Krieg wieder auf, komponierten fleißig weiter, und würde man heute jedes Musikstück aussortieren, das von einem dieser Herren komponiert würde, bliebe nicht viel übrig, was bei Schützenaufmärschen noch spielbar wäre. Das Vertuschen ist übrigens keine Tiroler Spezialität – in München zum Beispiel verliert die SZ auch kein Wort darüber, dass der Einmarsch der Festwirte auf dem Oktoberfest in seiner heutigen Form auf das Jahr 1935 und Parteirepräsentation zurückgeht. Die Zillertaler Musikanten, die Tanzer gespielt haben, hatten nur das Pech, dass gerade an diesem Stück und diesem Komponisten eine innertiroler Debatte um die NS-Zeit geführt wird – auch, weil manche ein Interesse daran haben, die im Land verankerte ÖVP und die angeschlossenen Gruppierungen schlecht aussehen zu lassen. Und was im Zillertal beim Fest eines Jubilars noch möglich ist, oder bestenfalls kritisch gesehen wird, wird in München unter den strengen Vorgaben und Netzrecherchekünsten der SZ zum Naziskandal. Auch wenn der Marsch nicht verboten ist. Sollte beim Trachtenmarsch oder auf dem Fest übrigens der höchst beliebte Marsch “Gruss an Oberbayern” gespielt worden sein – der hiess früher “Gruss an den Obersalzberg“.
Diese auch in Österreich gepflegte Form der undifferenzierten Auseinandersetzung an symbolischen Beispielen hat mit ihrer teilweise extrem verbissenen Form übrigens nicht dazu geführt, dass sich die FPÖ als Nachfolger der Nazis oder die ÖVP als Nachfolger der Austrofaschisten unter die 5%-Marke drücken ließen. Diese Marke droht momentan eher den dortigen Grünen, die verdienstvoll Jahrzehntelang am Lack des angeblich ersten Opfers der Nazis gekratzt und all die hässlichen Geschichten von den wilden “Arisierungen” über die “Aktion T4” mit Beteiligung eines späteren SPÖ-Mitglieds bis zu den Kriegsendverbrechen in der Debatte gehalten haben. ÖVP und FPÖ haben gemeinsam den Eurofighterskandal zu verantworten, Haiders BZÖ hat das Land mit der Hype-Alpe-Adria an den Rand der Insolvenz gebracht – und trotzdem stehen die beiden Parteien mitsamt ihrer Vorgeschichte vor Wahlsiegen. Man könnte also durchaus zum Schluss kommen, dass fast schon rituell vorgetragene Nazivorwürfe aus dem roten Wien ins schwarze Tirol und in andere ländliche Regionen allein nicht ausreichen, um Gegner wirksam zu bekämpfen: Sie nützen sich ab, und die andere Seite spielt vielleicht ab und zu einen belasteten Marsch, gewinnt aber die Wahlen.
In Österreich kennt man das, in Deutschland wird man das System auch morgen vielleicht verstehen lernen. Wenn die Beschimpfung einer Partei mit großzügig historisch ausgeweiteten und belasteten Begriffen etwas bringen würde, dürfte die AfD morgen auf keinen Fall mehr als 5% erhalten. Wenn sie es doch tut – und dafür spricht momentan alles – muss man davon ausgehen, dass diese Zuschreibung nicht mehr funktioniert. Es ist auch nicht sonderlich überraschend, wenn “Nazi” schon bei einem Musikstück beginnt, das weder “Bomben auf Engelland” fordert, noch davon erzählt, dass der Panzer ein eisernes Grab werde, sondern in seiner Blasmusikform wie jedes andere ein austauschbare Stück kitschige Pseudoheimatmusik klingt. Niemand wird heute beim Anhören des schmissigen Gedudels rechts indoktriniert. Nicht einmal im Forum des linksliberalen Standard gibt es für die deutsche Einschätzung ungeteilte Zustimmung. Aber der Beitrag “Zillertaler Musikanten spielen von einem bestenfalls mittelprominenten Anpasser mit allenfalls regionaler Bedeutung, der hinter jeder Fahne lief, solange es ihm half, blöderweise gerade den einen einzigen Marsch, der in einer innertiroler Debatte aufgearbeitet und jetzt kritisch gesehen wurde, aber bis vor 10 Jahren kaum einen gejuckt hat, und der vermutlich schon hundertmal auch in München gespielt wurde, nur hat es damals keiner gemerkt, und unsere eigenen braunen Seppl haben wir auch noch nicht voll aufgearbeitet” würde wohl kaum geklickt werden. Nazi muss sein, um moralische Relevanz und Aufmerksamkeit zu erreichen. Rechtspopulistisch zieht nicht mehr, Rechtsradikal zieht nicht mehr, “Nazi-Schlampe” ist auch durch den NDR schon verbraucht, also muss es jetzt der Nazi-Marsch sein, damit noch Aufmerksamkeit erzeugt wird. Moralische Überlegenheit wird nicht mehr durch historisch-kritische Analyse und Differenzierung erreicht, sondern durch maximal belastete Vorwürfe.
Es ist wenig überraschend, wenn das auf der anderen Seite nicht mehr ernst genommen wird. Und es hilft der anderen Seite, weil mit der Aufbauschung von Lappalien zum Nazi jeder andere, der sich ernsthaft mit Fragen von Rechtspopulismus auseinander setzen will, bei dem Gebrüll in maximaler Lautstärke nicht mehr durchdringt. In Bayern plakatiert die AfD möglicherweise durchaus zutreffend, dass Franz Josef Strauss die AfD und nicht die CSU gewählt hätte. Die 80er unter Strauss, die ich selbst noch erlebt habe, waren schlimm und bedrückend genug. Es ist eine Epoche, in die auch die CSU aus guten Gründen nicht zurück möchte: Bigott, brutal, zynisch und bis ins Mark korrupt. Damals war die CSU noch eine Staatspartei, die sich alles leisten konnte. Da müsste, da könnte man ansetzen, da gibt es genug, was man dieser neuen Partei und ihren Zielen vorhalten könnte – selbst wenn man in dem ein oder anderen Punkt zugestehen müsste, dass nicht jeder Aspekt dieser Epoche grundfalsch war und differenziert betrachtet werden muss. Das würde aber bedeuten, dass man auf eine Sachebene zurück kehrt und sich einer Diskussion stellt, die keine absolute Moral mehr kennt.
Wir schaffen das durchaus sachlich bei Teekannen aus Mördersilber, bei Produkten von Apple, bei der katholischen Kirche und beim Raubbau in der Dritten Welt, und ziehen ohne demonstrative Empörung die richtigen Schlüsse. Aber bei der AfD ist es den Medien gelungen, diese Wahl durch den moralischen Anspruch auch zu einem Plebiszit über ihre eigene Glaubwürdigkeit zu machen, und ich fürchte, wir werden dieses Plebiszit am Sonntag krachend und nicht ohne eigene Schuld verlieren.