Überdruck

Überdruck

Die Liebe zum Gedruckten lässt Menschen auf der Frankfurter Buchmesse wahre Torturen ertragen: Lesungen in schlecht belüfteten Räumen, Herumrennen

Wirtschaftsfaktor Frauenschicksal

| 22 Lesermeinungen

Auf der Eröffnungsveranstaltung erhalte ich Antworten auf brennende Fragen hinsichtlich des Buchpreises und bin völlig unerwartet einer Meinung mit einer Person, mit der ich eigentlich nie einer Meinung bin. Und schuld daran ist Roland Koch.

Gestern noch habe ich gemutmaßt, wie Juryentscheidungen zum Deutschen Buchpreis zustandekommen, heute schon bin ich klüger. Und zwar rein zufällig, denn bei der Buchmesse-Eröffnung setzte sich ausgerechnet ein Jurymitglied direkt hinter mich und hob an, der Sitznachbarin zu erklären, was es mit den Shortlist-Autoren auf sich hat.

Also Herta Müller, das sei letztendlich nicht gut, so befand das Jurymitglied. Immer wieder diese Vertreibung, diese ganzen Metaphern, puh. Es gebe viele, die so denken, aber die ganzen Offiziellen sagen das natürlich nicht. Manche grüßten einen deshalb nichtmal mehr und hackten in jedem Text auf einem rum, so beschwerte es sich hinter mir. Aber die Gewinnerin, Kathrin Schmidt, das sei eine tolle Autorin, eine tolle Frau, tolle Bücher. Die Krankheit, die Sprache, alles. Dann gebe es noch, ach ja, Rainer Merkel, auch toll. Clemens Setz, genialisch, aber zu genialisch. Genau das sagte es hinter mir wirklich, das ist der natürliche, unredigierte Zustand der deutschen Literaturkritik, wie er sich im unbefangenen Gespräch äußert. Und Norbert Scheuer, das sei so ein Natur-Ding, Dorfgeschichte, aber ganz viel Natur, naja. Und schließlich der Thome, Dorfgeschichte, aber eben nicht so viel geschichtliche Wucht wie die Schmidt, die ja auch ein Frauenschicksal erzählt. Beim Thome gebe es zwar auch Frauen, aber mehr nur so Hausfrauen.

Ungefähr an dieser Stelle wäre ich gern aufgestanden und hätte dem Jurymitglied die Meinung gesagt, aber ich war natürlich zu höflich oder zu feige, was in diesem Moment aufs Gleiche hinausläuft, und beschränkte mich auf ein tiefes Seufzen. Ich hätte gern gesagt, daß Frauenschicksale nicht per se mehr wert oder preiswürdiger sind als Männerschicksale, dagegen möchte ich als Frau mich bitteschön verwehren, ich habe keine Lust, mein biologisches Geschlecht auf diese geisteswissenschaftlich unlautere Weise verteidigt zu sehen, und genau das sind solche Argumentationen: unlauter, bloße Cliquenwirtschaft unter geschlechtergetrennten Grüppchen. Aber immerhin wurde mir nun einiges klar hinsichtlich der Preisträger vergangener Jahre, es wird also klassifiziert in Dorfgeschichten und politische Geschichten mit oder ohne Natur und mit oder ohne Frauen.

Bild zu: Wirtschaftsfaktor Frauenschicksal

Aber nun kamen die Ehrengäste, ein großes Geschiebe an der Pressefront ging los, dann wurde es dunkel und die Redner traten ans Pult und redeten. Bücher sind gut, Google ist böse, China ist willkommen, aber die Meinungsfreiheit ist auch wichtig. Den Gipfel der Flachheit, um dieses schöne Oxymoron wieder einmal anzubringen, bildete die Rede von Roland Koch, der jovial am Pult herumschaukelte und von Wirtschaftsfaktor und Wohlstand faselte. Was dem Kohl die Gechichte war, ist dem Koch der Wirtschaftsfaktor, das ist übriggeblieben von all den schönen Utopien. Vermutlich hat Roland Koch nur eine Rede, in der er bei Bedarf Landebahn durch Buch ersetzt. Als er gerade bemerkte, das mit dem Gastland sei ja nicht immer einfach, denn nichts sei einfach, warum sollte es dann das Gastland sein, nudge nudge, wink wink, say no more, da seufzte ich in mich hinein und hinter mir seufzte das Jurymitglied laut und vernehmlich und stieß aus tiefstem Herzen ein fürchterlich aus. Der Bullshit muß nur monströs genug werden, dann sind sogar Jurymitglieder mit Vorlieben für literaturgewordene Frauenschicksale und ich wieder einer Meinung.


22 Lesermeinungen

  1. fraudiener sagt:

    Reiterjunge, da wird die...
    Reiterjunge, da wird die gesamte politische Nahrungskette eingeladen: Bürgermeisterin, Ministerpräsident, Bundeskanzlerin. So gesehen sind vermutlich 90 Prozent der öffentlichen Auftritte von Politikern nichts als Folklore.

  2. Reiterjunge sagt:

    Wer hat denn den Roland Koch...
    Wer hat denn den Roland Koch eingeladen und warum ?
    Weil er wichtig ist, die Buchmesse auch wichtig sein möchte – oder ist es umgekehrt ?
    Der Mann ist Jurist mit Parteikarriere, welchen Beitrag erwartet man dann zu einer Buchmesse ?
    Ich denke das ist einfach nur Folklore.

  3. Remington sagt:

    Ich wollte schon mal einen...
    Ich wollte schon mal einen Artikel über die Frauenbuchregale einer Bibliothek schreiben und dabei den Stoßseufzer erwähnen, der mich beiläufig auf der Buchmesse 06 traf: „S´sind nu ma siebzsch Prozent der Leser Frauen, ham einfach mehr Zeit als Männer, da müschmer uns anpasse…“
    Ich lasse es lieber.

  4. fraudiener sagt:

    Es scheint aber eine ganze...
    Es scheint aber eine ganze Menge Publikum für so Zeugs zu geben. Unter den Nachbarinnen meiner Mutter wird mittlerweile die Tochter der Großcousine dritten Grades der Wanderhure durch die Wohnzimmer gereicht. Da kann man auch gar nicht viel gegen sagen, ist halt Unterhaltung. Schlimm wird es aber dann, wenn es mehr sein will als das, wenn es den Anspruch aufstellt, Literatur sein zu wollen, sich aber der gleichen Klischees bedient. Und erst recht dann, wenn Kritiker daherkommen und das gar nicht schlimm finden, sondern sogar erwarten. Und richtig finster wird es, wenn gute Literatur mit dem Eichmaß des Schundromans vermessen wird. Das ist hier passiert.

  5. schusch sagt:

    So eine Ansprache von RoKo...
    So eine Ansprache von RoKo habe ich auch mal gehört. Da gings aber um Bildung. Entweder hat der Redenschreiber von ihm eine leichtes Leben, einfach mal die Serienbriefvorlage doppelt geklickt, oder RoKo hat keinen solchen.
    Wir haben halt den Ministerpräsidenten, den wir verdienen. Und den Bundeskanzler (Amtsbezeichnung), ….

  6. Jeeves sagt:

    Ariadne ... meint, sie "glaube...
    Ariadne … meint, sie „glaube ja, dass es eine Art Bedienungsanleitung „Wie schreibe ich einen erfolgreichen Frauenroman“ gibt, die von den Autoren Punkt für Punkt abgearbeitet wird.“
    Vielleicht hier? —> https://juttas-schreibtipps.blogspot.com/

  7. Ariadne sagt:

    @ aha. Und für die ganz...
    @ aha. Und für die ganz Schmerzfreien wird noch ein Vampir untergemischt. Bram Stoker würde im Grab rotieren…
    Wenn ich diese ganzen Schwarten in der Buchhandlung sehe (wo sie den richtigen Büchern den Platz wegnehmen), habe ich immer irgendwie das Verlangen, die Autorinnen mit „Vom Winde verweht“ zu erschlagen. Denn das ist (abgesehen von den Klassikern, die aber offenbar gar niemand mehr liest) der Maßstab!

  8. aha sagt:

    Jaja, der Frauenroman, gerne...
    Jaja, der Frauenroman, gerne historisch angehaucht. Titel (wie in der Anleitung vorgeschlagen) Die (Berufsbezeichnung hier einsetzen)in. Die Geschichte verkommt zur Kulisse. Denn, dass sich die werte Heldin auch geistig in der gewählten Epoche befindet, würde entweder zuviel Phantasie oder Recherche benötigen. Außerdem müsste dann wahrscheinlich auf den Warnsatz: „Eine mutige Frau findet ihren Weg in einer schweren Zeit“ verzichtet werden.

  9. fraudiener sagt:

    muscat etc, ich muß zugeben,...
    muscat etc, ich muß zugeben, daß die Rede von Frau Merkel erheblich besser war. Die sprach aus eigener Zensurerfahrung und von der Freude, wenn jemand Westbücher in die Zone schmuggelte und schlenkerte dann elegant zum Gastland über. Vielleicht hat sie auch einen sehr guten Redenschreiber, keine Ahnung, aber die hat dem Koch gezeigt, wie man sowas macht. (Ganz ohne Frauenschicksalsbarmerei.)
    .
    Ju, Buchpreise werden gern von Suhrkamp gewonnen, da hat es sich ausgefeiert. Obwohl ich nicht en detail weiß, was beim Kritikerempfang so gereicht wird.

  10. Marc sagt:

    "Vermutlich hat Roland Koch...
    „Vermutlich hat Roland Koch nur eine Rede, in der er bei Bedarf Landebahn durch Buch ersetzt.“
    Das würde viele seiner frei gehaltenen Reden erklären. Ein Architekt berichtete mir mal, dass Koch auf einer Bauveranstaltung so gesprochen hätte, als habe Koch (er ist Jurist) Architektur studiert.

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