1926 wahrscheinlich schrieb der große Lyriker Bertolt Brecht ein Sonett, das mich berührt hat, seit ich es in der Mitte des Lebens zum ersten Mal las:
ENTDECKUNG AN EINER JUNGEN FRAU
Des Morgens nüchterner Abschied, eine Frau
Kühl zwischen Tür und Angel, kühl besehn
Da sah ich: eine Strähn in ihrem Haar war grau
Ich konnt mich nicht entschließen mehr zu gehen
Stumm nahm ich ihre Brust, und als sie fragte
Warum ich, Nachtgast, nach Verlauf der Nacht
Nicht gehen wolle, denn so war’s gedacht
Sah ich sie unumwunden an und sagte
Ist’s nur noch eine Nacht, will ich noch bleiben
Doch nütze deine Zeit, das ist das Schlimme
Daß du so zwischen Tür und Angel stehst
Und laß uns die Gespräche rascher treiben
Denn wir vergaßen ganz, daß du vergehst
Und es verschlug Begierde mir die Stimme
Nicht weniger gekonnt als selbst Shakespeares Sonette gibt das Gedicht der alltäglichen, ja eigentlich geschäftlichen Situation erotischer Begierde ein Pathos, das sie monumental erscheinen lässt, und wie den Bauhaus-Designern jener Zeit gelingt dies Brecht mit einem Griff auf die Gestik der Sachlichkeit.
Die dabei beschriebene Reaktion ist wohl den meisten Erwachsenen vertraut. Doch aus welchem Grund genau “verschlug” die Entdeckung der grauen “Strähn” im Haar der Prostituierten ihrem Kunden “die Stimme”? Zwei Erklärungen fallen mir ein, und sie schließen sich wechselseitig gewiss nicht aus. Die erste kann man “Ökonomie der Lebenszeit” nennen (Brecht macht sie in den beiden abschließenden Terzetten explizit). Daran erinnert zu werden, dass mit jedem Augenblick die verbleibende Zeit im Leben eines anderen Menschen abnimmt, verändert gleichsam seinen oder ihren sozialen Marktwert, es macht die Begegnng mit ihr oder ihm wertvoller, oft dringender. Doch zum Gedanken an den Tod gehört auch die Vorstellung von einem gestorbenen, nicht mehr beseelten Körper, einem Körper, der dann Ding geworden sein wird und sich deshalb an die Begierde schmiegt, wie es einem lebenden Körper nicht gegeben ist: “Stumm nahm ich ihre Brust.”
Die ersten grauen Haare, dachte ich neulich, als die Freundin meines neunundzwanzigjährigen (jüngeren) Sohns erzählte, sie habe eines von ihnen an ihm entdeckt, die ersten grauen Haare verweisen nicht bloß voraus auf den Tod, nach dem als Ende des individuellen Bewusstseins für uns Säkulare allein das dem Bewusstsein unfassbare Nichts steht. Sie markieren auch die Mitte des Lebens als irreversible existentielle Umkehr. Wenn wir nämlich seit der Geburt, genauer: seit dem Beginn der Kindheit, daran arbeiten, all die an unseren Ursprung gebundenen Bestimmungen hinter uns zu lassen, um eine Zukunft zu haben, dann beginnt die Zukunft, sich mit jener ersten, biologisch unvermeidlichen Erinnerung an den eigenen Tod wieder zu schließen. Die bis dahin vorgestellte Zukunft noch in gegenwärtige Wirklichkeit zu verwandeln wird dann immer dringender. Und deshalb lässt sich sagen, dass mit den grauen Haaren der Lebensmitte auch jene Jahre beginnen, jenes dritte Viertel des Lebens, in dem gewachsene Erfahrung und noch nicht geschwundene Energie sich am intensivsten und im besten Fall auch am erfolgreichsten miteinander verbinden.
Die (beinahe) dreißig Jahre meines Sohns treffen sich mit dem immer noch klassischen Alter der “Lebensmitte.” Ich selbst war schon vierzig, als mein Vater (ausgerechnet) das erste graue Haar bei mir sah und so reagierte, als hätte er damit nie und immer gerechnet. Bis zu seinem Tod mit fünfundachtzig Jahren sollte es ihm als typischem Vater seiner Generation schwer fallen, mich als Erwachsenen zu sehen, so wie er leider auch meinen älteren Sohn nicht wie einen Enkel, sondern als seinen Sohn behandelte. Jedenfalls fiel meine Lebensmitte mit einem unter mehreren Perspektiven fühlbaren Einschnitt zusammen. Das Gespräch übers graue Haar zum Beispiel ereignete sich bei einer akademischen Feier (Eröffnung des Modellversuchs “Geisteswissenschaftliches Graduiertenkolleg”), die zum Beginn der Einlösung eines jener Selbst-Versprechen hätte werden können, auf die es ankommt. Doch meine erste Frau und ich hatten uns gerade trotz zweier Kinder getrennt, und drei Tage vor der Auswanderung an die amerikanische Westküste hatte ich die Liebe meines Lebens geheiratet. Außerdem ergab sich damals die Chance, ab und an für die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” zu schreiben, was in der prekären finanziellen Situation jenes Übergangs ein Glücksfall war.
Noch einmal zweiundzwanzig Jahre weiter waren fast all meine Haare grau geworden, während Frank Schirrmacher, einer meiner letzten Doktoranden aus den deutschen Jahren, als Herausgeber der FAZ polternd und mit Genie im Raum seiner Öffentlichkeit dominierte, gerade fünfzig alt und wohl täglich über dem Babyface, das ihm auch drei Jahre vor seinem Tod noch peinlich war, nach grauen Haaren suchend. Wir waren Freunde geworden und hatten keine Zeit, es zu bemerken, weil “Freundschaft” zu einer Tonlage der Gefühle gehört, die im kühlen Flickerschatten von Schirrmachers Skepsis kaum vernehmbar war, und weil ich ihm andererseits nicht mit zuviel Sympathie auf die Nerven gehen wollte. Als ich eines Sonntags etwas abgeschlagen aus Kalifornien an der Rezeption eines schicken (konnte man damals in Köln fast noch sagen) Hotels ankam, begrüßten mich die Angestellten mit jener Hochachtung, die einen Stich ins Panische hat. Ich solle sofort, also direkt von der Rezeption, den Herausgeber der FAZ anrufen, eine allerseits wichtige Entscheidung hänge von Minuten ab. Natürlich ging ich zuerst in mein Zimmer mit der “schönen Aussicht” auf den neugotischen Dom, badete und rasierte mich ausführlich, weil ich ja wusste, wie unwahrscheinlich es bei aller Aufregung war, den Herausgeber am Telephon zu erreichen.
Drei Stunden später legte mir Frank mit eher passionierter als überzeugender Stringenz klar, wie sehr das Schicksal der Menschheit (und ohnehin der Berliner Republik) auf meine Bereitschaft angewiesen sei, einen wöchentlichen Blog für die Website der FAZ zu schreiben. Nichts, ganz im Ernst, hätte mich damals weniger interessieren können. Ich hatte (und habe immer noch) nicht mal ein Handy; ich hielt (und halte mich weiter) nicht für einen jener gewissenhaft narzisstischen Tagebuchschreiber; und beständig auf Leserreaktionen reagieren zu müssen, wirkte wie ein Alptraum. Doch Schirrmacher ließ nicht nach, er hatte schon ganz andere Herausforderungen bestanden als die Aufgabe, mich von meiner eigenen Bedeutung zu überzeugen, und vor allem half das ziemlich großzügige (und bald etwas zurückgenommene) Honorarangebot in einer Zeit, als ich amerikanische Studiengebühren für zwei Kinder zu zahlen hatte. Meine ungelenke Premiere für die Website dieser Zeitung fiel auf den 11.Mai 2011.
Um die fünfzehnhundert Manuskriptseiten habe ich knapp sieben Jahre und (insgesamt) zweihundertdreiundsiebzig Blogs weiter für FAZ-Online produziert und deshalb, schätze ich, zwei akademische Bücher nicht abgeschlossen, die für jene Zeit geplant waren. Alle Blogs zusammen wurden gut zweieinhalb Millionen mal geklickt (im Durchschnitt etwa zehntausend mal pro Lieferung), was eigentlich kaum bemerkeneswert ist, aber doch beinahe aufregend für einen Autor aus der geisteswissenschaftlichen Welt, wo Aufsätze in Fachzeitschriften angeblich weltweit weniger als sechs Leser finden. Leserreaktionen aber sind mir und meine Reaktionen auf ihre Reaktionen sind den Lesern erspart geblieben, weil es zum Angebot des Herausgebers gehört hatte, meinen Blog von dieser gattungstypischen Antwort-Verpflichtung auszunehmen. Miguel Tamen (in Lissabon) und Jan Soeffner (in Köln und Friedrichshafen) hatten hinreichend Geduld – im amerikanische Englisch würde man sagen: “they had the stomach” – alle bisherigen zweihundetzweiundsiebzig Stücke zu lesen. Ich habe gelernt, auf Flügen der Econmy Class hinter zurückgeklappten Sitzen zu schreiben oder auf den zuverlässig verspäteten Zügen der deutschen Bahn. Und ich habe irgendwann Jochen Hieber, einen der besten Literaturkritiker der FAZ, ohne böse Absicht zu einem Wutanfall provoziert mit der (mir auch vom Herausgeber feierlich bestätigten) Erwartung, dass die Online-Redaktion meine Texte von Tippfehlern befreien müsse, zu einen Wutusbruch, aus dem eine meiner besten Freundschaften wurde.
In einer höflichen Mail vom FAZ-Online Chef, erfuhr ich Mitte des vergangenen Monats dass man “mit neuen Formaten experimentieren” wolle, weshalb der Blog einzustellen sei – und darauf folgte dann noch eine per FEDEX in Kalifornien zugestellte “Kündigung” jenes Vertrags, den ich nie bekommen und schon gar nicht unterschrieben hatte. Neue graue Haare konnten nun nicht mehr wachsen, weil meine letzten braunen Strähnen in den zweiundachzig Blog-Monaten verschwunden sind (allerdings wohl ohne Steigerung meines erotischern Altersappeals). Schirrmacher, sehe ich jetzt, Schirrmacher, den ich mit oder ohne Blog mindestens einmal pro Tag vermisse, hatte mir geholfen, das dritte Viertel des Lebens auszufüllen und abzuschließen. Falls meine Vermutung zutrifft, dass er als eine späte Inkarnation von Vautrin, Balzacs größtem Protagonisten aus der “Comédie Humaine,” die Welt unsicher gemacht hat, dann könnte dies sogar seine weise Absicht gewesen sein.
Doch Genies sind nicht weise. Eher kann man das von Zufällen sagen. Die krachende Kündigung aus Frankfurt kam knapp drei Monate vor meiner (selbst gewählten) Emeritierung in Stanford. Ich fange nun, mehr als nur leicht verspätet, das letzte Lebens-Viertel an und schreibe, so wie deutsche Fußballer von heute nie dribbeln, sondern immer “gegen den Ball” spielen sollen, und schreibe — griffbereit, das heißt mit Brechtisch-nüchternen Morgengefühlen — gegen den eigenen Tod.