Überdruck

Überdruck

Die Liebe zum Gedruckten lässt Menschen auf der Frankfurter Buchmesse wahre Torturen ertragen: Lesungen in schlecht belüfteten Räumen, Herumrennen

Das Menschenbild zwischen Bier und Buch

| 32 Lesermeinungen

Herta Müller ist anscheinend von ihrem Infekt genesen und nun doch auf der Buchmesse, was für Menschenballungen sorgt. Ebenso das tschechische Bier bei Kunstmann und der Sekt bei Wagenbach. Und am Vorabend bei Rowohlt ballt es sich sowieso immer.

Bild zu: Das Menschenbild zwischen Bier und Buch

Am eher unscheinbaren Stand der chinesischen Epoch Times in Halle 3.1 ist die Hölle los. Schon eine gute Viertelstunde vorher ballen sich hier die Massen, denn alle wollen Herta Müller sehen. Dann kommt sie, schiebt sich durch den Pulk und berichtet von den Ideologien der Diktaturen, die immer so seltsame Menschenbilder ausformen, den Sowjetmenschen, den sozialistischen Menschen, und daß sowas nie gutgeht, weil es solche Menschen nicht geben kann. 

Da klingelt das Telefon und Holgi ruft an, der ein Radiomensch ist, kein Büchermensch, und sich treffen will. Mensch! sagt er, als er nach einer halben Stunde Orientierungslosigkeit endlich den FAZ-Stand gefunden hat. Die sind hier ja alle wahnsinnig gut angezogen, diese Verlagsmenschen! In dieser Branche wolle er auch arbeiten, wenn die alle so nett aussehen. Warum eigentlich, frage ich, sehen Literaturmenschen immer so viel besser angezogen aus als etwa Musiker, obwohl beide mit abstrakten Zeichensystemen zu tun haben? Es ist uns ein Rätsel, auf das wir keine Antwort finden.

Übrigens, so bekomme ich berichtet, sei das meistgeklaute Buch der Leipziger Buchmesse Sarah Kuttners „Mängelexemplar“ gewesen. Sie ist ja auch keine Schriftstellerin, sondern ein Medienmensch, sie muß sich nicht erst aus dieser kleinen Literaturwelt hinaus Gehör verschaffen, da hat man es leichter. Nun werden Wetten angenommen, was das meistgeklaute Buch der momentanen Frankfurter Buchmesse sein wird. Ich wette, der Autor wird entweder Frank Schätzing oder Dan Brown heißen, was jetzt nicht sonderlich überraschend wäre, aber wenigstens werden die beiden sich ein spannendes Duell auf der Zielgeraden liefern. Denn geklaut wird ja vor allem am Wochenende, vom Publikum, und was der Bauer nicht kennt, das klaut er nicht. Ich würde lieber „Loslabern“ klauen, habe aber Skrupel, weil es Suhrkamp auch so schon schlecht genug geht. Außerdem ist es ein bißchen dünn, und wenn klauen, dann was richtig dickes, sonst lohnt es sich nicht.

Ich bin Rainald Goetz auch ein bißchen grantig, er ist gestern dauernd auf meiner Handtasche rumgetrampelt. Gut, es war eng bei Rowohlt im Schirn-Table, trotzdem, das muß man doch merken, wenn man auf jemandes Handtasche steht. Ich bin dann immer weiter zurückgewichen, er und seine Gesten wurden dagegen immer raumgreifender. Anscheinend bin ich die einzige im Raum, die in seinem Buch Loslabern nicht vorkommt, denn so gut wie jeder weiß eine Goetz-Anekdote von sich zu erzählen. Bevor es bei Rowohlt dann noch richtig blutig wurde und sich jemand mit mehr Alkohol als Hirn im Schädel ebendenselben aufschlug, war ich schon weg. 

Bild zu: Das Menschenbild zwischen Bier und Buch

Dennoch ist mir ein wenig schwummrig heute auf der Messe, dabei ist erst der zweite Tag, und wanke etwas kopfwund durch die Gänge. Dann stoßen Holgi und ich schon wieder auf eine Verdichtung gutangezogener Menschen, das ist die Standparty bei Kunstmann und Wagenbach, da gibt es tschechisches Bier, das heißt Staropramen. Was machen die hier? fragt er. Die glühen vor, erkläre ich, bevor es am Abend dann richtig zur Sache geht. Es geht jeden Abend zur Sache, und Buchmenschen brauchen immer etwas mehr Alkohol, um sich innerlich zu lockern. Es ist vielleicht ein ganz eigener Menschenschlag, der hier durch die Gänge eilt, aber diese Menschen haben sich von selbst ausgeformt, sie sind nicht von jemandem verordnet worden oder gehorchen einer Ideologie. Sie lesen alle entsetzlich viel, das ist alles.


32 Lesermeinungen

  1. fraudiener sagt:

    Julius, ach, die Luft, die...
    Julius, ach, die Luft, die Menschen, der Sekt bei Klett Cotta. Suchen Sie sich eine Entschuldigung raus. Vermutlich aber eine Mischung aus alldem.

  2. fraudiener sagt:

    swina, den Reiz macht...
    swina, den Reiz macht vermutlich die schiere Masse aus. Man ist in den ersten fünf Jahren völlig erschlagen, dann beginnt man zu selektieren, weiß, wer wo steht, sucht gezielter. Inzwischen kenne ich mich gut genug aus (ungefähr 20. Messe), daß ich nicht mehr groß nachdenken muß, wer oder was wo zu finden ist, das erleichtert die Sache ungemein. Vor allem trifft man dort Menschen, die man nur ein oder zweimal im Jahr sieht. Oder lange nicht gesehen hat.
    Und man entdeckt immer etwas neues. Heute etwa war ich an einem Ort, den ich bislang noch nicht kannte. Der bekommt einen eigenen Eintrag, weil es dort so interessant war. Das ist wie eine temporäre Stadt aus lauter Büchern, die nur einmal im Jahr für einige Tage aufgebaut wird, einfach unglaublich riesig, völlig erschlagend, krankmachend, überwältigend, aber ohne Buchmesse ist ein Jahr nicht vollständig, es gehört für mich unbedingt dazu.
    .
    Paulchen, ich dachte auch an Kurzurlaub. Zumindest irgendeine Art von Wellness, um mal dieses häßliche Wort zu verwenden.

  3. Julius sagt:

    Savall, glauben Sie kein Wort....
    Savall, glauben Sie kein Wort. Laufbänder brauchen keine Buchmessenkarten. In der Regel lehnen sie die sogar kühl ab.

  4. fraudiener sagt:

    Anderl, Rowohlt ist ein...
    Anderl, Rowohlt ist ein geradezu legendärer Trinker. Zwar feiern Buchmenschen immer besonders hart, aber er setzt da schon Maßstäbe. Oder setzte. Jetzt ja nur noch viermal im Jahr.
    .
    Reiterjunge, das wäre bestimmt mal interessant. Ich war ja letztens schon auf der IAA, aber noch nie auf einer völlig fachfremden Messe, auf der Dinge herumstehen, von denen ich nichtmal weiß, wie herum man sie hält. Und ob man sie überhaupt hält.
    .
    Savall, ich stand heute mit meinem Vater auf dem Laufband, dem ich eine Buchmessenkarte besorgt hatte. Weil es von hinten strömte, meinte ich: Achtung! Rechts stehen, links gehen. Er war nahezu empört: Ich weiß, ich bin ja nicht vom Ort.
    Der souveräne Großstädter hält das also für eine Selbstverständlichkeit, egal in welchem Alter, und unterscheidet sich dadurch vom Landbewohner der umliegenden Taunuskäffer.

  5. Julius sagt:

    Das Modell ist verbreitet....
    Das Modell ist verbreitet. Entweder Nachbarwohnung oder eine ganze Etage im altbau nurfür die frühen Drucke. Was diesen Lösungen stets fehlt: die Eleganz.

  6. donalphonso sagt:

    Dann kaufe ich halt noch eine...
    Dann kaufe ich halt noch eine Wohnung.

  7. Julius sagt:

    Liebe Bücherfans, die...
    Liebe Bücherfans, die Sammelfreude in Ehren, wo lasst ihr das alles? Nachdem auch das 16. Regal voll steht?

  8. Paulchen sagt:

    Wehrte Frau Diener,
    werden Sie...

    Wehrte Frau Diener,
    werden Sie die Tage in Frankfurt überstehen?
    Vielleicht könnte ein Kurzurlaub im Anschluss nicht schaden, mit einem
    “ guten“ Buch vielleicht?
    Herzlichst P.

  9. Axel sagt:

    Staropramen gibt's in...
    Staropramen gibt’s in Nordbayern in jeder NORMA und gehört (inzwischen leider) nicht mehr zu den besten Bieren.

  10. Savall sagt:

    Swina, ich war gestern dort....
    Swina, ich war gestern dort. Aus standortbedingten Gründen gehe ich jedes Jahr auf die Leipziger Messe und etwas seltener auf die Frankfurter. Ich habe es schon einmal gesagt und sage es wieder: die Buchmessen sind für mich überdimensionale Buchhandlungen seit es richtige Buchhandlungen nicht mehr gibt. Diese Unmenge von Verlagen, die immer mit dem gesamten Programm vertreten sind, wo gibt es das sonst noch? Sie müßten die Ecke mit den Reprint-Verlagen (Adeva et al.) gesehen haben. Ihnen würden die Augen tränen. Ich hatte bei Adeva selbstbewußt den „Willehalm“-Reprint auf das Lesepult gewuchtet. Angesichts meines wohl offensichtlich ergriffenen Gesichtsausdrucks meinte die Standbetreuerin nur: „Schön! Nicht?!“ Ich konnte bloß murmeln: „Grandios!“ _Das_ ist Buchmesse, nicht das Bier.

Kommentare sind deaktiviert.