Überdruck

Überdruck

Die Liebe zum Gedruckten lässt Menschen auf der Frankfurter Buchmesse wahre Torturen ertragen: Lesungen in schlecht belüfteten Räumen, Herumrennen

Gotische Giganten und karrierebewusste Fiktionäre

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Endspurt! Bisher ging es um Geschäft und Feierei, nun geht es ums Verkleiden und um die Mitnahme möglichst vieler Naturalien. Und um die Frage, wie detailliert man körperliche Gegebenheiten wiedergeben sollte.

Wenn man nach einem heldenhaften, aber letztlich nutzlosen Kampf gegen die Software die Messe betritt und gleich als erstes folgenden Satz entgegentrompetet bekommt: „Und dann steckte mein Kopf plötzlich zwischen meinen eigenen Brüsten. Aber man kann trotzdem atmen, und man gewöhnt sich auch daran“, und wenn dieser Satz von einem sichtlich entmoppelten Susanne-Fröhlich-Ich stammt, das jetzt Eigenwerbung für Abnehmen mit Yoga macht, dann weiß man, dass sich dieser Tag so schnell nicht eingrooven wird. Und überhaupt: Die Nase läuft, der Magen knurrt und die Schuhe haben Wasserränder. Zumindest für letzteres gibt es Abhilfe am Stand des Heel-Verlags: Vater und Tochter Himer, ihres Zeichens Maßschuhmacher, polieren mir die Budapester nach allen Regeln der Kunst. Ich fühle mich sofort tiefengereinigt, denn die einfachen Dinge des Lebens vergisst man in diesen Messetage ja gern, weil einen das viele Papier derart überwältigt. All dieser sprühende Geist, den ja schon Vize-Ministerpräsident Jörg-Uwe Hahn bei der Eröffnung ganz richtig in Frankfurt und nur in Frankfurt vermutet, kann einen schon ermatten und ganz klein fühlen lassen.

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Man sollte sich dann seinem Spieltrieb hingeben, wie die Standbesucher in Halle viernull, die kleine Plastiktierchen aufziehen und auf Tischen herumkrabbeln lassen: Fische, Dinosaurier, Islandponys. Das begeistert alle zwischen fünf und fünfzig, und die darüber sowieso. Man kann sich beim Baumtreff ein paar Stände weiter auch einen Baum schenken lassen. Ich entscheide mich für einen Ginkgo, taufe ihn in stillem Gedenken auf den Namen Eichborn und trage ihn durch Halle dreinull, um ihm seine toten Brüder und Schwestern zu zeigen. Pressedamen strahlen mich an und sagen: Mensch! Ist der niedlich! Ich sehe, dass Kunstbildbände seriöser Verlage jetzt Titel haben wie „Giganten der Gotik“. Das klingt wie eine Planetopia-Dokumentation, denke ich, und dass jetzt auch die Kunstgeschichte schon völlig durchgesateinst sein muss, um solche Titel durchzuwinken. Dann muss ich wieder an Susanne Fröhlich denken und an den Kopf zwischen ihren Brüsten und dass es vielleicht noch sehr viel schlechtere Orte für Köpfe gibt. Das ist exakt der richtige Moment, meinen Kopf und Eichborn in die Nachmittagssonne hinauszutragen.

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Die futuristische Agora-Blase ist von buntem Volk umwimmelt, das sich mit Perücken, Lacklederkorsetten, rosa Babydolls und anderen Kunstunschönheiten ausstaffiert hat. Naturschön ist heute höchstens das Wetter. Aber es wäre billig, über die Mangamädchen herzuziehen, über ihre modisch eher unvorteilhafte Ästhetik, ihr fragwürdiges Frauenbild, und über die Mangakriegerjungs, die riesige Latexwaffen in den stahlblauen Himmel recken. Erstens bekommen sie heute freien Eintritt, und was hätte ich in ihrem Alter nicht alles getan, um irgendwo freien Eintritt zu bekommen. Zweitens muss man Milde walten lassen, diese Kinder leben ihre Fiktion. Das klingt hohl, ist aber ungemein sympathisch. Ich lebe auch manchmal Fiktionen, die sind dann aber nicht ganz so bunt, auch wenn ich freien Eintritt bekomme.

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Und das führt mich zu der schönsten Schote der freitäglichen Party der jungen Verlage in unser aller Jugenddisse, dem Sinkkasten, die mir ein Hotlistpreis-Gewinner früherer Jahre apfelweinbeduselt an der Bar erzählt hat. Er, seines Zeichens schreibambitionierter, textlich aber noch nicht allzu weit gediehener Jungautor, wollte damals unbedingt einmal auf diese Messeparty im Frankfurter Hof. Also gab er sich, liegt ja nahe, als britischer Literaturagent aus und unterhielt sich in bestem Schulenglisch über seine nichtvorhandenen Erfahrungen auf dem Sektor internationaler Literaturvermittlung. Besonders mit einer bestimmten Dame, mit der unterhielt er sich geradezu blendend. Es stellte sich dann im Laufe des Abends heraus, dass diese Dame dem Kiepenheuer-Verlag angehörte. Was nun? „Wenn die Deckung aufgeflogen wäre, hätte ich die Dame vor den Kopf gestoßen. Damit wäre Kiepenheuer als Verlag für mich gestorben gewesen.“ Also tat der Autor, was nötig war: Er hielt den ganzen Abend die Fiktion aufrecht, sprach sein Schulenglisch, und freien Eintritt hat er ja auch bekommen. Die Party wurde noch wild, es hatte sich also gelohnt. Bei Kiepenheuer ist er dann nicht untergekommen. Aber bevor Sie, lieber Buchmessenbesucher, wieder einmal aus erhöhter Warte auf die Mangamädchen herabblicken: Vielleicht erwerben die sich gerade Kompetenzen für ihre künftige Karriere. Wer sich freien Eintritt erschnorren und bis zur Unkenntlichkeit verstellen kann, der kommt überall hin. 


4 Lesermeinungen

  1. Wertester Torsten Haupts mit...
    Wertester Torsten Haupts mit dem Schnorren wird das bei Ihnen wohl nichts mehr.
    Dazu umgibt Ihre Texte eine zu gewichtige Aura von erhabenseinwollendem Stolz.
    Scheint Sie aber doch zu wurmen, dass Ihnen solche Fähigkeiten, die gelegentlich ganz nützlich sind, nicht zukommen.

  2. hallo frau diener
    ich weiß...

    hallo frau diener
    ich weiß leider nicht, wohin sonst mit der frage, aber was ist denn mit den reisenotizen passiert? gibt es diese nicht mehr? ich komme auch nach erfolgter anmeldung nicht mehr auf den blog. da ich weder bei twitter noch bei google+ bin, hoffe ich mal darauf, daß sie hier vielleicht antworten können.
    oder twittern sie doch mal etwas dazu bitte. (ich lese ihre twittereien auch ohne eigenen account dort)
    danke!

  3. Spectator sagt:

    Nein, nein Herr Haupts, Sie...
    Nein, nein Herr Haupts, Sie sind hier schon richtig. Das ist der authentische Abglanz der Hochkultur Europas im Widerschein eines geschnorrten halbgefüllten Papp-bechers. Das ist alles durchaus vollnormal und nicht hinterhältiges Taktieren. Vermutlich. Irgendwie. Machen Sie´s doch bitte nicht noch schwerer, über das erträgliche Maß hinaus.

  4. ThorHa sagt:

    "Wer sich freien Eintritt...
    „Wer sich freien Eintritt erschnorren und bis zur Unkenntlichkeit verstellen kann, der kommt überall hin.“
    Um sich dann mit 40 zu fragen, „wofür eigentlich“. Um danach ganz authentisch in eine Sekte abzutauchen, biodynamischen Landbau in reiner Handarbeit zu betreiben oder ein öffentliches Coming Out als Wiedergeburt Jesu zu feiern? Ansonsten mitleidige Grüsse,
    Thorsten Haupts,
    der sich fragt, ob all die Blogeinträge der Buchmesse nicht doch eine hinterhältige Taktik darstellen, das unter sich bleiben zu sichern. Soooo schlimm kann die Messe doch gar nicht sein, sonst wäre eine 100% Erschwerniszulage angemessen.

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