Gestern noch habe ich gemutmaßt, wie Juryentscheidungen zum Deutschen Buchpreis zustandekommen, heute schon bin ich klüger. Und zwar rein zufällig, denn bei der Buchmesse-Eröffnung setzte sich ausgerechnet ein Jurymitglied direkt hinter mich und hob an, der Sitznachbarin zu erklären, was es mit den Shortlist-Autoren auf sich hat.
Also Herta Müller, das sei letztendlich nicht gut, so befand das Jurymitglied. Immer wieder diese Vertreibung, diese ganzen Metaphern, puh. Es gebe viele, die so denken, aber die ganzen Offiziellen sagen das natürlich nicht. Manche grüßten einen deshalb nichtmal mehr und hackten in jedem Text auf einem rum, so beschwerte es sich hinter mir. Aber die Gewinnerin, Kathrin Schmidt, das sei eine tolle Autorin, eine tolle Frau, tolle Bücher. Die Krankheit, die Sprache, alles. Dann gebe es noch, ach ja, Rainer Merkel, auch toll. Clemens Setz, genialisch, aber zu genialisch. Genau das sagte es hinter mir wirklich, das ist der natürliche, unredigierte Zustand der deutschen Literaturkritik, wie er sich im unbefangenen Gespräch äußert. Und Norbert Scheuer, das sei so ein Natur-Ding, Dorfgeschichte, aber ganz viel Natur, naja. Und schließlich der Thome, Dorfgeschichte, aber eben nicht so viel geschichtliche Wucht wie die Schmidt, die ja auch ein Frauenschicksal erzählt. Beim Thome gebe es zwar auch Frauen, aber mehr nur so Hausfrauen.
Ungefähr an dieser Stelle wäre ich gern aufgestanden und hätte dem Jurymitglied die Meinung gesagt, aber ich war natürlich zu höflich oder zu feige, was in diesem Moment aufs Gleiche hinausläuft, und beschränkte mich auf ein tiefes Seufzen. Ich hätte gern gesagt, daß Frauenschicksale nicht per se mehr wert oder preiswürdiger sind als Männerschicksale, dagegen möchte ich als Frau mich bitteschön verwehren, ich habe keine Lust, mein biologisches Geschlecht auf diese geisteswissenschaftlich unlautere Weise verteidigt zu sehen, und genau das sind solche Argumentationen: unlauter, bloße Cliquenwirtschaft unter geschlechtergetrennten Grüppchen. Aber immerhin wurde mir nun einiges klar hinsichtlich der Preisträger vergangener Jahre, es wird also klassifiziert in Dorfgeschichten und politische Geschichten mit oder ohne Natur und mit oder ohne Frauen.
Aber nun kamen die Ehrengäste, ein großes Geschiebe an der Pressefront ging los, dann wurde es dunkel und die Redner traten ans Pult und redeten. Bücher sind gut, Google ist böse, China ist willkommen, aber die Meinungsfreiheit ist auch wichtig. Den Gipfel der Flachheit, um dieses schöne Oxymoron wieder einmal anzubringen, bildete die Rede von Roland Koch, der jovial am Pult herumschaukelte und von Wirtschaftsfaktor und Wohlstand faselte. Was dem Kohl die Gechichte war, ist dem Koch der Wirtschaftsfaktor, das ist übriggeblieben von all den schönen Utopien. Vermutlich hat Roland Koch nur eine Rede, in der er bei Bedarf Landebahn durch Buch ersetzt. Als er gerade bemerkte, das mit dem Gastland sei ja nicht immer einfach, denn nichts sei einfach, warum sollte es dann das Gastland sein, nudge nudge, wink wink, say no more, da seufzte ich in mich hinein und hinter mir seufzte das Jurymitglied laut und vernehmlich und stieß aus tiefstem Herzen ein fürchterlich aus. Der Bullshit muß nur monströs genug werden, dann sind sogar Jurymitglieder mit Vorlieben für literaturgewordene Frauenschicksale und ich wieder einer Meinung.
Ja, eine solche...
Ja, eine solche Serienbrief-Rede hat Herr Koch bereits seit Jahren erstellt. Ich hatte so etwas ähnliches von ihm gehört, nur dass er aus der Spalte mit dem Oberbegriff „Buzzwort“ zum Terminus „Bildung“ (statt „Landebahn“ oder „Buch“) gegriffen hat.
(Jetzt kommen übrigens mehrere Kommentare meinerseits, denn bis jetzt hatte ich noch wenig Zeit online zu sein)
Ich finde ja, es gehört zur...
Ich finde ja, es gehört zur blogjournalistischen Sorgfaltspflicht, den Namen des belauschten Jurymitglieds bei ebendiesem zu nennen. Ich will mir nämlich fortan bei seinen/ihren Kritiken den Teil, den sie verschweigen, denken können.