Digital/Pausen

Digital/Pausen

Hans Ulrich Gumbrecht lehrt Literatur in Stanford und bedauert es, zu alt für eine Karriere-Chance als Trainer im American Football zu sein.

24. Mrz. 2018
von Hans Ulrich Gumbrecht

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Finale mit grauen Haaren

1926 wahrscheinlich schrieb der große Lyriker Bertolt Brecht ein Sonett, das mich berührt hat, seit ich es in der Mitte des Lebens zum ersten Mal las:

ENTDECKUNG AN EINER JUNGEN FRAU

Des Morgens nüchterner Abschied, eine Frau
Kühl zwischen Tür und Angel, kühl besehn
Da sah ich: eine Strähn in ihrem Haar war grau
Ich konnt mich nicht entschließen mehr zu gehen

Stumm nahm ich ihre Brust, und als sie fragte
Warum ich, Nachtgast, nach Verlauf der Nacht
Nicht gehen wolle, denn so war’s gedacht
Sah ich sie unumwunden an und sagte

Ist’s nur noch eine Nacht, will ich noch bleiben
Doch nütze deine Zeit, das ist das Schlimme
Daß du so zwischen Tür und Angel stehst

Und laß uns die Gespräche rascher treiben
Denn wir vergaßen ganz, daß du vergehst
Und es verschlug Begierde mir die Stimme

Nicht weniger gekonnt als selbst Shakespeares Sonette gibt das Gedicht der alltäglichen, ja eigentlich geschäftlichen Situation erotischer Begierde ein Pathos, das sie monumental erscheinen lässt, und wie den Bauhaus-Designern jener Zeit gelingt dies Brecht mit einem Griff auf die Gestik der Sachlichkeit.

Die dabei beschriebene Reaktion ist wohl den meisten Erwachsenen vertraut. Doch aus welchem Grund genau “verschlug” die Entdeckung der grauen “Strähn” im Haar der Prostituierten ihrem Kunden “die Stimme”? Zwei Erklärungen fallen mir ein, und sie schließen sich wechselseitig gewiss nicht aus. Die erste kann man “Ökonomie der Lebenszeit” nennen (Brecht macht sie in den beiden abschließenden Terzetten explizit). Daran erinnert zu werden, dass mit jedem Augenblick die verbleibende Zeit im Leben eines anderen Menschen abnimmt, verändert gleichsam seinen oder ihren sozialen Marktwert, es macht die Begegnng mit ihr oder ihm wertvoller, oft dringender. Doch zum Gedanken an den Tod gehört auch die Vorstellung von einem gestorbenen, nicht mehr beseelten Körper, einem Körper, der dann Ding geworden sein wird und sich deshalb an die Begierde schmiegt, wie es einem lebenden Körper nicht gegeben ist: “Stumm nahm ich ihre Brust.”

Die ersten grauen Haare, dachte ich neulich, als die Freundin meines neunundzwanzigjährigen (jüngeren) Sohns erzählte, sie habe eines von ihnen an ihm entdeckt, die ersten grauen Haare verweisen nicht bloß voraus auf den Tod, nach dem als Ende des individuellen Bewusstseins für uns Säkulare allein das dem Bewusstsein unfassbare Nichts steht. Sie markieren auch die Mitte des Lebens als irreversible existentielle Umkehr. Wenn wir nämlich seit der Geburt, genauer: seit dem Beginn der Kindheit, daran arbeiten, all die an unseren Ursprung gebundenen Bestimmungen hinter uns zu lassen, um eine Zukunft zu haben, dann beginnt die Zukunft, sich mit jener ersten, biologisch unvermeidlichen Erinnerung an den eigenen Tod wieder zu schließen. Die bis dahin vorgestellte Zukunft noch in gegenwärtige Wirklichkeit zu verwandeln wird dann immer dringender. Und deshalb lässt sich sagen, dass mit den grauen Haaren der Lebensmitte auch jene Jahre beginnen, jenes dritte Viertel des Lebens, in dem gewachsene Erfahrung und noch nicht geschwundene Energie sich am intensivsten und im besten Fall auch am erfolgreichsten miteinander verbinden.

Die (beinahe) dreißig Jahre meines Sohns treffen sich mit dem immer noch klassischen Alter der “Lebensmitte.” Ich selbst war schon vierzig, als mein Vater (ausgerechnet) das erste graue Haar bei mir sah und so reagierte, als hätte er damit nie und immer gerechnet. Bis zu seinem Tod mit fünfundachtzig Jahren sollte es ihm als typischem Vater seiner Generation schwer fallen, mich als Erwachsenen zu sehen, so wie er leider auch meinen älteren Sohn nicht wie einen Enkel, sondern als seinen Sohn behandelte. Jedenfalls fiel meine Lebensmitte mit einem unter mehreren Perspektiven fühlbaren Einschnitt zusammen. Das Gespräch übers graue Haar zum Beispiel ereignete sich bei einer akademischen Feier (Eröffnung des Modellversuchs “Geisteswissenschaftliches Graduiertenkolleg”), die zum Beginn der Einlösung eines jener Selbst-Versprechen hätte werden können, auf die es ankommt. Doch meine erste Frau und ich hatten uns gerade trotz zweier Kinder getrennt, und drei Tage vor der Auswanderung an die amerikanische Westküste hatte ich die Liebe meines Lebens geheiratet. Außerdem ergab sich damals die Chance, ab und an für die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” zu schreiben, was in der prekären finanziellen Situation jenes Übergangs ein Glücksfall war.

Noch einmal zweiundzwanzig Jahre weiter waren fast all meine Haare grau geworden, während Frank Schirrmacher, einer meiner letzten Doktoranden aus den deutschen Jahren, als Herausgeber der FAZ polternd und mit Genie im Raum seiner Öffentlichkeit dominierte, gerade fünfzig alt und wohl täglich über dem Babyface, das ihm auch drei Jahre vor seinem Tod noch peinlich war, nach grauen Haaren suchend. Wir waren Freunde geworden und hatten keine Zeit, es zu bemerken, weil “Freundschaft” zu einer Tonlage der Gefühle gehört, die im kühlen Flickerschatten von Schirrmachers Skepsis kaum vernehmbar war, und weil ich ihm andererseits nicht mit zuviel Sympathie auf die Nerven gehen wollte. Als ich eines Sonntags etwas abgeschlagen aus Kalifornien an der Rezeption eines schicken (konnte man damals in Köln fast noch sagen) Hotels ankam, begrüßten mich die Angestellten mit jener Hochachtung, die einen Stich ins Panische hat. Ich solle sofort, also direkt von der Rezeption, den Herausgeber der FAZ anrufen, eine allerseits wichtige Entscheidung hänge von Minuten ab. Natürlich ging ich zuerst in mein Zimmer mit der “schönen Aussicht” auf den neugotischen Dom, badete und rasierte mich ausführlich, weil ich ja wusste, wie unwahrscheinlich es bei aller Aufregung war, den Herausgeber am Telephon zu erreichen.

Drei Stunden später legte mir Frank mit eher passionierter als überzeugender Stringenz klar, wie sehr das Schicksal der Menschheit (und ohnehin der Berliner Republik) auf meine Bereitschaft angewiesen sei, einen wöchentlichen Blog für die Website der FAZ zu schreiben. Nichts, ganz im Ernst, hätte mich damals weniger interessieren können. Ich hatte (und habe immer noch) nicht mal ein Handy; ich hielt (und halte mich weiter) nicht für einen jener gewissenhaft narzisstischen Tagebuchschreiber; und beständig auf Leserreaktionen reagieren zu müssen, wirkte wie ein Alptraum. Doch Schirrmacher ließ nicht nach, er hatte schon ganz andere Herausforderungen bestanden als die Aufgabe, mich von meiner eigenen Bedeutung zu überzeugen, und vor allem half das ziemlich großzügige (und bald etwas zurückgenommene) Honorarangebot in einer Zeit, als ich amerikanische Studiengebühren für zwei Kinder zu zahlen hatte. Meine ungelenke Premiere für die Website dieser Zeitung fiel auf den 11.Mai 2011.

Um die fünfzehnhundert Manuskriptseiten habe ich knapp sieben Jahre und (insgesamt) zweihundertdreiundsiebzig Blogs weiter für FAZ-Online produziert und deshalb, schätze ich, zwei akademische Bücher nicht abgeschlossen, die für jene Zeit geplant waren. Alle Blogs zusammen wurden gut zweieinhalb Millionen mal geklickt (im Durchschnitt etwa zehntausend mal pro Lieferung), was eigentlich kaum bemerkeneswert ist, aber doch beinahe aufregend für einen Autor aus der geisteswissenschaftlichen Welt, wo Aufsätze in Fachzeitschriften angeblich weltweit weniger als sechs Leser finden. Leserreaktionen aber sind mir und meine Reaktionen auf ihre Reaktionen sind den Lesern erspart geblieben, weil es zum Angebot des Herausgebers gehört hatte, meinen Blog von dieser gattungstypischen Antwort-Verpflichtung auszunehmen. Miguel Tamen (in Lissabon) und Jan Soeffner (in Köln und Friedrichshafen) hatten hinreichend Geduld – im amerikanische Englisch würde man sagen: “they had the stomach” – alle bisherigen zweihundetzweiundsiebzig Stücke zu lesen. Ich habe gelernt, auf Flügen der Econmy Class hinter zurückgeklappten Sitzen zu schreiben oder auf den zuverlässig verspäteten Zügen der deutschen Bahn. Und ich habe irgendwann Jochen Hieber, einen der besten Literaturkritiker der FAZ, ohne böse Absicht zu einem Wutanfall provoziert mit der (mir auch vom Herausgeber feierlich bestätigten) Erwartung, dass die Online-Redaktion meine Texte von Tippfehlern befreien müsse, zu einen Wutusbruch, aus dem eine meiner besten Freundschaften wurde.

In einer höflichen Mail vom FAZ-Online Chef, erfuhr ich Mitte des vergangenen Monats dass man “mit neuen Formaten experimentieren” wolle, weshalb der Blog einzustellen sei – und darauf folgte dann noch eine per FEDEX in Kalifornien zugestellte “Kündigung” jenes Vertrags, den ich nie bekommen und schon gar nicht unterschrieben hatte. Neue graue Haare konnten nun nicht mehr wachsen, weil meine letzten braunen Strähnen in den zweiundachzig Blog-Monaten verschwunden sind (allerdings wohl ohne Steigerung meines erotischern Altersappeals). Schirrmacher, sehe ich jetzt, Schirrmacher, den ich mit oder ohne Blog mindestens einmal pro Tag vermisse, hatte mir geholfen, das dritte Viertel des Lebens auszufüllen und abzuschließen. Falls meine Vermutung zutrifft, dass er als eine späte Inkarnation von Vautrin, Balzacs größtem Protagonisten aus der “Comédie Humaine,” die Welt unsicher gemacht hat, dann könnte dies sogar seine weise Absicht gewesen sein.

Doch Genies sind nicht weise. Eher kann man das von Zufällen sagen. Die krachende Kündigung aus Frankfurt kam knapp drei Monate vor meiner (selbst gewählten) Emeritierung in Stanford. Ich fange nun, mehr als nur leicht verspätet, das letzte Lebens-Viertel an und schreibe, so wie deutsche Fußballer von heute nie dribbeln, sondern immer “gegen den Ball” spielen sollen, und schreibe — griffbereit, das heißt mit Brechtisch-nüchternen Morgengefühlen — gegen den eigenen Tod.

24. Mrz. 2018
von Hans Ulrich Gumbrecht

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10. Mrz. 2018
von Hans Ulrich Gumbrecht

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Sex in der frühen Bundesrepublik: “historische Sittenbilder”

Herr Jagusch, davon habe ich schon erzählt, trug stets eine weinrote Fliege hoch über der Weste seines Anzugs (dass er maßgeschneidert war, verstand sich damals), und wenn er meine Mutter einmal im Monat, durchaus zur Zufriedenheit meines Vaters, am Spätnachmittag besuchte, legte er gekonnt “um Verzeihung bittend” seinen Hut und bei Regen auch seinen Schirm an der engen “Garderobe” ab. Herr Jagusch kam im Taxi, bedankte sich mit Blumen, Konfekt und gelegentlich einer Mozart- oder Haydn-Schallplatte, sprach eher leise ohne regionalen Akzent und galt als besonders charmant. Das Gespräch blieb für immer beim höflichen “Sie,” bewegte sich über kulturelle Höhen, die meine Mutter sonst nie erklomm, einschließlich der jüngsten Wagner-Inszenierungen im nahen Bayreuth, und endete regelmäßig mit zwei Gläsern aus der allein für diesen besonderen Gast bereitgehaltenen Portweinflasche.

Einige Jahre später, Herr Jagusch war “aus beruflichen Gründen” in eine andere Stadt gezogen, trat ein neuer Nachmittags-Besucher auf, dessen Namen ich vergessen habe, etwas jünger, nicht ganz so sorgfältig gekleidet, aber ähnlich angenehm, und offenbar bemüht, auch mich in die anspruchsvolle Unterhaltung über eher naturwissenschaftliche Themen einzubeziehen. Meine Mutter, die ein Medizinstudium ohne jeden Drang abgeschlossen hatte, daraus einen Beruf zu machen, wirkte weniger beeindruckt, und ich bemerkte ihre nervöse Bemühung, die Unterhaltung nicht zu einem Dialog des Gasts mit mir werden zu lassen. Beim letzten Besuch, auch dieser Herr musste sich “aus beruflichen Gründen” für immer verabschieden, brachte er mir ein reich bebildertes “wissenschaftliches” Buch über Dinosaurier mit, die damals noch nicht die Tische der Spielwarenläden beherrschten.

Eines Tages erfuhr und verstand ich dann auch, welchem komplizierten Umstand wir so distinguierte Gäste verdankten. Mein Vater war, früh in der Geschichte dieser Spezialisierung, Facharzt für Urologie geworden und verfügte deshalb über eine damals seltene Kompetenz, die ihn zum Gutachter der lokalen Diozöse für die Annullierung katholischer Ehen machte. Ein ausschlaggebendes Kriterium für Entscheidungen dieser Art lag nämlich in dem Erweis, dass die vor einem Priester als Sakrament geschlossene Ehe physisch nie vollzogen war, und mein Vater sprach gerne davon, wieviel Dankbarkeit er sich mit der Ausstellung solcher — in den meisten Fällen medizinisch kaum begründbarer — Bestätigungen erwarb.

Ein ganz anders prekärer Unterton schwingt durch einige Sport-Erinnerungen aus den frühen fünfziger Jahren. Gottfried von Cramm, der vor dem Weltkrieg zum erfolgreichsten deutschen Tennispieler geworden war (er gewann das French Open zwei Mal und erreichte mehrfach das Wimbledon Finale), der große Gottfried von Cramm trat, mehr als vierzig Jahre alt, in der dichtbesetzten Frankenhalle unserer Stadt auf, und bis heute spüre ich die kindliche Begeisterung für die Eleganz seiner Aufschläge und auch der weißen Tenniskluft (nur von Cramm spielte in langen Hosen). Natürlich wollte ich ein Autogramm von ihm haben, doch mein Vater fand die Reihe der Wartenden zu lang, nahm mich an der Hand und lief schnell zu seinem in der Nähe geparkten Opel Olympia.

Die GESTAPO, las ich Jahrzehnte später, hatte von Cramm, der natürlich standesgemäß verheiratet war, nach dem letzten von drei verlorenen Wimbledon-Endspielen bei der Rückkehr nach Tempelhof wegen seiner Beziehung zu einem jüdischen Schauspieler verhaftet — und eine nicht in Worte zu fassende Ahnung von Exzentrizität war seither wohl Teil der Cramm-Aura geworden. Deshalb musste der Autogramm-Moment vermieden werden, so wie mein Vater auch stolz berichtete, einen Mann seines Alters, der mich freundlich auf der Terrasse des Krankenhauses ansprach, für alle Umstehenden hörbar und laut aufgefordert zu haben, die “Hände von seinem Sohn zu lassen” — welche mich nie berührt hatten.

Es gab nur Töne, aber keine brauchbar neutralen, weder zynischen noch Akte geltender Kriminailtät feststellenden Wörter, mit denen sich über Homosexualität sprechen ließ. Deutlich war im Alltag allein jene Genugtuung, die sich mit jeder Gelegenheit öffnete, der Homosexualität verdächtigte Männer öffentlich in die Schranken jener selbstzerstörenden Zurückhaltung zu verweisen, welche ihnen die Moral der Nachkriegsjahre noch immer auferlegte. Zu diesem Syndrom gehörten auch zugleich deutliche und euphemistische Warnungen an Kinder und Jugendliche. Als ich mit sieben Jahren zur ersten Sitzung des Ministrantenunterrichts ging, verpflichteten mich die Eltern, sie jedenfalls zu benachrichtigen, falls mich “der Priester anfassen” sollte. Der Satz blieb mir lange ein Rätsel, weil es keinen Anlass gab, ihn mit irgendeinem Inhalt zu füllen.

Erst in der Pubertät verschoben sich die Prämissen, als wir selbst in jene auf sich stolze Sexualmoral hineinwuchsen – und sie mit der Beflissenheit von Lehrlingen übernahmen. Plötzlich konzentrierten wir uns auf Situationen des Sportunterrichts, in denen wir uns gerne als Objekte potentieller Begierde erleben – und verteidigen – wollten. Statt einem Lateinlehrer freundlich die Hand zu drücken, der uns als ehemals erfolgreicher Geräteturner half, das Pflicht-Abitur in dieser Sportart vorzubereiten, steigerten wir uns in immer obsessivere Gerüchte über die Richtung seiner Blicke und den Unterton seiner Stimme. Auch dass der unverheirate Vorsitzende des Schwimmvereins, für den ich Wasserball spielte, ein erfolgreicher Immobilienmakler, aus persönlichen Mitteln den Bau eines Hallenbads finanzierte, konnte nur als Anzeichen seiner Sucht gedeutet werden, unsere etwas muskulösen Körper bei zwei Trainingsabenden pro Woche und den Wettkämpfen am Wochenende ins Auge zu fassen. Und als der jüngere Mann, den wir als seinen Partner zu identifizieren glaubten, einmal von dem “Beruf” sprach, “der ihn ernähren musste,” tauschten wir vielsagende Blicke aus, weil man sich eine erotische Beziehung unter Männern nur als Prositutution vorstellen konnte.

Von Dankbarkeit für Wolfgang Adami oder Ottmar Sänger, die unseren vorher unsichtbaren Schwimmverein zur nationalen Spitze führten und einige Jahre dort hielten, war nie die Rede. Eher hingen wir mit Selbstgefallen an einer sprachlosen und manchmal augenzwinkernden Schadenfreue, deren euphorische Schwingungen aus dem Glauben aufstiegen, Objekt einer Begierde zu sein, der wir uns mühelos verweigern konnten. Wir hielten uns für das Recht und die wahre männliche Stärke, einschließlich des dazugehörigen Glorienscheins. Opfer der unmännlichen Begierde, wussten wir, konnten nur Kinder werden, und zu ihrem Schutz bedurfte es gesetzlicher Grenzziehungen, allgegenwärtig potentieller Gewalt und vor allem jener wohlfeilen Schadenfreude der Verweigerung. Dies war, sagt mein Freund John, während der fünfziger Jahre in Tulsa (Oklahoma) keinen Deut anders und erklärt auch die stes angestrengt klingende Sorge der Eltern in beiden Ländern.

Deutlich spürbar hat eine abstrakte Version dieses Strukturmusters das weniger homophobe einundzwanzigste Jahrhundert erreicht. Als bei der Halbzeit-Show von Superbowl 2004 eine nackte Brustwarze der Sängerin Janet Jackson – inszeniert oder zufällig – für Sekundebruchteile auf den Bildschirmen erschien, steigerte sich die Nation in nachhaltige Sorge um potentiell traumatische Wirkungen jenes Augenblicks auf Kinderaugen und Kinderseelen. Doch was außer Erinnerungen an glücklich volle Momente des Gestilltwerdens sollten Brustwarzen in Kinderseelen auslösen?

In den Jahren zwischen Herrn Jagusch und Wolfgang Adami eroberte auch eine laute Heldengeschichte die weinfröhlichen Stammtische meiner Vaterstadt. Das war die fast zur Ballade geronnene Erzählung von Hanns Hochrein, dem Erben eines florierenden Hotels mit fränkischem Spezialitäten-Restaurant in der innersten Innenstadt, der trotz stets tiefstehender Lider gut genug aussah, um Faschingsprinz zu werden und dabei eine Millionenerbin als Prinzessin traf, um deren Hand er anhielt – um, unwiderstehlich, wie er war, erhört zu werden. Wir alle, jung und alt, liebten Hanns Hochrein, der statt dem “in seinen Kreisen” üblichen Mercedes oder Opel Kapitän einen Chevy fuhr und an den Tischen seiner Gäste ebenso Judenwitze zum Besten gab wie seine neuesten Eroberungen, die weder vor minderjährigen Kellnerinnen noch vor den Frauen der besten Freunde halt machten.

Nach dem Tod seiner sparsamen Mutter und Geschäftspartnerin mit badischem Akzent brachte das an langen Wochenenden in München als kosmopolitisch genossene Leben Hanns Hochrein auf die Idee, sein Hotel “auf modern” zu stylen und einen Küchenchef aus Hamburg einzustellen, der die lokalen Gaumen mit “astronomisch teuren” (sagte meine Mutter) “Admirals-Platten” zu verführen plante. Hummer und Krabben, stellte sich allerdings schnell heraus, “gingen nicht” – und ließen den beliebten Hanns Hochrein schnell ans Ende der Liquidität schlittern. Trotzig, von treuen Freuden unterstützt und mit jener jungen Kellnerin, die er “Schneckele” nannte, schlief er weiter in dem längst vom Amtsvollzieher versiegelten Hotel, sprach an Markständen und auf “Parties” (ein Modewort damals), wo er weiter herzlich willkommen war, andeutungsreich von einem Neuanfang und trank mehr als genug, um den Tiefstand der Lider endlich zu rechtfertigen.

Eines Tages war in der “Mainpost” ein Bericht zu lesen, der keine Namen nannte, aber den einzigen Chevy der Stadt erwähnte. Eine Autobahnstreife hatte den Fahrer wegen Geschwindigkeitsüberschreitung zum Halten gezwungen und einen hohen Alkoholgehalt im Blut festgestellt. Der Fahrer wollte seine Pistole ziehen, doch die Bewegungen waren so langsam, dass ihm die Polizisten zuvorkamen – und er “sich durch einen Schuss in den Mund tötete.”

Voller Mitgefühl ergänzten die Stammtische, seine siebzehnjährige Geliebte habe die Leiche des Freundes weinend umarmt. Ich war in der Abiturklasse, sah keine erhobenen Zeigefinger und noch weniger Schadenfreude. Eher fühlten wir uns wie Statisten in einem klassischen Western, denen es zur Ehre gereichte, Teil einer wahrhaft großen Szene gewesen zu sein.

10. Mrz. 2018
von Hans Ulrich Gumbrecht

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24. Feb. 2018
von Hans Ulrich Gumbrecht

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Fragile Sterilität des amerikanischen Alltags

Auf dem Weg zum Ausgang der Universitätsbibliotek begegnet mir ein ungefähr dreißigjähriger Mann, wie man ihn nur in der Vereinigten Staaten sieht – zumal während der kälteren Jahreszeit. Er ist hoch gewachsen, ein Meter neunzig oder mehr, hat breite Schultern und kurze semmelblonde Haare, trägt einen grauen Pullover mit Kapuze (einen “Hoodie,” wie die Amerikaner sagen), eine überaus weite, metallisch schimmernde Basketballhose in blau und mit gelben Seitenstreifen, die bis zu den Knien reicht, während seine sockenlosen Plattfüße in Badeschlappen stecken. Eigentlich müssten die Haare nass sein, denn so sieht sonst nur aus, wer zuhause von der Dusche ins Schlafzimmer geht. Doch bei uns ist die Grenze zwischen jener hermetischen Privatheit, deren Innenseite man woanders keinem Fremden zumuten würde, und minimalen Standards der öffentlichen Selbstpräsentation fast kollabiert. Anders gesagt: das individuelle Recht auf Bequemlichkeit breitet sich aus, ohne dass irgendeine Grenze in Sicht kommt, was am massivsten bei amerikanischen Passagieren auf Langstreckenflügen deutlich wird (eines Tages werde ich von San Francisco nach Zürich neben einem Manager im Pyjama sitzen). Eher als der eigenen Anziehungskraft trauen viele von uns den unsichtbaren inneren Werten und setzen auf das Recht, dass jeder und jede die sein dürfen, die sie natürlich und ohnehin sind — was allemal reichen muss.

Der Bodybuilder mit den prallen Oberarmmuskeln im keuschen T-Shirt und Jeans, die über den einsatzbereiten Sportschuhen weder eng noch weit aussehen, macht keinesfalls einen Gegentyp zum konturenfreien Latschenmann aus. Sprächen wir miteinander, dann könnte ich mühelos erfahren, wieviel Zeit er pro Tag in klagelos ausgehaltene Übungen investiert und ob es ein in Zahlen fassbares Ziel der Selbstformung gibt. Denn beweisen sollen die Silhouetten der Muskelmänner nichts. Beim Einkaufen im Supermarkt wirken sie etwas weniger grotesk, aber genauso privat und unpassend wie die Badeschlappen in der Bibliothek. Ein Familienvater mit drei Kindern — mit deren frischer und doch schon etwas verhärmter Mutter — könnte der Muskelprotz sein, denn so wie er aussieht, stellt er nur das zufällige Nebenprodukt einer privaten Obsession in den öffentlichen Raum.

Als national singulär schließlich – und je nach Sensibilität auch als skandalös – registrieren Touristen jene erstaunlich vielen von uns, deren Körper in einer außer Kontrolle geratenen Gewichtszunahme alle vorbewusst vorausgesetzten Formen überschritten und verloren haben. In mehreren täglichen Reality Shows sind sie inzwischen zu einer Faszination geworden, wobei die mediale Pseudo-Berichterstattung – im immer noch klassischen Land der Leidenschaft für “unbegrenzte Möglichkeiten” – keine Alternative gegenüber jener Erzählung zulässt, die von Ausgangspunkten bei sechshundert Pfund und der Unfähigkeit, das Bett zu verlassen, bis zu ansehlichem Normalgewicht und Familiengründungen führt. Fun Parks sind der Wochenend-Soziotop für die gestaltlosen Gestalten Amerikas. Ab und an zwar gibt es Gewichtsgrenzen für Karussels, Achterbahnen oder anderen “Rides,” doch Verlegenheit zeigen die wahren Schwergewichte nie. Ebenso undenkbar, dass sich jemand über sie lustig machte, was für Großzügigkeit gegenüber anderen spricht und zugleich die komplementäre Sorglosigkeit bezüglich der eigenen Wirkung auf andere monumental werden lässt.

Doch nicht in einem Kabinett der Exzentrizitäten entfaltet sich die Sterilität unseres Alltags. Für ihre emblematische Figur halte ich eher jene Mutter im angenehmen Normalgewicht, die einen Jeansrock mit knöpfbarer Tasche dort anhat, wo Männer ihr Portemonnaie tragen, eine Bluse, die alle männlichen Blicke zum Schmelzen bringt und für einen Start über vierhundert Meter Hürden bereite Schuhe. Obsessiv wirkt Abigail nicht, sondern hermetisch, gesund, etwas ökologisch und eben ordentlich. Was teilt sie dann aber mit den extremen Figuren, an die wir uns so gewöhnt haben? Und was macht sie verschieden von ihren Zeitgenossinnen aus Frankfurt oder Sao Paulo? Vor allem in Brasilien investieren Frauen zwischen zwölf und achtzig derart bedingungs- wie ausnahmslos in erotisch anziehende Selbst-Präsentationen, dass daraus ein neutralisierender Gegen-Effekt entsteht. Wenn alle danach streben, dann bleibt am Ende niemand mehr Gegenstand der Begierde. Und ist nicht Deutschland immer noch, wie man in den ersten dreißig Minuten nach einer transatlantischen Ankunft besonders deutlich spürt, eine Zone der tiefen Ausschnitte und der erotische Tiefflüge auffangenden Büstenhalter? Abigail dagegen lässt die Welt, direkter und genauer noch als der Latschen-, Muskel- und sechshundert Pfund-Männer, wissen, dass sie vor allem kein Objekt fremder Begierde sein will – und deshalb auch die eigene Begierde noch nie richtig kennengelernt hat. Zu sagen, dass ihre Kinder per DHL zugestellt wurden, klänge durchaus plausibel, und nicht zufällig floriert bei uns die extra-uterine Befruchtung. Wie weit auf der anderen Seite die Zumutung derer gehen kann, die sich nicht darum scheren, je zu gefallen, illustriert ein Kommentar des berühmten Richters und Rechtsgelehrten Richard Posner aus Chicago. In einer Debatte über den Konflikt zwischen den Rechten der Raucher und dem Schutz der Nicht-Raucher beschrieb er seine Frustration, in einer Warteschlange hinter jemandem stehen zu müssen, der eine über Jahre am Nacken verschwitzte Baseball-Kappe trägt, als größer denn seinen gelegentlichen Ärger über das in manchen Situationen nicht zu vermeidende Mit-Rauchen.

Doch woher kommt jene entweder adrette oder vielfach hilf- und formlose Sterilität im amerikanischen Alltag? Warum ist unsere eigene alltägliche Begierde so unaufweckbar eingeschlafen und, viel erstaunlicher noch, auch jene andere Begierde, von der vor allem Jacques Lacan sprach, nämlich ein Objekt der Begierde für andere zu sein? Die amerikanische Gesellschaft (selbst und erstaunlicherweise) glaubt sich im Recht, auf solche Fragen gelassen zu reagieren. Seit 1948 der schnell berühmte “Kinsey Report” veröffentlicht wurde (“Sexual Behavior of the Human Male”), auf den fünf Jahre später eine Paralleluntersuchung über die amerikanischen Frauen folgte, hat eine breitangelegte empirische Untersuchung aus aseptisher Distanz belegt, dass Sexualität mit all ihren Varianten auch in den Vereinigten Staaten existiert. Im Vordergrund des Lebens, in der Zone des Alltags, ist sie aber nicht spürbar, und das macht den Unterschied aus. Kollegen bei jeder Art von Arbeit werden zu “pals,” das heißt, sie kommunizieren und arbeiten zusammen als Freunde und Kumpel, ohne einander je zum Gegenstand individueller Begierde zu werden. “Sex,” sagten mir Studenten im ersten Universitätsjahr, sei die beste Form, Liebe gegenüber ihren Partnern auszudrücken. Eine ganz andere, eigentlich nur für Historiker relevante Frage ist es dann, ob sich in dieser Absenz spürbarer Sexualität eine langfristige Folge der engen moralischen Weltsichten zeigt, welche ekstatisch religiöse Auswanderer seit dem siebzehnten Jahrhundert über den Atlantik gebracht hatten.

Heute wird uns vor allem bewusst, wie fragil diese Mauer moralischer Hygiene immer schon war oder geworden ist. Wenn unser Präsident auf Sex zu sprechen kommt oder sich an Sex erinnert, sieht er schnell linkisch, unbeholfen und egozentrisch aus; seit in Hollywood (oder auch Washington) zum ersten Mal deutlich genug von Sex und Gewalt die Rede war, hat die “Me too”-Bewegung die Zahl der Anklagen stündlich anwachsen lassen und anscheinend auf Dauer gestellt; und der frühere Golfstar Tiger Woods mit seinen properen Polo-Shirts und weißen Hosen hat sich auch in seinem sportlichen Leben nie vom Schock der Öffentlichkeit über die Dokumentation seiner in die Hunderte gehenden Affairen erholt. Wir können nicht mit der Begierde umgehen und individuelle Ökonomien für sie erfinden, entweder ist sie aus unserem Alltag verbannt oder sie überfällt und zerstört ihn wie ein Kohle hinterlassender Waldbrand.

Wenn ich vor meinem Studenten am Rand erwähne, dass ich täglich zum Abendessen mindestens ein Glas Wein trinke, machen sie sich Sorgen um mich und geben mir manchmal sogar Ratschäge zum “Kampf” gegen den Alkoholismus. Zugleich aber gehört für viele von ihnen das “binge-drinking” zur College-Lebensform. Man will betrunken sein, ausschließlich am Freitag- und Samstagabend, nicht etwa inspiriert oder, Gott verbiete, zum Flirten aufgelegt, sondern einfach betrunken — und der bis Montag anhaltende Kater wird mit verwunderlicher Geduld und fast erleichtert akzeptiert als ein immer neu wiederholtes Ritual des Erwachsenwerdens.

Nicht nur das Leben mit der eigenen Begierde und der Begierde der anderen fällt uns schwer, wir finden auch nur selten ein Verhältnis und eine Proportion zu den nicht verkörperten sinnlichen Seiten des Lebens. Vielleicht macht uns jene nationale Berufung, “pals” zu sein, so erstaunlich erfolgreich und fast unverletzlich — wenn es drauf ankommt auch mit einer speziellen Kompetenz für plötzlich angezogene Zwischenspurts. Nichts kommt bei uns einer ebenso komplexen wie geradlinigen Planung in die Quere – wie in jenen emblematischen zwölf Jahren zwischen 1957 und 1969, zwischen der die Welt schockierenden und aus heutiger Perspektive rührende Projektionen und Sorgen weckenden Epiphanie des ersten künstlichen Erdtrabanten aus der Sowjetunion und dem Vollzug des ersten Schritts auf dem Mond durch einen Amerikaner, zu dem die Konkurrenz nie mehr aufschließen konnte.

Vielleicht ist der besondere amerikanische Sprint unserer Gegenwart, von Breitwandgesichtern in der Politik für Ausländer verstellt, das – wohl eher mühsame — Erlernen eines sinnlichen Lebensstils. Über die Bay von Francisco, wo noch vor fünfzehn Jahren bloß ein bemerkenswertes Restaurant existierte, neben vielen Adressen mit guter chinesischer Küche und eher vereinzelten Orten, die ihre Kunden in ordentlichen Schlangen auf als charismatisch gefeierte Hamburgers warten ließen, geht nun Jahr für Jahr ein warmer Regen von Michelin-Sternen nieder, welche zumindest die Preise steigern – und vielleicht ja auch die Kompetenz des Genießens. Dreißigjährige Silicon Valley Millionäre (double or triple digit) gewöhnen sich langsam an die richtigen Proportionen zwischen Wein und den mikroskopischen Gerichten auf großen Tellern. Über Preispolitik allerdings lässt sich ihr Verhältnis zum Wein nicht steuern. Denn die tausend Dollar-Flaschen gehen gut – und so bleibt nur zu hoffen, dass sich Instinkte der Investition und die grundsätzlich immer zu zahlreichen Wörter der Sommeliers nicht über die Gaumen und Zungen legen.

24. Feb. 2018
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Und wo sind die großen Bücher geblieben?

Einen Parkplatz zu finden kann sonntagmorgens ein echtes Problem werden an der kleinen und seit einiger Zeit zum Geheimtipp aufgestiegenen Shopping Mall aus den siebziger Jahren. Deswegen nur kamen wir letzte Woche zwanzig Minuten vor der Brunch-Reservierung mit unseren Freunden an. Meine Frau wollte mir auch noch schnell einen Buchladen zeigen, den sie im Dezember auf der Suche nach Weihnachtsgeschenken entdeckt hatte. Dass Buch-Läden heute, je nach lokaler Nachfrage und dem Geschmack ihrer Besitzer, auch allerhand anderes anbieten, versteht sich. Regenschirme zum Beispiel, die bei uns bloß eine kurze Saison haben, natürlich die untersetzten amerikanischen Kaffee-Mugs mit vielerlei Farben und oft angestrengt geistreichen Inschriften, Schreibmaterial, Postkarten (mit denen die Post gar nicht mehr rechnet) und, in diesem speziellen Fall, auch besonders anspruchsvolle Kinderkleidung. Am meisten beeindruckte mich ein Regal mit Hochglanz-Magazinen aus unserer Region, von denen ich noch nie gehört oder gelesen hatte – es muss zum Hobby der Elektronik-Millionäre geworden sein, solche Veröffentlichungen zu finanzieren.

Dann stieß ich endlich auf richtige Bücher, dachte ich jedenfalls – um zu entdecken, dass der erste buchförmige Gegenstand, den ich in die Hand nahm, von Briefumschlägen statt bedruckten Seiten gefüllt war und potentiellen Käufern in einer verdächtig freundlichen Gebrauchsanweisung nahelegte, sie mit Botschaften an die Nachwelt zu füllen. Angesichts meines fortgeschrittenen Alters weckte dieses ausgefallene (im Deutschen kann man drastischer sagen: an den Haaren herbeigezogene) Produkt eher unangenehme Assoziationen, so dass ich mich beinahe schnell weiter bewegte, zwischen mehreren Bergen aktueller Selbsthilfe-Bestseller, deren schiere Zahl Anlass gab, sich um die Zukunft der klassischen Psychotherapie Sorgen zu machen. Am Ende aber, fast schon wieder in der Nähe von Kasse und Ausgang, gab es doch noch einen runden Tisch mit – echten neuen Büchern. Eines von ihnen war besonders lang und schmal, wohl in Anpassung an sein Thema, “Berühmte Brücken der Welt.” Vom Cover eines anderen lachte, bemerkenswert gutaussehend, Michelle Obama, was für den Familien-Photographen des Weißen Hauses sprach, der auch deshalb ein “Big Shot” sein muss, weil sein Name erstaunlich gleichgroß neben dem der ehemaligen First Lady stand. “Klassiker” im englischen Original aber oder englische Übersetzungen von ihnen waren nur als meist dicke Taschenbücher präsent (Gesamtausgaben kauft man global, wenn überhaupt, bei Amazon), und es fehlten “Klassiker der Gegenwart,” die jeweils letzten Romane (oder Lyrik-Anthologien) von lebenden Autoren deren Namen für literarischen Anspruch stehen und die man deshalb als Pflichtlektüre klassifiziert.

Nein, diese Erinnerung wird nicht in die Klage eines Alt-Europäers über Amerika als kulturelle Wüste ausarten, eher hat der Begriff “Reading” ja von der High School an eine etwas überzogene Aura hier (wie sie der vermeintliche Kultfilm “Dead Poets Society” illustriert). Auch wir haben unsere respektablen Autoren des Tom Wolfe-Typs, und der wahrhaft große Thomas Pynchon soll an unbekanntem Ort weiterleben, was uns zu der Überzeugung verhilft, dass es trotz aller europäischen Vorurteile eine literarische Kultur in Amerika gibt. Doch wo sind die “Großen Bücher heute geblieben? Natürlich meine ich nicht die fünfhundert-Seiten Romane zur süffigen Ferien-Lektüre. Andererseits haben auch die “großen” Büchern, um die es mir geht, viele Hunderte von Seiten, doch “groß” und “monumental” nennen wir sie wegen des ästhetischen Rangs, der soviel Substanz gestaltet und inszeniert. Nach ihnen zu fragen, so wie François Villon im fünfzehnten Jahrhundert nach dem “Schnee von gestern” gefragt hat, weckt Erinnerungen an eine vergangene Gegenwart, die nicht einmal für die Siebzigjährigen von heute je ihre eigene Gegenwart war.

Sie führen in die zwanziger Jahre, deren Jahrhundert-Spezifizierung uns noch einen kurzen Moment erspart bleibt — denn sie waren voll von ganz großen Büchern, die nicht erst ihre Nachwelt identifizieren musste. Im Gegenteil, als Projekte faszinierten sie Verleger und potentielle Leser schon in den Jahren ihres Entstehens, wie Marcel Prousts “A la Recherche du Temps Perdu,” James Joyces “Ulysses,” oder der “Mann ohne Eigenschaften” von Robert Musil. Allzu erhaben waren sie für den Geschmack des Nobel-Kommittees an der schwedischen Akademie, anders als zum Beispiel die gekonnten Romane von Thomas Mann, die eine Tradition des neunzehnten Jahrhunderts als Epoche des massivsten Lesens fortsetzen wollten und mit elaborierten Schleifen der Selbstreflexion versahen.

1926 schrieb Martin Heidegger in wenigen Monaten die fast fünfhundert Seiten von “Sein und Zeit,” die ihn nach dem Erscheinen im April 1927 ebenso schnell zum Welt-Philosophen machten. Drei Jahre später begann José Ortega y Gasset den Traktat von der “Rebelión de las Masas” – in der vor 1900 so beliebten Form des Fortsetzungs-Romans – auf den Seiten der (von seiner Familie gegründeten) Tageszeitung “El Sol” zu publizieren und löste eine Leser-Resonanz aus, die auch ihn zum Welt-Autor machte, aber seinen Ruf in der akademischen Welt für immer beschädigte.

Diese intellektuelle Monumental-Produktion machte nicht halt vor der Jahrhunderthälfte, eher erreichte sie in der Dimension der Philosophie- und Theorie-Klassiker vor allem in Frankreich nach 1950 ihren Höhepunkt. Jean-Paul Sartre veröffentlichte eine “Kritik der dialektischen Vernunft” und unter dem Titel “Der Idiot der Familie” seine damals mit Spannung erwartete und als “Psychoanalyse” angelegte Biographie von Gustave Flaubert, dem eindrucksvollsten aller realistischen Romanciers. Nicht viel später brachen wie ein Wetterumschlag im ideologischen Timbre und politischen Stil die Wunder-Jahre von Michel Foucaults “Ordnung der Dinge,” Jacques Derridas “Grammatologie” und dem “Anti-Ödipus” von Gilles Delueze und Félix Guattari über die erstaunlich geneigten Leser herein, parallel zu den eindrucksvollsten Jahren des nordamerikanischen Romans von William Faulkner bis zu Thomas Pynchon und zum sogenannten “Boom” der südamerikanischen Autoren zwischen dem nur verhalten monumentalen Jorge Luis Borges über Joao Guimaraes Rosa aus Brasilien bis zu dem großen Kolumbianer Gabriel García Márquez. Zum Zeitalter jener Bücher gehörten auch Hollywood-Filme im epischen Format, wie sie nach Francis Coppolas “Godfather” nie mehr gelungen sind.

Als 1983 “Le Différend” (“Der Widerstreit”) erschien, ein philosophisches Buch, das Jean-François Lyotard zurecht für sein “magnum opus” hielt, weil es Ludwig Wittgensteins Intuition von der sozialen Vielfalt der Sprachspiele zur gnadenlosen Konsequenz ihrer wechselsetigen Unvereinbarkeit weiterführte, schien die Energie der Rezeption und der Appetit auf große intellektuelle Bücher verschwunden. Die Diskussion von “Le Différend” blieb akademisch, und seine existentielle Provokation hat wohl kaum noch Lesern weh getan. Wer heute philosophische Texte liest, der erlebt – einmal abgesehen von der akademischen Produktion, die selten mehr als eine Spur individueller Bemühungen um berufliche Qualifizierung ist – eine Renaissance der Essay-Form, in der sich Talente zur Reflexion und respektable Stil-Talente überschneiden können.

Monumental im quantitativen Sinn sehen deshalb nur noch Bände mit “Gesammelten Essays” aus, die schnell und für immer auf den Regalen von Universitätsbibliothken verschwinden. Beliebt sind heute und näher bei der Literatur, in der kaum noch Autoren mit ganz großer Kraft auftreten, Autobiographien oder Tagebücher, die von der beliebig fortsetzbaren Akkumulation ihrer einzelnen Momente leben, wie sie auch zur Gattung der “Blogs” gehört — und vor allen zu jenen Fernseh-“Serien,” ohne deren Kenntnis man nicht mehr an halbwegs kultivierten Konversationen teilnehmen kann (während der individuelle Zugang zu ihnen dank elektronischer Technologie von den festen Sendezeiten früherer Tage unabhängig geworden ist).

Ab und an erscheint noch ein großes Buch im klassischen Format, wie Jonathan Littells tausendseitiger Roman “Les Bienveillantes,” der 2006 im französischen Original publiziert wurde. Der Werk gewann hinreichend Preise, löste einige (eher moralisch und politisch gestimmte) Diskussionen aus – und änderte doch nichts am dominanten Trend der seriellen Formen. Auch dieser Trend sollte uns freilich nicht zum Anlass für kulturkritisches Jammern werden. Die Literaten, akademischen Philosophen und öffentlich ambitionierten Intellektuellen sind weder ausgestorben noch plötzlich auf ein allzu bescheidenes Niveau gefallen. Sie produzieren weiter faszinierende Bilder und respektable Ideen, aber vor allem eben in Essays, Blogs, Tagebüchern (war Peter Sloterdijk je besser als in “Zeilen und Tagen”?) und – Gedichten (wenn der Eindruck unter meinen Studenten nicht täuscht, dann hat eine Renaissance des Intellektuellen-Gedichts etwa im Gestus, kaum mit der Qualität von Gottfried Benn eingesetzt).

Allein die Geduld zum Lesen und gewiss auch zum Schreiben der ganz großen Bücher scheint verloren gegangen – und es ist ebenso banal wie zutreffend, diese Verschiebung mit der elektronischen Technologie zu assoziieren, die unser aller globalen Alltag beherrscht. Aber wie genau – und warum? Was sich vor allem vollzogen und eingestellt hat (aber nur selten erwähnt wird), ist eine Durchherrschung des Lebens von nie mehr unterbrochener Dauer-Kommunikation. Vor wenigen Jahren wirkten sie noch ganz pathologisch, jene Gestalten, die allein über den Campus gehen und mit sich selbst zu reden scheinen, während sie in Wirklichkeit mit ihrer Geliebten oder der Schwiegermutter telephonisch verbunden sind. Wartezeiten und Warteschlangen haben für sie jeden Schrecken verloren, weil sie die lange herbeigesehnte Chance bieten, alle Kommunikationsverpflichtungen abzuarbeiten. Und niemand muss (oder darf?) mehr einsam sein in einer Welt, wo ”availability” zur grundlegendsten aller Verpflichtungen zu werden droht. Kommunikation durchdringt und verdirbt dann selbst sinnliche Freude, denken Sie nur an all die hilflosen Sommelier-Wörter, die den prägnanten Geschmack des Weins verderben — und deren unendlicher Fluss ja vielleicht wirklich allein angesichts serieller Strukturen ins Stocken kommt.

Zum ganz Anderen wird in dieser Umwelt das große Buch. Natürlich ist es auch und immer noch ein Medium der Kommunikation, aber einer Kommunikation zwischen zwei weit von einander entfernten Inseln existentieller Einsamkeit, die nie in Sichtweite kommen und durch beliebige zeitliche Distanzen getrennt sein mögen. Je mehr man “verfügbar” sein muss, desto lieber wird man von solcher Einsamkeit träumen – ohne sich gleich für intellektuell überlegen oder gar einen “besseren Menschen” zu halten, aber auch ohne wieder große Bücher zu lesen.

10. Feb. 2018
von Hans Ulrich Gumbrecht

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27. Jan. 2018
von Hans Ulrich Gumbrecht

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Warum Trump funktioniert – bisher

Beim Amtsantritt von Donald Trump vor gut einem Jahr standen sich in den öffentlichen Stellungnahmen seiner Kritiker zwei deutlich divergente Prognose-Tendenzen gegenüber – weniger klar war allerdings, welche von ihnen als “optimistisch” und welche als “pessimistisch” gelten sollte oder konnte. Nicht wenige Kommentare vermuteten, der neue Präsident werde einen gegenüber seinem doppelten amerikanischen Wahlkampf etwas konventionelleren politischen Stil und eine sowohl kohärentere als auch konsequenter verfolgte Vision bestimmter Ziele entwickeln; auf der anderen Seite stand die Überzeugung, dass man den wahren Trump bereits in den vorausgehenden Monaten mehr als hinreichend kennengelernt habe.

Bestätigt hat sich – täglich und viel massiver wohl als selbst Trumps Anhänger hätten hoffen und sich vorstellen können – die zweite Vermutung. Denn auch im Weißen Haus reagiert Donald Trump stets kurzfristig auf Impulse des jeweils jüngsten Moments, anscheinend unter dem beständigen Drang, positive Resonanzen zu verstärken, und ohne Sorge um Widersprüche oder zentrifugale Effekte jeweiliger Entscheidungen. Nur wenige Wahlversprechen wurden erfüllt, ohne dass seine Fans dem Präsidenten dies übelgenommen hätten. Das im Wahlkampf so emblematische Projekt einer gegen mexikanische Einwanderer gesetzten Maurer ist in den Hintergrund gerückt, ohne vollkommen aus den Twitter-Botschaften des Präsidenten verschwunden zu sein. Sein persönliches Verhältnis zu Wladimir Putin und mithin die außenpolitischen Beziehungen zu Russland sind nicht vom Fleck gekommen. Die Besetzung politischer und administrativer Rollen in der neuen Regierung schien sich anfangs ohne einen Gesamtplan zu vollziehen, führte dann zu Monaten von erstaunlicher Instabilität, die ihren Höhepunkt in der Trennung von dem für Trumps Wahlkampf so wichtigen Stephen Bannon erreichte — und hat sich inzwischen wohl konsolidiert. Vielfache Vorwürfe und Anklagen, die zu einem Impeachment führen könnten, sind bis heute nicht neutralisiert. Und daneben hat der gegenwärtige Präsident mit seinen ausführlichen Golf-Wochenenden bestätigt, was man schon seit George W. Bush ahnte: Chef der amerikanischen Regierung zu sein, verlangt nicht unbedingt einen dicht gefüllten Zeitplan.

Das nationale und internationale Bild dieser Präsidentschaft wirkte bisher, um es verhalten zu formulieren, außerordentlich farbig — und die globalen Medien malen diesen Eindruck täglich (und fast immer kritisch) weiter aus. Vor einem solchen, schon längst zur Normalität gewordenen Hintergrund aber beginnt sich die eine substantielle Überraschung abzuzeichnen, die Trumps so zahlreiche Gegner bisher entweder nicht registriert haben oder nicht nachvollziehen wollen (und daher mit einem Tabu der Wahrnehmung und Kommunikation versiegelt haben): anfang 2018 stehen die Vereinigten Staaten – im Hinblick auf die meisten politischen Zentral-Dimensionen – gar nicht schlecht da, wobei einige der “Erfolge,” soweit wir wissen, kaum den Absichten (oder eher: den Präferenzen) des Präsidenten entsprechen.

Ohne dass wirtschaftspolitische Maßnahmen der neuen Regierung noch Wirkung zeigen konnten, hat sich die Ökonomie im Land positiv genug entwickelt, um europäsche Beobachter von einem “amerikanischen Wirtschaftswunder” sprechen zu lassen, was wohl eher auf ihre eigene Überraschung verweist als auf einen objektiven Grad von Prosperität. Nach Monaten weltweit angstvoller Anspannung scheint nun eine Dynamik in das Verhältnis zwischen den beiden koreanischen Staaten gekommen zu sein, welche bis vor kurzem noch unvorstellbare Hoffnungen weckt. Die besten Universitäten des Landes könnten zwar mittelfristig immer noch aufgrund der erschwerten Einreisebedingungen und wegen des von Trump verursachten internationalen Image-Schadens ihren Status als Zentrum der globalen akademischen Eliten verlieren (und auch unter seiner sich abzeichnenden Steuerpolitik leiden), aber vorerst ist ihnen die Wirklichkeit einer solchen Krise erspart geblieben. Und nicht nur das Rechtssystem hat sich im Sinn der klassischen “Gewaltenteilung” mit Sanktionen gegen Übergriffe des Präsidenten bewährt, auch durch öffentliche Protestbewegungen und im Inneren der demokratischen Partei kommen mittlerweile Konturen von Widerstand und alternativen Positionen zum Vorschein, wie man sie in den Vereinigten Staaten lange Jahre vermisst hatte.

Natürlich sieht der Horizont der gegenwärtigen amerikanischen Innen- und Außenpolitik nicht ausnahmslos positiv aus – man muss nur an die jüngste (und inzwischen beinahe schon wieder vergessene) Blockade des Staatshaushalts denken, mit der die Demokraten auf analoge Manoever der Republikaner während der Obama-Jahre reagierten. Doch mit Sicherheit hat sich die vor einem Jahr noch durchaus rational aussehende Erwartung nicht erfüllt, nach der nachhaltiges Chaos im Zentrum der politischen Institution jedenfalls zu einer Implosion wesentlicher gesellschaftlicher Funktionen führen muss. Wie lässt sich diese – für viele von uns ebenso einschneidende wie trotz allem unangenehme – Überraschung erklären? Warum hat Trump bisher leider funktioniert?

Die Überraschung könnte erstens zu tun haben mit einer fundamental gewordenen Überschätzung der funktionalen Bedeutung von nationalen politischen Systemen, die ja auf Zeiten größerer nationaler Unabhängigkeit und Isolation zurückgehen. Viele der (meist nur halbherzig verfolgten) Maßnahmen Trumps haben zwar gerade einen Rückweg zu solcher nationalen Unabhängigkeit einzuleiten versucht, sind aber nicht nur an den Reaktionen des amerikanischen Rechtssystems, sondern auch an der globalen Verzahnung wirtschaftlicher und außenpolitischer Bewegungen gescheitert. Paradoxalerweise ähneln unter dieser Perspektive Trumps Illusionen hinsichtlich des ihm gegebenen Handlungsspielraums durchaus den manchmal hysterisch wirkenden Befürchtungen seiner Gegner im Bezug auf die Machtfülle des Präsidenten. Ambivalenter – und mithin riskanter – ist zweitens die These, nach der das Chaos im Inneren der amerikanischen Politik einige seit langem verfahrene Situationen (ohne eine solche Absicht, doch mit positiven Auswirkungen) destabilisiert hat. Nirgends wurde dies in einer massiver grotesken Szene sichtbar als in jener von Fox News live aus dem Weißen Haus übertragenen Diskussion des Präsidenten mit republikanischen und demokratischen Angeordneten, bei der ausgerechnet er zuerst die Möglichkeit einer Legalisierung illegal eingewanderter Mexikaner zur Sprache brachte.

Vielleicht haben auch gerade die ganz und gar inkonsistenten Reaktionen der Trump-Regierung auf die nordkoreanische Nuklearbedrohung erst die neuen direkten Verhandlungen zwischen beiden koreanischen Staaten motiviert. Auf einer abstrakteren Ebene der Reflexion könnte man am Ende und drittens fragen, ob denn Trumps hölzerner Anspruch, einen angeblich durch und durch korrupten Status der Politik in Washington durch den in seiner Sicht effizienteren und gerechteren Stil der Geschäftswelt zu ersetzen, als erfolgreicher Übergang in eine post-politische Welt zu deuten ist. An die Stelle der langfristigen Entwicklung von immer neuen internationalen Koalitionen und Strategien, die so oft an ihrer eigenen Komplexität und an der aus ihr folgenden Fragilität gescheitert sind, wäre dann eine Viefalt lokaler Instabilitäts-Zentren getreten, welche, statt die Welt in den Abgrund zu treiben, durch ihre dezentralen Interaktionen die globale politische Szene in überschaubar lokale Gesprächs- und Lösungsansätze verwandeln. Hier könnte der Beginn einer neuen – und paradoxalen — weltpolitischen Szene liegen (System-Stabilität aufgrund allgegenwärtiger Instabilität), auf der Trump selbst ab und an Erfolge verzeichnen kann, ohne sie als Formen wahrzunehmen oder gar zu verstehen.

Solche Überlegungen mögen aussehen wie eine Trump-Verteidigung ohne Mut zur Offenheit. Nichts liegt mir ferner. Natürlich empfinde ich – als Intellektueller in der Tradition von 1968 – seit Trumps Wahl mehr als nur einen Hauch von Peinlichkeit, wenn immer ich mit meinem amerikanischen Pass Grenzen überschreite — und vor allem habe ich zu lange auf Vernunft als Grundlage guter Politik gesetzt, um nun Trumps Politik anders denn als profunde Irritation zu erleben oder mich gar von ihren gelegentlichen Erfolgsmomenten umstimmen zu lassen. Kann ich wenigstens auf ein Impeachment und seine Amtsenthebung hoffen? “Hoffen” ohne weiteres, da Vizepräsident Mike Pence als sein potentieller Nachfolger für eine deutlicher definierte ideologische Position steht, die von meinen Vorstellungen einer lebenswerten Gesellschaft noch weiter entfernt ist als das Trump-Chaos. Es ist jedenfalls Zeit, sich von der Hoffnung auf ein schnelles Ende der 2016 gewählten amerikanischen Regierung zu verabschieden.

Eher lässt das Ausbleiben des ursprünglich ja fast mit Gewissheit erwarteten Scheiterns mittlerweile sogar eine Wiederwahl von Donald Trump möglich (wenn nicht wahrscheinlich) erscheinen — und führt zur weiteren Normalisierung jenes politischen Stils, der sich im dynamischen Feld zwischen subjektiven Impulsen und der Sehnsucht nach permanenter kollektiver Resonanzverstärkung vollzieht. Mit jedem neuen Trump-Moment geht aber auch – und dies gehört nun tatsächlich zu seinem Programm — mehr von jener Aura und Würde des Präsidentenamts verloren, welche die politische Praxis einer großen Tradition gerahmt hatte und für die sein Vorgänger Barack Obama zum erstenmal seit John F. Kennedy wieder neue Formen fand. Vor allem wird angesichts der außergewöhnlichen militärischen Machtposition des amerikanischen Präsidenten kein Tag unter Trump vergehen, an dessen Ende wir nicht erleichtert sein müssen, wenn uns eine nukleare – und in ihren Auswirkungen gewiss irreversible – Intervention erspart geblieben ist.

Diese sich immer wieder einstellende und ja durchaus berechtigte Furcht vor gravierenden Krisen sollte allerdings gerade uns Intellektuelle nicht von der Pflicht entbinden, die eigenen Überzeugungen und Erwartungen zu revidieren, mit denen wir auf Trumps Wahl reagiert hatten. Denn statt jene Erwartungen zu bestätigen, könnte es sein, dass Trump, ohne dies zu beabsichtigen oder auch nur zu sehen, als verkörperte Emergenz einer – vielleicht verheerenden, vielleicht befreienden — Alternative zur klassischen Politik agiert. Seine sicher keinen schnellen Abschied mehr ankündigende Präsenz im Weissen Haus gibt uns jedenfalls vielfältige Anlässe zu neuem Denken auf.

27. Jan. 2018
von Hans Ulrich Gumbrecht

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13. Jan. 2018
von Hans Ulrich Gumbrecht

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Jüngste Version des persönlichen Glücks?

Nichts hatte meinen siebenjährigen Enkel Diego mehr zu allerhand mathematischen Übungen angespornt als der Gedanke an den “sehr bald,” sagte er immer, anstehenden hundertsten Geburtstag seiner Urgroßtante. Er wusste, wieviel jünger all die anderen Familienmitglieder (“sogar” sein Großvater) waren, wieviele Tage uns noch von dem Fest trennten, das er sich in allen möglichen Farben ausmalte, und kannte selbst die Daten der nächsten potentiellen Hunderter-Geburtstage unter den Verwandten. Jetzt ist die Urgroßtante ebenso schnell wie unerwartet, das war bis zum Ende ihr Stil gewesen, an einem Vorweihnachtstag in ihrem neunundneunzigsten Lebensjahr gestorben und ließ Diego mit der Aufgabe zurück, sich einen ganz neuen Zeitrahmen zu erfinden.

Für mich hat dieser Tod die zugleich banale und schwierige Frage aktiviert, was denn heute zu einem glücklichen Leben gehört. Als ich die ältere Schwester meines Vaters vor ziemlich genau zwei Jahren zum letzten Mal sah, stand sie noch zu aktiv und selbstverständlich in ihrem sehr konkreten Leben, um solche herbstlichen Gedanken anzustoßen. Sie trug die Modefarbe der Saison, fuhr ohne Probleme (allerdings nicht selten mit herzhaften Geschwindigkeitsüberschreitungen) ihren eleganten Wagen und bekochte jedes Wochenende im eigenen Haus, das sie allein bewohnte, die zahlreichen Enkel und Urenkel. Bei allen Gesprächen wirkte sie konzentriert, zugewandt und charmant, ohne nach Aufmerksamkeit zu heischen. Dann überfiel sie plötzlich ein Schlaganfall und wenige Wochen später ein Herzinfarkt, gefolgt von einem Sturz im Krankenhauszimmer, der den definitiven Kollaps ihrer Lebensfunktionen auslöste.

Ohne besondere Verwunderung nahm die Familie wahr, dass die Matriarchin auch ihren Lebens-Ausgang mit ganzer Wachheit vorbereitet (und ohnehin vor-bezahlt) hatte: Aussegnungszeremonie und Einäscherung waren mit einer Bestattungsfirma besprochen und die Urne ausgesucht. Und als die ernsten Feiern vorbei waren — hinterließen das Leben wie die Lebhaftigkeit meiner Tante ein Vakuum, das nun Erinnerungen und erstaunlicherweise auch Fragen über die Zukunft stimuliert. Einen Grundschullehrer und Wehrmachtsoffizier hatte sie sehr jung geheiratet, und mit ihm war es ihr gelungen, aus den vom Stiefvater hinterlassenen Resten eines Kfz-Geschäfts in wenigen Jahren einen modernen und höchst profitablen Betrieb zu machen; abstrakten Expressionismus sammelten die beiden zum dumpfen Erstaunen aller Verwandten, sie bereisten die europäischen Kulturen außerhalb Deutschlands mit ihren drei Kindern in einer Citroën Déésse, engagierten sich für die jüdisch-deutsche Gemeinde, spielten Tennis mit den jeweils neuesten Metallschlägern, schickten die ältere Tochter auf eine Privatschule in der französischen Schweiz und förderten die Ausbildung ihrer jüngeren Tochter zur Konzertsängerin.

Allerdings verlief diese Existenz nicht einfach in den Spuren eines großbürgerlichen, ja kosmopolitischen Bildungsfahrplans, wie er kaum von ihrer eher dürftigen Schulbildung vorgegeben – und schon gar nicht in ihre Wiege gelegt – war. Noch in der Mitte des Lebens nahm sich diese Frau erotische Freiheiten, die ihre soziale Umwelt wohl nur deshalb ignorierte, weil sie jenseits des provinziellen Vorstellungsvermögens spielten — und in der Familie doch mindestens eine für immer unumkehrbare Verstimmung auslösten. Beinahe alle engen Verwandten jedoch gewann sie über die Liebe und Bewunderung ihrer Enkel zurück, weil sie Alter nie als eine Grenze von Beziehungen erlebte. Ebensowenig verbarg oder leugnete sie Tabubrüche und Exzentrizität. In jeder Begegnung blieben alle Aspekte ihrer Existenz präsent. So hatte ich sie aus der Distanz des Neffen geliebt, eher wegen als trotz der sichtbaren Narben. Ohne ihr ähnlich sein zu wollen oder zu können, habe ich in ihr eine ermutigende Herausforderung gesehen, umso mehr als sie nicht bereit war, als Vorbild missverstanden zu werden.

Nichts von all dem war mir in Begriffen fassbar, bevor Diegos Urgroßtante vor drei Wochen starb. An die Stelle lebendiger Präsenz ist nun eben die Ahnung getreten, dass sie eine Verkörperung von glücklichem Leben war – und damit auch die Frage, ob hier nicht vielleicht eine für heute attraktive Option lag. Sie führt dann zunächst weiter in philosophie- und begriffsgeschichtliche Archive, deren frühere Schichten und Antworten so sehr den einschlägigsten Erwartungen und abgegriffensten Diskursen entsprechen, dass ihnen jede Faszination abgeht. Individuelles Glück, liest man dort, soll sich aus der Konvergenz mit höheren Ebenen und Werten ergeben, genauer bei Aristoteles oder Kant: mit den Interessen der Gesellschaft als Tugend und Pflichterfüllung; als Nähe Gottes seit Augustinus und bei den Mystikern; und als natürliches Leben schließlich nach der Tradition der Stoa.

Resonanz in der eigenen existentiellen Situation – und ich vermute, das geht nicht nur mir so – findet inzwischen freilich allein jener praktische Gedanke, den zuerst Epikur formuliert hatte und den wir, fast nie ohne einen etwas empörten Unterton, “hedonistisch” nennen, obwohl uns die höher greifenden Alternativen längst nicht mehr wirklich als Hoffnungen auf Glück überzeugen. Nach Epikur sind Momente individuellen Glücks oder individueller Lust stets von Instabilität und von Effekten der Unlust bedroht, so dass ein wünschenswertes Leben nur in der Maximierung der positiven Momente – auch der positiven Momente für möglichst viele Menschen – liegen kann. Damit aber verschiebt sich die philosophische Reflexion auf die Identifikation von Bedingungsgefügen, welche statt Formeln stabilen Glücks zu entwerfen, den grundlegend prekären Status des Glücks erklären.

So genau verfährt Sigmund Freuds berühmter Essay über das “Unbehagen in der Kultur” aus dem Jahr 1930. Nachdem Freud in den einleitenden Absätzen als Gründe für die Prekarität von Glück unsere individuelle physische Konstitution mit ihren Krankheiten, die Enttäuschungen in Begegnungen mit anderen Menschen und auch Naturkatastrophen unterschieden und benannt hat, entwickelt er seine eigene, originelle Vision von der unausbleiblichen Spannung zwischen Libido und Todestrieb, welche beide als zugleich fremd- und selbstbezogen entfaltet werden. Die Verdienste und Probleme dieser Theorie sind in ihrer beinahe hundert Jahre langen Rezeptionsgeschichte mehr als nur hinreichend diskutiert worden.

Am Ende des Texts stößt man aber auf einen historisch spezifizierenden Kommentar über die Zeit seiner Enstehung, der ein interessantes Licht auf unsere Glücks-Situation im frühen einundzwanzigsten Jahrhundert wirft: “Die Menschen haben es jetzt” schreibt Freud, “in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, dass sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung. Und nun ist zu erwarten, dass die andere Seite der beiden ‘himmlischen Mächte,’ der ewige Eros, eine Anstrengung machen wird, um sich im Kampf mit seinem ebenso unsterblichen Gegner zu behaupten.” Wir wissen, wie sich während der fünfzehn Jahre nach 1930 der Todestrieb “mit Hilfe der Kulturkäfte”, um bei Freuds Terminologie zu bleiben, in einer vorher und nachher nie mehr erreichten Intensität artikuliert hat, die mit den Bombardements von Hiroschima und Nagasaki vom August 1945 ihren Höhepunkt erreichte.

Hingegen gehört es noch immer nicht zum Repertoire unserer intellektuellen Diskurse, in der Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine “Anstrengung des ewigen Eros” als Reaktion auf die vorherige Dominanz des Todestriebs zu suchen und zu lokalisieren. Dabei ist gerade diese Bewegung seit 2011 jährlich in einer aufwendigen empirischen Dokumentation der Vereinten Nation zugänglich. Ich beziehe mich auf den (durchaus ernst gemeinten) “World Happiness Report,” dessen erste zehn Positionen 2017 wie folgt besetzt waren: Norwegen, Dänemark, Island, Schweiz, Finnland, Niederlande, Kanada, Neuseeland, Australien und Schweden.

Ins Auge sticht natürlich, eher erwartungsgemäß, das Herausragen der fünf skandinavischen Nationen, deren gemeinsame Grundstruktur man, unabhängig von parteipolitischen Fluktuationen, immer noch als “sozialdemokratisch” charakterisieren wird. In der Form der Sozialdemokratie, bedeutet das weiter, hat die “Anstrengung des ewigen Eros” wohl ihre langfristig erfolgreiche Manifestation gefunden. Anscheinend wird individuelles Glück am breitesten in Gesellschaften erlebt, die dem Staat das Recht auf weitreichende und immer in Richtung auf mehr Gleichheit ausgerichtete Umverteilungen durch Steuerforderungen geben und als Gegenleistung die Erwartung eines hohen Grads stabiler Versorgung und Sicherheit institutionalisieren wollen. Zugleich wird das private Leben der Individuen, einschließlich der Ausbildung ihrer Strukturen von wechselseitiger Sympathie und Liebe, auf Distanz zu jeglichen staatlichen Interventionen gesetzt. Individuelle Freizeit und die Freiheit zu kulturell-individueller Lebensgestaltung gelten als zentrale Ansprüche, und der einzige – von innen allerdings kaum wahrnehmbare – Konformitätsdruck geht im sozialdemokratischen Alltag von der Annahme eben dieses Modells aus, das auf diese Weise mehr und mehr “natürlich” wirkt.

Bei entsprechender politischer Interessenlage könnte man die von Freuds Essay ausgehende Schluss-Frage an dieser Stelle als beantwortet verabschieden – und vielleicht noch am Rande erwähnen, dass die eher “un-sozialdemokratischen” Vereinigten Staaten einen überraschenden vierzehnten und Deutschland einen offenbar stabilen sechzehnten Platz belegen. Auf der – nicht unbedingt “politisch” – anderen Seite allerdings ist bemerkenswert, dass einige jener europäischen Gesellschaften, die als klassische Orte der Individualkultur gelten, in der Dokumentation der Vereinten Nationen abgeschlagen sind. Das gilt für Frankreich, (31) aber auch für Spanien (34), Italien (48), Ungarn (75), Griechenland (87) oder Portugal (89) – und bleibt erstaunlich, selbst wenn man in den letzteren Fällen ungünstige wirtschaftliche Konjunkturen in Rechnung stellen möchte.

Gewiss ist es an dieser Stelle angebracht bis unvermeidlich, generelle Skepsis gegenüber dem Ansatz einer solchen Dokumentation und spezifische Skepsis in Bezug auf zugrundeliegende Qualitäts-Parameter zu äußern, die offenbar allzu nah bei der sozialdemokratischen Realität liegen. Aber vielleicht gibt es ja doch eine – heute wieder in den Vordergrund rückende — Komponente des individuellen Glücks, der die ausgeprägt sozialdemokratischen Rahmen des Lebens nicht gerecht werden können. Ich meine – auf der Gegenseite maximaler Existenz-Sicherheit – die Offenheit von Erwartungen und auch den Charme der Überraschung; die Bereitschaft, Kontrolle über die Konsequenzen eigenen Handelns aufs Spiel zu setzen, und die Lust, Teil jener nicht mehr individuellen Bewegungen von Kontingenz hin zu Formen zu werden, die uns als “Intensität” faszinieren und bewegen; oder, zum letzten Mal in Freud’schen Begriffen, es geht um einen Eros, der Risiko akzeptiert und gerade jenen Widerstand braucht, den der perfekte Wohlfahrtsstaat vorsorgend einklammert und blockiert. Vielleicht geht es tatsächlich um einen Eros des Risikos.

Hier zeigen sich nicht nur, innerhalb einer Ästhetik der Existenz, Alternativen zur orthodoxen Sozialdemokratie, sondern auch Modi des individuellen Lebens “in der Kultur,” welche ihrerseits mittlerweile auf die erste, nicht nur in Skandinavien so überaus erfolgreiche Reaktion auf die Dominanz des Todestriebes reagiert haben. Über die Tradition des individuellen Hedonismus-Arguments hinaus ließe sich dann weiter spekulieren, dass der Eros des Risikos – und des Loslassens – auch als unerlässliche Voraussetzung jener Innovationen und Erfindungen wirkt, die unser Leben irreversibel verändern, statt bloß entlang vorhersehbarer Projektionen zu entwickeln.

Ohne es zu wissen,hatte Diegos Urgroßtante mit einem solchen Eros des Risikos gelebt, ihr Leben zuende gebracht — und damit die jüngste Version von glücklichem Leben vorweggenommen. Das war die Schönheit ihrer Existenz, die wir erlebten und von der ich hoffe, dass sie auch Diego eines Tages gegenwärtig wird – wenn er die Enttäuschung über den nicht erreichten hundertsten Geburtstag längst vergessen hat.

13. Jan. 2018
von Hans Ulrich Gumbrecht

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30. Dez. 2017
von Hans Ulrich Gumbrecht

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Die Rückkehr des Antisemitismus und sein bleibender Status in Deutschland

Nicht wenig war von Juden die Rede in meiner deutschen Nachkriegskindheit, und zugleich schien es ganz natürlich, dass ich nie einen oder eine von ihnen zu sehen bekam, obwohl sie, wie ich fast täglich hörte, ganz in der Nähe wohnten, “um die Ecke” sozusagen. Ähnlich den Heinzelmännchen oder Schutzengeln, Trollen oder Giftzwergen gehörten sie zu jenem Weltbild, das noch keine Grenzen zwischen Wirklichkeit und Vorstellung braucht. Mein Vater, ein aufstrebender Chirurg an der örtlichen Universitätsklinik, erzählte oft, wenn er spät nachhause kam, er habe noch “im jüdischen Altersheim vorbeigeschaut,” freiwillig und ohne Honorar — aber eine “Kollektivschuld,” dieser Zusatz gehörte dazu, werde er nie und nimmer anerkennen. Keine Ahnung hatte ich, warum die jüdischen Patienten nicht wie alle anderen “in die Klinik kamen,” und noch viel weniger wusste ich mit dem Wort “Kollektivschuld” anzufangen, das immerhin, an der Reaktion meines Vaters gemessen, mit unangenehmen und wohl auch ungerechten Zumutungen zu tun haben musste.

Sonntagmittags bekamen die Juden Gesichter und bald auch eine eigenartige Sprache in den nie endenden Witzen, die der Besitzer eines gehobenen Restaurants (“Hotel Lämmle am Marktplatz”) meinen Eltern erzählte, als sie auf ihrem wirtschaftswunderlich-sozialen Aufstieg ein Dreigang-Menu nach der Hochmesse zum Status-bestätigenden Ritual erhoben hatten. Alle Juden in den Geschichten des eleganten Gastgebers, der statt dem üblichen Mercedes einen Chevy Impala fuhr und den ich beinahe so sehr bewunderte wie meine Mutter, alle Juden in seinen Geschichten hießen Abi oder Sami, waren auf Geld und oft auch junge Frauen aus, sprachen einen Dialekt mit gutturalen Lauten und waren, wie immer unterstellt blieb, an keinerlei Art von Hygiene interessiert. Auf jeden der Witze folgte ein kaum aggressives, beinahe herzliches Lachen und oft auch der Kommentar meines Vaters, dass dieser (jeweils) letzte Witz “ganz besonders gut gewesen sei.”

Bald konnte ich auch Judenwitze erzählen, was meine Eltern so stolz machte, dass ich bei Abendeinladungen nun eine kleine Unterhaltungsrolle zu spielen hatte. 1960 schließlich erschien die von der Schweizer Autorin Salcia Landmann herausgegebene Sammlung “Der jüdische Witz,” eingeleitet von Carlo Schmid, dem damals sozialdemokratischen Intellektuellen vom Dienst, und wurde, vor allem als permanentes Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenk, zu einem epochalen Erfolg – wohl einfach deshalb, weil diese Anthologie dem behäbig-fleißigen Mittelstand der Bundesrepublik bestätigte, “dass die Juden doch auch Humor hatten,” wie meine Mutter gerne sagte. Man wollte und konnte ihnen jetzt etwas vergeben, möglicherweise den humorlosen Vorwurf der “Kollektivschuld,” dachte ich, und sie wieder in die Gemeinschaft der Menschen, vieleicht sogar voller Großzügigkeit in die Gemeinschaft der Deutschen aufnehmen.

Auch im Gymnasium hörten wir dann beinahe plötzlich, ganz anders als auf der Grundschule, viel von den Juden, wenn immer nämlich unsere Lehrer erklärten, warum es soviele Ruinen in der Heimatstadt gab und all die Anstrengungen des Neuaufbaus nötig geworden waren. Deutschland hatte einen Krieg verloren, erfuhren wir, den es wohl besser nie angefangen hätte, viele Juden seien auf der Strecke geblieben (allerdings nicht ganz soviele, wie manche Politiker in Frankreich oder Amerika behaupteten), und wenn die Lehrer uns die eigentliche Wahrheit erzählen dürften, bemerkte sie am Rande, dann würde die Vergangenheit noch einmal ganz anders aussehen. So das zunächst überlieferte Bild von der jüngeren nationalen Geschichte, bevor wir ein paar Jahre später, nicht mehr weit von 1968, unsere eigenen Fragen stellen wollten. Nur ein einziger Studienrat, CSU-Mtglied übrigens, hatte mich je unterbrochen, als ich einen Judenwitz erzählte und das Wort “Itzich” gebrauchte, das ich von meinem Vater gelernt hatte.

Die alte Bundesrepublik war beinahe zwei Jahrzehnte lang eher behaglich mit ihrer unmittelbaren Vergangenheit umgegangen, nach eigener Wahrnehmung den Juden durchaus zugewandt, solange denen klar blieb, dass ihnen außer Adolf Hitler, Joseph Goebbels und Heinrich Himmler ja eigentlich niemand ein Leid hatte zufügen wollen. Dann aber schnitten sich Wörter wie “Shoa” oder “Holocaust” in die Sprache und das Bewusstsein unserer Generation ein; die schrecklich nüchterne Einsicht, dass zur deutschen Vergangenheit unverrückbar und singulär die Industrialisierung eines Genozids gehörte; dass im Entzug individueller Namen und den auf die Unterarme der Juden tätowierten Nummern die funktionale Rationalität der Aufklärung ihre Erfüllung erreicht hatte; und dass der Mord an sechs Millionen Juden, Zigeunern, Homosexuellen und allerhand anderen Anderen eher das kollektive Werk der nationalen Bürokratie und ihrer Eliten gewesen war als die ideologische Verschwörung weniger Nationalsozialisten (wie der junge Historiker Hans Mommsen damals gerade zur Empörung vieler seiner Kollegen gezeigt hatte).

Ein kurzer Moment der Klarheit öffnete sich, was das Verhältnis zwischen Antisemitismus und deutscher Nation angeht, und nicht zufällig geschah dies in den frühen Jahren der Kanzlerschaft von Willy Brandt: als deutlich wurde, dass eine neue Nation nur um die Bedingung eines schonungslos offenen Blicks auf die eigene Vergangenheit zu haben war; dass es für die Historiker nicht um eine lauwarme “Vermittlung” der Vergangenheit mit der Gegenwart gehen konnte, sondern allein um die schonungslosen Konturen im Bild der Vergangenheit; dass nur so, nur um die Bedingung dieser Schonungslosigkeit mit sich selbst, die alten und neuen Deutschen mit ihren Opfern von einst und deren Nachfahren vielleicht würden leben könnten, weil jede Relativierung der eigenen Taten in Deutschland als Bejahung der eigenen nationalen Vergangenheit wirksam werden musste; und dass “Nation” sein für jede Gesellschaft wesentlich bedeutete, unabhängig von allen anderen die Momente der Schande aus ihrer eigenen Geschichte ins Auge zu fassen.

Dieser Wille zur Klarheit begann seit dem 5. September 1972 wieder zu schwinden, seit dem Tag des palästinischen Attentats auf die Mannschaft Israels bei den Olympischen Spielen von München. Seither ist die deutsche Vergangenheit erneut in Prozesse einer unendlichen Modifikation eingetreten, die sie zu einer Funktion der je eigenen weltpolitischen Positionen und Interessen machen (“wir müssen auch zur islamischen Welt eine positive Beziehung haben”) – und die mittlerweile Deutschland erneut in eine Haltung der humanitären Großzügigkeit gegenüber Juden und Israelis versetzt hat, welche an die Zeiten der Salcia Landmann-Anthologie erinnert.

Die Tendenz der revisionistischen Rückbewegung wurde international sichtbar im sogenannten “Historikerstreit” der achtziger Jahren, als der Holocaust zum Teil einer internationalen Verbrechenstypologie werden sollte – mit dem unvermeintlichen Effekt seiner Relativierung. Einmal abgesehen davon, dass ich die beamtenartige Nüchternheit in der Industrialisierung des Genozids unter Befehl des ehemaligen deutschen Staates für welthistorisch singulär ansehe, kommt es auf solche an sich absurde Vergleiche und “Rankings” von Menchheitsverbrechen wirklich nicht an. Denn wenn eine Gesellschaft zur Nation werden und Nation bleiben will, so wird dies — aufgrund der Tradition des Begriffs und des institutionellen Rahmens der “Nation,” wie sie im frühen neunzehnten Jahrhundert entstanden waren — nur unter vollem Einschluss der eigenen Vergangenheit geschehen. Eben deshalb kann die Konfrontationen mit ihren je eigenen und spezifischen Vergangenheiten allein die individuellen Aufgabe jeder Nation sein – und nie die Aufrechnung der eigenen mit den Verbrechen der anderen Nationen.

Demgegenüber zählen all jene vermeintlichen “Entlastungen” nicht, die wie eine kürzlich veröffentlichte Studie des deutschen Innenministeriums zeigt, auf das scheinbar freundliche Gesicht des neuen Antisemistismus geschrieben sind. Es wird erstens natürlich kein Datum geben, zu dem die nationale deutsche Verantwortung gegenüber den Juden (und allen anderen Opfern des sogenannten “Dritten Reiches”) abgelaufen ist, so wie zweitens niemand wirklich Mitglied der deutschen Nation werden kann, ohne Verantwortung auch für diese Vergangenheit mit zu übernehmen — was der heutige deutsche Staat wohl seinen neuen, vor allem islamischen Bürgern nicht immer hinreichend klar macht. Drittens dürfen Interpretationen der Geschichte und der politischen Gegenwart von Israel keinesfalls mit der deutschen Vergangenheit verrechnet werden. Als sich der damals neue deutsche Außenminister bei seinem israelischen Antrittsbesuch während des vergangenen Frühjahrs ausgerechnet am Holocaust-Gedenktag zu Verhandlungen mit palästinischen Politikern traf, hat er – absichtlich oder nicht – genau diesen fatalen Eindruck erweckt, einmal ganz abgesehen vom Antrittsbesuch des gegenwärtigen deutschen Präsidenten, der ausgerechnet mit einer Kranzniederlegung am Grab von Yassir Arafat begann.

Viertens sind auch die politische Unzufriedenheit vieler (nicht nur junger) Israelis und ihre Überzeugung, dass die eigene nationale Identität nicht auf das Opfer-Ereignis der Shoa begründet werden sollte, von der deutschen Konfrontation mit derselben Vergangenheit getrennt zu halten. Vielleicht sollte man umgekehrt tatsächlich so weit gehen zu fordern, dass in langfristigen Zukunftsperspektiven die Handlungsfreiheit der deutschen Poliitk, was Israel angeht, durch die eigene Vergangenheit zu begrenzen ist – und genau diesem Sinn haben ja auch einige der großen deutschen Politiker seit 1945 gehandelt.

Auf einer ganz anderen, nämlich der viel weniger philosophischen Ebene von alltäglichen Fakten wäre sicher zu wünschen, dass gerade die deutschen Medien gewisse Tabus brächen, die sich über die Möglichkeit eines positiven Tons in der Berichterstattung zu Israel gelegt haben. Wieviele Deutsche wissen, dass das Arabische eine National- und Parlamentssprache in Israel ist? Dass sich mehr als zwanzig Prozent der Bürger von Israel als Araber und Palästiner identifizieren und an einem Lebensstandard teilhaben, der deutlich über dem der benachbarten arabischen Staaten liegt? Dass Benjamin Netanyahu als demokratisch gewählter Premierminister des Landes einer extrem scharfen politischen Opposition und juristischen Aufsicht innerhalb des Landes ausgesetzt ist? Dass Israel gerade auch deshalb als ein klassisch demokratisches Land gelten muss, was die Standards des alltäglichen Diskussionen und Auseiandersetzung angeht? Und eigentlich wäre auch festzustellen, dass die Bestätigung von Jerusalem als Hauptstadt Israels durch den amerikanischen Präsidenten, so ungeschickt sie in den strategischen Kontexten der Weltpolotik gewesen sein mag, nicht mehr und nicht weniger als eine aufgrund der politischen Kraft Israels durchaus funktionierende Realität unterstreicht.

Für Israel ist es schwer, in der internationalen Öffentlichkeit ein adäquates – und das heißt vor allem: hinreichend komplexes – Bild seiner selbst zu etablieren, angesichts des wachsenden politischen Drucks, der vom raumfordernden Islamismus ausgeht. In Deutschland hat sich mittlerweile erneut ein Konsens eingespielt, der mit jenen grotesken Moment von 1960 konvergiert, als man den Juden “Humor” konzedierte und sie so wieder auf Menschlichkeits-Status erheben wollte. Heute kritisiert man zwar das Verbrennen israelischer Fahnen in der Innenstadt von Berlin – erinnert aber zugleich daran, dass es keine rechtliche Handhabe gegenüber dem Verbrennen irgendwelcher Flaggen (außer der deutschen) gibt, was bedeutet, dass man Israel — durchaus großzügig — als eine von vielen anderen Nationen betrachtet.

Aber es ist eben nicht dasselbe, ob israelische Flaggen in Moskau, New York und Buenos Aires oder in Berlin, München und Lüneburg verbrannt werden. Die in Deutschland verbrannten israelischen Flaggen bejahen die deutsche Vergangenheit, und das kann sich Deutschland nicht leisten, wenn es je wieder eine Nation mit Würde werden will – auch dann nicht, wenn es seine neuen islamischen Bürger das Flaggenverbrennen erledigen lässt.

30. Dez. 2017
von Hans Ulrich Gumbrecht

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16. Dez. 2017
von Hans Ulrich Gumbrecht

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Wem kann am Überleben der Menschheit gelegen sein?

Viel Neues wird Woche für Woche meinen beiden Enkelkindern abverlangt, die in einem oberbayerischen Dorf zur Grundschule gehen und als selbstverständliche Pflicht ansehen, woran wirklich niemand dachte, als ich selbst vor ungefähr sechzig Jahren ein Zweit-, Dritt- und Viertklässer im selben Bundesland war. Bei jedem meiner Besuche, so bemerke ich und schwöre Besserung, sind Clara und Diego enttäuscht, ratlos und auch besorgt zu sehen, wie wenig Begeisterung die beständig wachsende Komplexität ihrer Trennmüllunterscheidungskompetenzen bei mir auszulösen vermag – um aus großväterlicher Peinlichkeitauf flagrante Fehler im aktuellen Entsorgungsverhalten erst gar nicht einzugehen. Siebzig Kilometer südlich, in der Landeshauptstadt, lebt, lehrt und denkt ein von mir sehr bewunderter Kollege, den meine Studenten an der amerikanischen Pazifikküste wohl nie kennenlernen werden, weil er sich seit langem schon das Fliegen aus Gründen verboten hat, die sich naturwissenschaftlich eindrucksvoll illustrieren lassen. Und seit gut zwei Wochen lernt meine Frau in Kalifornien auf ein ausschließlich batteriebetriebenes Auto um, mit erheblichem Zeitaufwand, dessen finanziellen Wert sie lieber nicht zum Kaufpreis addieren will.

Ohne Murren verlangen sich also viele von uns, “aus ökologischen Gründen,” wie sie eigentlich vage, aber doch mit großer Bestimmheit sagen, weil noch nie ein moralischer Imperativ derart kategorisch schien, ohne Murren und Klagen verlangen wir uns erheblichen, immer wachsenden Neu-Aufwand in allen Dimensionen unserer Existenz ab. Wir wollen weiterem (vor allem irreversiblem) Schaden an der für unser Leben als Gattung notwendigen Umwelt vorbauen und zugleich so sparsam als möglich mit den als existentiell unverzichtbar vorausgesetzten Rohstoffen (im weitesten Sinn des Wortes) umgehen. Dabei beziehen wir uns auf mindestens zwei verschiedene, nacheinander gestaffelte Schreckens-Horizonte der Zukunft. Auf die mittlerweile wohl verlässlich hochgerechneten Auswirkungen der sich vor unseren Augen vollziehenden Klimakatastrophe; aber auch auf ein im Sinn von maximaler Nachhaltigkeit (philosophisch und theologisch: auf Ewigkeit) ausgelegtes Leben der Gattung Mensch in respektvoller Interaktion mit dem Planeten “Erde.”

Natürlich werden vor allem im freundlich wohlfahrtsstaatlichen Klima Europas all diese zu Regeln gewordenen Verhaltens- und Verzichtanforderungen “ethisch” genannt, was im alltäglichen Sorachgebrauch von heute bedeutet, dass man ihr übergeordnetes Interesse für die Menschheit von jeder denkbaren Diskussion ausnimmt – und auch eine auffällige Kantigkeit bei der Beschreibung einschlägiger Werte und Pflichten erklärt. Kaum in den Blick geraten kann freilich angesichts dieses überwältigenden Konsensus die Frage nach den Gründen für den zweiten, auf Ewigkeit gestellten Zukunftshorizont, die Frage nach der Tunlichkeit und auch nach der konkreten Möglichkeit eines dauerhaften Überlebens der Menschheit. Ihr virtuell argumentativer Ort, können wir vermuten, ist markiert vom Konflikt zwischen zwei langfristig wirksamen und wohl kaum zu unterdrückenden Impulsen: vom Konflikt zwischen einem uns allen vertrauten individuellen Impuls von vitaler Intensität, welcher der Umwelt oft Schaden zufügt, und jenem schwerer fassbaren kollektiven Impuls hin zum Überleben als Gattung, der, sollte er denn tatsächlich übergreifend und unvermeidlich sein, außerhalb der Gattung Menschheit nur schwer vorstellbar ist (denn was immer der Grund für das Verschwinden der Riesenechsen gewesen sein mag, niemand malt sich ein kollektives Aufbäumen der Saurier gegen jenes Ende aus).

Gerade weil aber die Frage nach den (potentiell guten) Gründen für den Traum vom Menscheitsüberleben dergestalt hinter einem ethisch markierten Tabu verschwunden ist, hat die Energie der beiden erwähnten Impulse neue narrative Rahmenstrukturen unserer Existenz, ja veritable neue Epen hervorgebracht. Auf der einen Seite sind wir alle mit dem düsteren Epos einer transzendentalen Bestrafung vertraut, in dem die Gattung des Homo Sapiens Sapiens verantwortlich für schon früh in ihrer Evolution und später in ihrer Geschichte “begangene” Umweltschäden gemacht wird (so als hätten etwa die Industriellen des neunzehnten Jahrhunderts die ökologischen Folgen des von ihnen betriebenen “Fortschritts” ahnen können), um dann als “Bestrafung” ihrem Verschwinden von der Oberfläche des Planeten in einer näheren oder ferneren Zukunft entgegenzusehen. Dieser Erzählung steht gegenüber das eher hoffnungsfrohe Epos von einer gerade noch früh genug stattfindenden Umkehr, durch welche die Homines Sapientes Sapientes ihre Umwelt retten und dafür mit ewigem Leben belohnt werden (es ist diese zweite Erzählung, welche vor allem die Existenz meiner Enkelkinder in Bann hält).

Als viel “natürlicher” und auch wahrscheinlicher müssen wir die erste Geschichte (abgesehen von ihrer moralistischen Überdeterminierung) ansehen, denn obwohl ja die evolutionären Spannen und –Rhythmen verschiedener Gattungen des Lebens erstaunlich weit voneinander abweichen, haben wir keinen Grund zu glauben, dass auch nur eine unter ihnen je vom Verschwinden ausgenommen werden könnte. Das Artensterben mag unter dem Einfluss der menschlichen Kultur von heute eine neue, ökologisch vielleicht bedrohliche Dichte erreicht haben, aber diese Entwicklung unterstreicht letztlich nur die nüchterne Einschätzung, nach der wir als Gattung jedenfalls und unvermeidlich an ein Ende gelangen werden – vielleicht, anders als die Saurier, an ein Ende im vollen und potentiell tragischen Bewusstsein seiner selbst.

Weil aber nur die zweite Geschichte ein die Natur schützendes und bewahrendes Verhalten beschreibt und motiviert, assoziieren wir ausgerechnet sie – das Epos von der unwahrscheinlichen Bewusstseinsleistung der Aufhebung evolutionärer Gesetze – mit dem Prädikat des Natürlichen. Diese inadequate Perspektive rückt dann auf der anderen Seite die Evolutionsgeschichte des Menschen, so wie sich tatsächlich ereignet hat, in ein Licht des Un- oder gar Anti-Natürlichen (um nicht zu sagen: in ein Licht des Menschheits-Verbrechens). Sicher, man kann den Homo Sapiens Sapiens als ein exzentrisches Produkt oder gar als eine Verirrung der Evolution ansehen (aber aus welcher Perspektive?); man kann mit dem großen französischen Paläontologen André Leroi Gourhan spekulieren, dass Kulturgeschichte und Technikgeschichte zwei nicht-biologische, ihren Rhytmus beschleunigende Phasen in der laufenden Transformation des Menschen gewesen seien – doch selbst diese “doppelte Exzentrik” des Menschen ging aus der “Natur” hervor, statt das Ergebnis eines menschlichen Entschlusses gewesen zu sein, wie man es für die ökologische Wende der vergangenen fünfzig Jahre annehmen muss. “Natürlich” in genau diesem Sinn ist auch die physische und mentale Dominanz des Menschen über soviele andere Gattungen, wohingegen Postulate einer “Gleichheit” unter den Arten oder ethisch motivierte Selbst-Verbote des Konsums von Milch, Eiern und Fleisch den Menschen immer weiter aus der Spur von Evolution und Natur hinaustragen.

Doch das Erreichen des Ewigkeits-Ziels für den Menschen als Gattung scheint nicht allein unrealistisch — es bleibt auch unklar, wer eigentlich davon profitieren sollte, wenn es sich je realisieren ließe. Längst schon haben wir uns an fromme Kalendersprüche mit Inhalten wie “Wir haben die Erde von unseren Kindern nur ausgeliehen” gewöhnt, die dann metonymisch auf die Jahrtausende von Jahrmillionen einer Menschheits-Ewigkeit ausgedehnt werden sollen. Doch es liegt, meine ich, eine deutliche affektive – und wenn jemand darauf bestehen wollte: auch eine ethische Grenze – zwischen jenen nachfolgenden Generationen, mit denen wir persönlich in Kontakt sein können, und den Menschen einer fernen Zukunft, die allein in unserer Vorstellung auftauchen. Was sollte das Prinzip sein, das uns in eine Verpflichtung gegenüber ihnen versetzt? Könnte wir denn wissen, ob ihnen an ewigem Leben gelegen sein wird? Auf solche Fragen gibt es nur zwei positive – und gleichermaßen problematische – Antworten: verpflichten könnte uns jener Impuls einer “Solidarität der Gattung,” der allerdings, wie wir gesehen haben, durchaus menschenspezifisch und mithin auch in einer übergreifend menschlichen Interpretation des Universums verankert ist. Verpflichten könnten uns auch Forderungen, die sich wohl allesamt als Säkularisate von Vermutungen über einen “göttlichen Willen” in der Struktur des Universums entlarven ließen, wie etwa die Prämisse, dass die “Schöpfung” oder “Natur” im Menschen einen Höhepunkt ihres Potentials erfülle. Vielleicht sollten wir, wie gesagt, einen viel deutlicheren Unterschied machen zwischen ökologischen Verhaltensforderungen, die sich auf bereits ausgelöste und greifbare Entwicklungen beziehen – und solchen, welche in die Abstraktheit des Ewigen zu reichen versuchen.

In anderer Absicht (nämlich als Kritik an einer Grundforderung des Marxismus) hat Albert Camus während der fünfziger Jahren, genauer: am Ende seines Buchs über den “Homme Révolté,” gegen die Tendenz polemisiert, in ihrer jeweiligen Gegenwart Opfer von Menschen zu verlangen, die als Beiträge zur Herbeiführung vager und vielleicht nie zu verwirklichender Zukunftsszenarios präsentiert werden. Die Verewigung der Gattung “Mensch” (und mithin ein Teil des Trennmüll-Stresses meiner Enkelkinder) sollte, meine ich, genau unter diesen Vorbehalt fallen. Eine solche, die Tabus gängigen Gutmenschentums brechende Verweigerung hätte nichts zu tun mit dem Leugnen uns naher ökologischer Bedrohungen in der Rhetorik und Politik des nicht mehr ganz neuen amerikanischen Präsidenten. Aber vielleicht läge ein politischer Fortschritt darin, diesen Präsidenten mit genaueren und nüchterneren Zukunftsvorstellungen zu konfrontieren, als wir es gewohnt sind und uns bisher abverlangen.

16. Dez. 2017
von Hans Ulrich Gumbrecht

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02. Dez. 2017
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Intensität – und existentielle Ästhetik der Gegenwart

Noch hat sich die Beobachtung nicht im kulturkritischen Konversationswissen der Gebildeten etabliert, doch ohne die Wörter “intensiv” und “Intensität” scheint keine Beschreibung positiver Erlebnissituationen mehr auszukommen. Als “intensiv” wird der letzte Konzertbesuch gefeiert, der noch nicht zum Kultstatus aufgestiegenen Film und die beflissen kuratierte Ausstellung zeitgenössischer Kunst; wenn Intensität fehlt, “muss man sein Leben ändern” (um zugleich Rainer Maria Rilke und Peter Sloterdijk zu zitieren), für den nächsten Beruf oder die Herausforderungen eines Triathlon-Wettkampfs trainieren, Abenteuerurlaube mit gehobenem Leistungsanspruch buchen oder sein Vermögen in Risiko-Aktien investieren.

Was genau der Begriff bedeuten mag, lässt sich angesichts der Universalität seines Gebrauchs nur schwer bestimmen – denn je größer die Zahl der Gegenstände und Situationen wird, auf die er, “in adverbialer Funktion” sozusagen, zu passen scheint, desto weniger eignet er sich, um prägnante Unterscheidungen zu machen. Zu allgemeinen Vorzeichen von Steigerung etwa werden die Intensitätswörter in vielen Varianten und auch zum Verweis auf ein unspezifisches “Mehr” oder den Prozess eines Crescendo, wenn wir uns an das Erleben der materiellen oder sozialen Umwelt und an unsere stärksten Reaktionen auf sie erinnern. Intensiv sind Sonnenuntergänge, Konzerte oder Endspiele aber nicht “an sich”, sondern nur (erstens) durch menschliche Resonanz und (zweitens) im Vergleich mit anderen Resonanzmomenten.

Doch warum ist das Wort “Intensität” erst in den letzten Jahren so charismatisch und anziehend geworden, dass nun selbst sein Gebrauch eine Kurve der Steigerung duchläuft? Es steht in eigentümlichem Gegensatz zu vorausgehend charismatischen Begriffen und Werten, wie etwa dem “Entspannen”, dem sorglosen “Genießen” oder der vollkommenen “Stressfreiheit”, als deren Konvergenzpunkt sich gerade Intensitätvermeidungsstrategien zeigen. Anscheinend reagieren beide Wort-Gruppen auf jenen – nicht zuletzt von der elektronischen Technologie zu neuer Komplexität getriebenen – globalen Alltag mit seinen Polen wachsender individueller Unabhängigkeit und schwindender kollektiver Verpflichtungen, den ich gerne als Ergebnis des Übergangs von einer Welt als Feld der Kontingenz zu einem Universum der Kontingenz beschreibe, zu einer Welt ohne verbleibende Notwendigkeiten und Unmöglichkeiten.

Wer sich von diesem Alltag durch sein schieres Gewicht an Möglichkeiten und Optionen bedrückt fühlt, wird Entspannung, Distanz und Sorglosigkeit suchen; wem hingegen in erster Linie Konturen, ja sogar Widerstände in der eigenen Welt fehlen, der sehnt sich nach Bewegungen und Formen von Intensität eher als “zwei Seiten derselben Medaille”. Ich sehe im Wunsch nach Entspannung und im Wunsch nach Intensität aufeinander folgende Phasen eines übergreifenden Prozesses – was den (natürlich pauschalisierenden) Eindruck erklärt, dass ein Charisma der Intensität jenes der Entspannung abgelöst hat. An die Stelle von Fluchtimpulsen vor einer Überlast von Komplexität tritt immer mehr die Bereitschaft, sich auf Prozesse der Intensität einzulassen.

Die explizit philosophischen Diskurse und Debatten allerdings haben “Intensität” noch kaum für sich entdeckt – mit einer markanten (und sehr frühen) Ausnahme, nämlich dem Werk von Gilles Deleuze, vor allem seinem zusammen mit dem Psychiater Félix Guattari verfassten und 1980 veröffentlichen Buch “Mille Plateaux”, wo der Begriff zum zentralen Schnittpunkt einer vieldimensionalen Ästhetik der Existenz wird. Sehr entschieden setzen die beiden Autoren vorab auf ein Konzept von Intensität als Prozess (als “Werden” oder “devenir” im französischen Original). Zweitens identifizieren sie Intensität als eine Tendenz und ein Talent im Leben der Kinder, worauf folgt, dass sie mit einem Verlust oder sogar einem Verzicht auf Selbstbestimmung im Handeln verbunden sein muss. Neben dem psychischen (Rück-)Weg zum Kindsein soll Intensität dann drittens auch mit einem gleichsam evolutionären (Rück-)Weg zur Animalität, zu einem Wiedergewinn von Körperlichkeit, verbunden sein.

Intensität als Prozess, könnte man deshalb im Blick auf unsere Gegenwart und ihre Herausforderungen ergänzen und spekulieren, setzt ein mit dem Erleben der Welt als kontingent, das heißt auch, wie wir gesehen haben, mit der Sehnsucht nach Konturen und Widerständen, und sie endet – “auf der anderen Seite” sozusagen – in schwarzen Löchern der reinen Materialität, die alle denkbaren Kontingenzen, Komplexitäten und Freiheiten absorbieren und so zu einer Bedrohung werden (und vielleicht im Status einer “Erlösung” von Kontingenz, möglicherweise im Tod, zugleich zu einem existentiellen Versprechen). Wer sich auf – unabhängig von menschlichem Handeln – ablaufende Prozesse der Intensität einlässt, wird zumindest Teile seiner Autonomie und Selbstbestimmung abgeben, doch erlebt dies nicht als einen Verlust, sondern eben eher als Entlastung und vor allem als eine Schwelle, von der an man sich bewusst von Formen und Konturen bestimmen lässt.

Ohne eine Ahnung von solcher Wirkung wird sich kaum jemand auf Musik einlassen (und das oft eintretende Gefühl, einmal gehörte Musik nicht mehr ohne weiteres loswerden zu können – der berühmte “Ohrwurm” also – ist eine milde Variante der selben Dynamik). Auch das Konzept der “Leidenschaft” gehört in diesen Zusammenhang: Wir lassen uns auf Leidenschaften ein, obwohl – oder weil – wir wissen, dass sie uns als Prozesse von Intensität beherrschen werden, was beinahe unvermeidlich auch individuelles Leiden mit sich bringt. Individuelles Leiden – und zugleich die Gefahr (oder die Verlockung), Teil einer Masse, Teil eines “mystischen Körpers” aus ehemaligen Individuen zu werden, eines “mystischen Körpers”, dessen potentielle physische Gewalt intern kaum zu steuern ist und deshalb um so leichter von außen manipuliert werden kann.

Offensichtlich gehört das Risiko, genauer die Bereitschaft, sich auf erhebliche Risiken einzulassen, zur Dimension und zum Charisma der Intensität; ebenso offensichtlich aber können wir sie als Möglichkeit einer existentiellen Ästhetik auffassen, sobald wir die Animalitätskomponente der Intensität entdeckt haben und zugleich voraussetzen, dass ästhetisches Erleben prinzipiell von einer Spannung und Oszillation zwischen begrifflicher Erfahrung und sinnlich-körperlicher Wahrnehmung abhängt. Mit dem Begriff der Ästhetik (und ihrer speziellen sozialen “Autonomie”) erschließt sich dann eine Perspektive, unter der Intensität Abstand zu den üblichen, oft berechtigten – aber in unendlicher Wiederholung auch ebenso oft banalen – Kritiken der Verbindung von Autonomieverlust und kollektiver Gewalt als ihrer Folgen gewinnt.

Könnte die Kompetenz, sich auf Prozesse von Intensität einzulassen, Teil eines neues Begriffs und einer neuen Praxis von Bildung werden – und sie zu einem Punkt zwischen Kontingenz und den schwarzen Löchern führen, wo einerseits aus der Kontingenz Form entstand und auf der anderen Seite die Form noch nicht in die profillose Kontraktion eines schwarzen Lochs implodiert ist? Als lebenslang kontinuierliche Entwicklung im Stil des Bildungsbegriffs, wie er sich von der Aufklärung über die Romantik artikuliert hat, sollten wir die Bewegung von Intensität jedenfalls im eigenen Interesse nicht auffassen. Denn als langfristiger Prozess muss sie zu Abhängigkeit, Sucht und Selbstzerstörung führen. Intensitätskompetenz als Dimension einer Bildung der Zukunft müsste eher mit der Fähigkeit einsetzen, schon in Bewegung befindliche Prozesse der Intensität zu identifizieren, und von dem risikobereiten Entschluss, sich auf sie einzulassen. Vor allem aber von der Fähigkeit und der Stärke, sie auch wieder loszulassen (“to exit them”), wenn sie den Status einer differenzierten Form erreicht (und vielleicht schon überschritten) haben, in dem sich möglicherweise auch Sinnlichkeit und Vernunft in einem schönen, konturierten Verhältnis halten.

Als Kern einer Utopie von der Bildung der Zukunft, um es sehr vollmundig zu formulieren, käme der Intensitätskompetenz die Funktion einer Entlastung von permanenter individueller Handlungsautonomie und ihren Überforderungen zu, einer Entlastung ausgerechnet von jener Existenzform, zu der klassisch “bürgerliche” Bildung erst hinführen sollte. Strukturell gesehen soll Intensität aber, wie wir gesehen haben, nicht zur Permanenz einer geschlossenen Entwicklung geraten, sondern sich in immer neuen Momenten zwischen “Einlassen” auf Prozesse und “Loslassen” von ihnen vollziehen. Natürlich ist denkbar, dass sich auch der akkumulierte Effekt solcher Reiterationen von Momenten der Intensität in individuellen Profilen der Bildung artikulierte. Doch wir verspielen das Potential der Intensität für unsere Gegenwart und Zukunft, wenn wir sie in zu vielen Hinsichten als funktionales Äquivalent der traditionellen Bildung denken und konzipieren. Eher geht es darum, in ihr das Risiko einer ganz anderen, neuen Existenzform zu bejahen, einer Existenzform der Zukunft vielleicht, die noch kein Zeitgenosse in all ihren Möglichkeiten gelebt oder gar erlebt hat.

02. Dez. 2017
von Hans Ulrich Gumbrecht

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18. Nov. 2017
von Hans Ulrich Gumbrecht

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Muss (und kann) man seine Geschwister lieben?

Obwohl Sigmund Freud neun Brüder und Schwestern mit oft dramatischen Lebensgeschichten aus zwei Ehen seines Vaters — und selbst sechs Kinder — hatte, nimmt die Frage nach Formen und Auswirkungen von Geschwister-Beziehungen in seinem Werk nur einen marginalen Ort ein, was angesichts der sonst ebenso permanenten wie produktiven Aufmerksamkeit für Familienstrukturen erstaunlich ist – und doch kaum Diskussionen oder gar Erklärungen ausgelöst hat. Nur eine eher beiläufige Bemerkung sieht man zuweilen zitiert, wo Freud sich in ironischem Ton erstaunt zeigt angesichts der vorherrschenden Erwartung, dass Zuwendung und Liebe im Verhältnis zwischen Geschwistern vorherrschen sollen. So fällt gleichsam sekundär, das heisst vermittelt über die Perspektive des prominentesten psychologischen Denkers unserer Kultur, ein Hauch der Ambiguität von Unheimlichkeit auf das Geschwister-Phänomen: sollten ausgerechnet sie, die den meisten von uns seit Geburt alltäglich Vertrautesten, zugleich jene Mitmenschen sein, deren Gegenwart in unserem Leben sich jedem Verstehen sperrt?

Auch das mythologische Erbe, dem vor allem Freud in seiner Faszination für die oft spannungsvoll besetzten Affekte zwischen Kindern und Eltern folgt, entfaltet keinesfalls einen großzügigen Horizont von Geschwistergeschichten. Allenfalls die Tora erzählt in zwei prominenten Passagen von Brüdern, nämlich vom archaischen Konflikt zwischen Kain und Abel und vom Ressentiment seiner Brüder gegenüber Joseph, dem Lieblings-Sohn ihres gemeinsamen Vaters. Diese Geschichten entwickeln die beiden Grundvarianten eines Konflikttyps, der aus der Simultanität zwischen Situationen der Ungleichheit und dem Hintergrund einer fundamentalen Gleichheitsprämisse hervorgeht. Auf der einen Seite und eben grundsätzlich sind Geschwister gleich aufgrund ihrer genetischen und sozialen Abhängigkeit von denselben Eltern. Andererseits können als je verschieden erlebte Beziehungen von Vater oder Mutter zu ihnen Gefühle von Frustration, Ressentiment und Hass heraufbeschwören (und trotzdem erwartet man noch heute in bestimmten gesellchaftlichen Kontexten, dass Eltern mehrerer Kinder – sozusagen “offizielle” – Lieblingskinder haben). Eben diese erste Problemvariante illustriert die Geschichte von Joseph und seinen Brüdern, den Söhnen des Jakob, der Joseph, seinen Zweitjüngsten, sichtbar mehr liebte als die anderen Söhne.

Die primäre Gleichheit von Geschwistern kann sich aber auch ohne primär ausschlaggebende Intervention von außen zu Gegensätzen und Spannungen entwickeln, wie im Konflikt zwischen Kain, dem Ackerbauern-Sohn von Adam und Eva, und Abel, seinem Viehzüchter-Bruder. Während die einschlägige Erzähltradition zu suggerieren scheint, dass beide schon früh in ganz verschieden geprägte, ja imkompatible Charakterrichtungen strebten, macht am Ende Gottes abweisende Reaktion auf sein Opfer den Kain zum eifersüchtigen Brudermörder Abels, dessen Opfer Gott erfreut entgegengenommen hatte.

Vielleicht ist es ja gar nicht erstaunlich (weil so das Verhältnis zwischen Geschwistern noch unheimlicher wird), dass die sonst ganz durchschnittlich Männlichkeits-gestimmte deutsche Sprache ausgerechnet eine alte Plural-Version des Wortes “Schwestern,” nämlich “Geschwister” für nicht-gleichgeschlechtliche Gemeinschaften von Söhnen und Töchtern vorgibt? Eine elementare Störungsanfälligkeit liegt jedenfalls in den Beziehungen zwischen Schwestern, Brüdern und Geschwistern, weil Anhaltspunkte für erlebte Ungleichheit angesichts einer primären Gleichheitsannahme nicht einzuklammern oder gar aufzuheben sind. Diese einfache Logik setzt mit der Beobachtung ein, dass ja schon die Reihenfolge des Geboren-Werdens zu strukturell verschiedenen Bedingungen der psychischen Entwicklung führen muss, über die sowohl Psychologen wie Pädagogen intensiv nachgedacht haben.

So kommt mir der eine Wunsch nach existentieller Erfüllung nun mit einem Mal sehr naiv vor, den ich wahrscheinlich mit den meisten Müttern und Vätern teile. Es ist die Hoffnung und der Traum, nach meinem Tod in der wechselseitigen Zuneigung und Liebe meiner beiden Töchter und meiner beiden Söhne sozusagen weiterzuleben, anders gesagt: in der wechselseitigen Zuneigung meiner vier Kinder, von denen der ältere Sohn und die ältere Tochter eine andere Mutter haben als der jüngere Sohn und die jüngere Tochter. Ich stelle mir zum Beispiel vor, dass sie sich – aus verschiedenen Teilen der Welt kommend – eines Tages regelmäßig treffen, nicht zur Erinnerung an mich, aber doch motiviert von einem Impuls der Gemeinsamkeit, deren psychischer und sogar biologischer Impuls ich sein möchte. Einmal abgesehen von der immer wieder schmerzhaft zu aktivierenden Einsicht, dass ein solches “Überleben” im Leben von anderen (oder sein Scheitern) niemandem je aktuell bewusst werden kann, muss ich mir des weiteren eingestehen, dass es – trotz selbstredend “bester Absichten” – natürlich nicht gelungen ist, meinen vier Kindern, die sich, wie man so sagt, “sehr gut verstehen,” jene absolute Gelassenheit zu geben, wie sie vielleicht allein aus dem Gefühl einer absoluten Gleichheit in der Zuwendung der Eltern erwachsen kann.

Aufgegeben habe ich den Traum natürlich nicht und bin deshalb auch weiter bereit, dem Einwand entgegenzutreten, es sei bloß eine narzisstische Illusion zu glauben, dass ich meine beiden Söhne und Töchter mit gleicher Intensität, wenn auch über je andere Erinnerungen und andere Konvergenzen zu lieben imstande sei. Wirklich – “empirisch” — unwahrscheinlich wird die Einlösung meines Wunsches nach existentiellem Gelingen aber angesichts der Tatsache, dass das schon vorher mühsam am Leben gehaltene Verhältnis zu meiner einzigen, acht Jahre jüngeren Schwester seit dem Tod unserer Eltern vor einigen Jahren und aufgrund divergierender Erwartungen im Blick auf ein zu teilendes (in seinem Volumen eher unerhebliches) Erbe mittlerweile in Schweigen und Abwendung übergegangen ist. Dass meine Schwester mir ihren eigenen Eindruck übelnimmt, das Leben habe mich besser behandelt als sie, rede ich immer wieder mir selbst ein – und manchmal sogar Dritten, denen an unserer Beziehung eigentlich gar nicht gelegen sein kann.

Hier wird es Zeit für meine Antwort auf die Titelfrage, ob man seine Geschwister lieben (kann und) muss. Ich will zunächst zugeben, was mir ein durchaus schlechtes Gewissen bereitet, nämlich dass ich die Gegenwart der einen Schwester in meinem Leben nicht vermisse (und davon ausgehe, dass es ihr mit mir ganz ähnlich geht). Nach der mühsamen (und an Anwaltskosten teuren) Abwicklung des von unseren Eltern hinterlassenen Erbes waren wir beide wohl zu vielfach verletzt (oder auch einfach zu erschöpft), als dass uns aneinander hätte liegen können – und hinzu kam (ausnahmsweise einmal) erleichternd, dass uns beiden das Leben in weit voneinander entfernten Ländern die Peinlichkeit ersparte, auf diesbezügliche Fragen oder (schlimmer) auf Versuche reagieren zu müssen, unsere Beziehung einzurenken. Es lebt sich wohl gut und störungsfrei genug ohne mich als Bruder, nehme ich an, um aus eigener Perspektive zu bestätigen, dass auch mir das Ende der ja immer potentiell prekären Geschwisterbeziehung wohl tut.

Die These von der Wahrscheinlichkeit problembeladener Beziehungen unter Geschwistern hat als Antwort auf die Frage, ob man seine Geschwister lieben muss (und kann), natürlich nicht den Status einer Notwendigkeit. Dafür, dass sich Geschwister- und vielleicht besonders Beziehungen zwischen Brüdern sehr positiv entwickeln können, stand ja einst die in Firmennamen häufig verwandte Abkürzung “Gebr.” (für “Gebrüder”). Sie warb (und wirbt noch heute gelegentlich) als Verweis auf eine wechselseitige Vertrautheit und Verlässlichkeit “unter Brüdern” (diese Worte stehen ja auch immer noch in adverbialer Funktion für den Begriff “Vertraulichkeit”).

Eine Stufe “höher” kann man auf der Seite positiver Geschwisterbeziehungen jene Fälle einordnen, wo sich die aus gemeinsamer Herkunft und gemeinsamem Aufwachsen entstandene Vertrautheit zu einer wechselseitig glücklichen Komplementarität entfaltet. Ein solcher Glücks-Fall scheint das Verhältnis zwischen dem Philosophen Martin Heidegger und seinem fünf Jahre jüngeren Bruder Fritz gewesen zu sein, der die meisten Jahre seines Lebens als Bankangestellter im südwestdeutschen Messkirch, dem Geburtsort beider Heideggers, verbrachte. Fritz Heidegger hatte mit einer Sprachbehinderung zu kämpfen, war weit davon entfernt, je Weltruhm zu erlangen, wurde zum führenden Spezialisten für das Verstehen und die Transkription der schwer lesbaren Manuskripte seiner Bruders – und scheint doch nie in eine Position struktureller Unterlegenheit abgedrängt worden zu sein. Vielmehr war Fritz Heidegger imstande, mit liebender Ironie (und der paradoxale Ton dieses Ausdrucks ist beabsichtigt) auch in dessen Gegenwart über seinen toternsten Bruder zu reden – und scheint unter den beiden die Rolle des Lebensweisen übernommen zu haben.

Schließlich gibt es – gleichsam “an der Grenze” der Entfaltung von Möglichkeiten der Geschwisterbeziehung — ein Oszillieren zwischen Vertrautheit und erotischer Faszination, deren Erfüllung in den meisten uns bekannten Kulturen durch ein Tabu oder gar explizites Verbot ausgeschlossen wird. Einer der ganz großen Romane des vergangenen Jahrhunderts, Robert Musils “Mann ohne Eigenschaften,” entwickelt die Beziehung zwischen den Geschwistern Ulrich und Agathe genau in dieser faszinierenden, beklemmenden und zugleich (auch für den Leser) beglückenden Weise, welche zugleich zu einem Grund für die Unmöglichkeit (eher als Unfähigkeit) des Autors geworden sein mag, sein Werk zuende zu bringen. In einem Gespräch nach der Beerdigung ihres Vaters werden die Geschwister von einer Affinität der Affekte überrascht und überfallen, die Musil als eine Situation inzeniert, wo sie beide “Domino-artige” Freizeitkleidung (wie man heute sagen würde) tragen. Die Beziehung zwischen dem angesichts der Vielzahl seiner Talente im Alltag konturenlos bleibenden “Mann ohne Eigenschaften” und seiner entspannten, sich stets auf ihr Urteil und ihre Entschlossenheit verlassenden Schwester mag zunächst asymmetrisch zu Ungunsten Agathes wirken – um bald (jedenfalls in meiner Lektüre) in eine existentielle Überlegenheit von Agathes Anmut und konturiert-praktischer Intelligenz umzuschlagen, die sich Ulrichs hingerissenem Staunen erschließt.

Auf dieser Ebene und in diesem Status endet das Romanfragment. Liegen hier jene Grenze und auch jenes eine, unerfüllt bleibende Versprechen, die sich hinter dem Gefühl des Unheimlichen in Geschwisterbeziehungen verbergen? Es bleibt unklar, welches Ende Musil für die Entwicklung der Beziehung von Agathe und Ulrich im Sinn hatte. Vielleicht gehört erotische Unwiderstehlichkeit – und Unabschließbarkeit — ja zu allen Geschwisterbeziehungen, welche über die Ebene ”positiver Solidität” hinausgehen.

18. Nov. 2017
von Hans Ulrich Gumbrecht

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04. Nov. 2017
von Hans Ulrich Gumbrecht

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Was macht Musik unwiderstehlich?

Vor Jahren einmal fragte ich die beim Abendessen ausnahmsweise voll versammelte Familie, wir sind sechs, drei Frauen und drei Männer, in denkbar nüchternem Ton, wer sich ein Leben ohne Musik vorstellen könne – und stieß auf Stirnfalten, Unmut und sogar Protest, obwohl niemand von uns ein Instrument mit echter Kompetenz spielt oder je durch exzessive musikalische Leidenschaft aufgefallen ist. Soviel zur hier unterstellten Bedeutung des Adjektivs “unwiderstehlich,” wie sie sich in unserem Gespräch als ganz normal und also wenig bemerkenswert herausgestellt hatte – und gerade in ihrer flachen Selbstverständlichkeit meinen Verdacht bestätigte, dass ich zu jener Minderheit gehöre, die sich “unmusikalisch” nennen muss (obwohl ich ab und an das gut gemeinte Kompliment höflich auf Distanz halte, insgeheim und in Wirklichkeit “besonders musikalisch” zu sein).

Anders gesagt: ich frage nach der anscheinend selbstverständlichen Reaktion auf Musik, deren Ausbleiben mich in die Ecke einer jener milden, kulturgeschichtlich überdeterminierten Pathologien verweist, mit denen sich am Ende durchaus leben lässt. Nachdem Musik in der Philosophie der Aufklärung und des Idealismus (zumal bei Immanuel Kant) eine höchstens periphere Rolle gespielt hatte, rückte sie während des neunzehnten Jahrhunderts, dem Zeitalter der zum Religionsersatz aufsteigenden bürgerlichen Künste, in ein Zentrum geradezu ekstatischer Vermutungen und raunend inspirierter Thesen. Arthur Schopenhauer etwa wollte in ihr eine Ahnung des “Willens” spüren, jener tellurisch-überpersönlichen Kraft, die er für den Grund des angeblich endlosen menschlichen Leidens unter beständigem Wandel ansah. Jedem intellektuellen Exzess zugeneigt erlebte Friedrich Nietzsche in der Musik eine existentielle Intensität, an der selbst die singuläre Kraft seiner philosophisch-rhapsodischen Sprache scheiterte. Und eben in jenen Jahrzehnten bemühten sich nicht wenige Komponisten, in der sogenannten “Programmmusik” Bedeutungen zu artikulieren und zu entdecken, deren Komplexität oder Gewalt sie ganz und gar außerhalb der Reichweite anderer Medien vermuteten.

Hier lag, geschichtlich gesehen, die anspruchsvollste Version jener Unwiderstehlichkeits-Vermutung, die in unserem Familiengespräch als bis zur Unvermeidlichkeit naturgegeben erschienen war. Ich möchte versuchen, dieser Ahnung (und diesem Mythos) von Tiefe und Intensität beschreibend beizukommen, ohne auf den beinahe sprichwörtlichen Punkt zu stoßen, wo vermutete Unwiderstehlichkeit in aktuelle Resignation gegenüber Unfassbarkeit umschlägt. Dabei nehme ich zum Ausgangspunkt einen Begriff von “Präsenz,” der auf eine elementare, aber doch oft übersehene Struktur menschlicher Existenz verweist.

Er hat damit zu tun, dass wir nicht umhin können, auf alle Objekte unserer Welt, genauer: auf alle sinnlichen Wahrnehmungen, die zu Gegenständen unseres Bewusstseins werden (Edmund Husserl nannte sie “intentionale Objekte”) in zwei Weisen oder Dimensionen zu reagieren. Laufend und unvermeidlich schreiben wir ihnen zum einen Bedeutungen zu, worauf wir gemeinhin erst aufmerksam werden, wenn dieser Prozess ins Stocken gerät (etwa gegenüber den gesprochenen oder geschriebenen Sätzen einer Sprache, die wir nicht verstehen). Neben der Sinn- und Bedeutungs-Stiftung aber positionieren wir auch beständig unsere Körper gegenüber den intentionalen Objekten (und diese zweite Dímension scheint zumindest in den neuzeitlichen westlichen Kulturen weniger bewusst zu werden). Gegenstände sind unerreichbar fern oder unmittelbar nah, anziehend oder bedrängend — und eben ein solches köerperlich-räumliches Verhältnis zur Welt können wir “Präsenz” nennen.

Bedeutungs-Dimension und Präsenz-Dimension entfalten sich nun zwar gegenüber jeglichem Gegenstand, doch die Proportion zwischen ihnen ist im Normalfall nicht ausgeglichen, sondern je nach Typ des Gegenstands graduell – und bis in Extreme — verschieden. Bei der Lektüre von Texten etwa dominiert selbstredend die Bedeutungsseite, ohne dass die Präsenzseite vollends verschwindet (zu ihr gehören etwa das Layout des Textes auf einer bedruckten Seite oder der unsere Körper affizierende Rhythmus eines rezitierten Texts), während in unserem Verhältnis zur Musik offensichtlich die Präsenzseite im Vordergrund steht, ohne dass die Bedeutungsseite eliminiert wird (wie wir etwa an der Bemühung um “Programmmusik” erkennen).

Der Prozess der Präsenz-Verarbeitung von Musik gehört, meine ich, zu jenen Phänomenen, auf die wir uns mit dem Wort “Stimmung” beziehen. Stimmungen sind Zustände unser Psyche, die – unvermeidlich und geradezu “mechanisch” – von Fällen der leichtesten Modalität der Berührung unserer Körpers durch die materielle Umwelt ausgelöst werden. Durch das Wetter zum Beispiel, dessen verschiedene Zustände wir immer schon mit Stimmungen assoziieren; durch den Klang von Stimmen — und natürlich auch durch die die Schallwellen der Musik. Musik zu hören, ist eine Ganzkörper-Erfahrung, die immer Stimmungen abrufen wird, wobei sich zumindest auf individueller Ebene oft stabile Relationen zwischen der Art der auslösenden Körper-Berührung und den ausgelösten psychischen Zuständen beobachten lässt. Niemand hat das hier waltende praktische Paradox kompakter und zugleich genauer beschrieben als die afro-amerikanische Literatur-Nobelpreisträgerin Toni Morrison mit ihrer Formel “it is like being touched from inside.”

Einmal entstandene Stimmungen führen dann oft, wenn auch nicht notwendig oder immer, zu Situationen von Latenz, das heißt zu dem Eindruck, dass sich ein Gegenstand in unserer Nähe befindet, ohne dass wir seinen Ort und seine Identität kennen. “Etwas liegt in der Luft,” das ist ein Satz und ein Eindruck, mit dem wir uns auf Situationen von Latenz, spezifischer: auf von Stimmungen erzeugte Latenzeindrücke beziehen – einschließlich der Konsequenz, dass wir den Gegenstand der latent war, nicht notwendig als solchen erkennen könnten, wenn er sich uns zeigte (sich selbst enthüllte), eben weil uns seine Identität ja unbekannt war – und auch nach seiner Erscheinung meist weiter bleibt. So weit, hoffe ich, kann man diesen Gedankengang problemlos mit Musik assoziieren. Sie ruft unvermeidlich Stimmungen ab, und auf Stimmungen reagieren wir in den meisten Fällen mit Latenzgefühlen, was die so weit verbreitete Erwartung erklärt und zu bestätigen scheint, dass in der Musik “etwas” (schwer Fassbares) zum Ausdruck kommen kann (jedoch nicht muss).

An dieser Stelle nun scheint mir eine Intuition entscheidend, auf die Martin Heidegger eher am Rande eines Seminars in den späten dreißiger Jahren zu sprechen kam. Es ging im Gespräch mit seinen Studenten darum, dass Stimmungen oft “Wahrheitsereignissen” vorausgehen, anders gesagt: dass Stimmungen auf Situationen der “Selbstentbergung des Seins” vorausverweisen – ähnlich wie uns seit den Beobachtungen von Freuds psychiatrischem Lehrer Charcot klar ist, dass den Episoden von Hysterie (aber auch von Epilepsie) eine “Aura” vorausgeht, und das ist funktional gesehen eine Vorahnung, mit der und dank derer solche Episoden – oder Ereignisse der Selbstentbergung des Seins — “in der Luft liegen.”

Was Heidegger genau mit der Formel von der “Selbstentbergung des Seins” erfassen wollte, ist unter seinen Lesern und Interpreten (philosophischen Freunden und Feinden) bekanntlich – und ganz hoffnungslos – umstritten. Jedenfalls gibt es, meine ich, Anhaltspunkte in seinem Werk, die zu der Vermutung führen können, dass es hier um die Erscheinung (und um eine historische Rückkehr) der seit Kant aus der Philosophie verbannten Schicht der “Dinge an sich” gehen soll, um den Moment der absoluten (also nicht im Sinn subjektiver Erfahrung perspektivischen) Präsenz und Erfassung individueller Gegenstände oder Phänomene – und auch wenn sich je beweisen ließe, dass Heidegger selbst mit der Formel von der “Selbstentbergung des Seins” etwas anderes im Sinn hatte, scheint mir eine solche Lektüre – zumal in unserem Zusammenhang – interessant und provozierend genug.

“Selbstentbergung des Seins” aber, soviel hat Heidegger nun wieder selbst deutlich gemacht, darf — bei aller inhaltlichen Ähnlichkeit – nicht mit “Offenbarung” oder gar “Einsicht,” mit ausschließlich intellektuellen Prozessen also, verwechselt werden, sondern hat durch den Ereignismoment eine für Menschen in ihrer Nähe durchaus potentiell bedrohliche Präsenz. Aus diesem Blickwinkel ist es wohl nicht zu weit hergeholt, etwa die Zerstörungskraft einer Nuklear-Explosion als Moment der “Selbstentbergung von Energie” aufzufassen. Musik freilich, die ohne Stimmung nicht zu hören und zu haben ist, wird nie zum Ort der Selbstentbergung selbst und an sich, sondern löst auf Grund ihrer Stimmungen in vielen Fällen – vielleicht sogar unvermeidilich – die Aura, die Gewissheit der Vorwegnahme einer Selbstentbergung des Seins aus. Das macht ihre “Gravitas” aus, ihre existentielle Schwere und Würde, wie mein Freund Robert P. Harrison betont, dass sie uns nämlich suggeriert, ein Wahrheitsereignis mit Absolutheitsstatus “liege in der Luft” und sei zu antizipieren, ein Wahrheitsereignis eben auch, das immer einen Aspekt von Gefahr einschließt. Aus der zeitlich entgegengesetzten Perspektive ist aber auch noch einmal zu betonen, dass die Performanz von Musik eben nicht zum Moment der Selbstentbergung wird — wie die Praktiker und Theoretiker der “Programmmusik” (innerhalb anderer konzeptueller Konfigurationen) unterstellt hatten.

Angesichts von derart “schweren” Begriffen (nun nicht im Sinn von “Gravitas,” sondern von potentiellem Heidegger-Kitsch) mag man geneigt sein, die Aura-Funktion der Musik ausschließlich mit Klängen im Richard Wagner-Register zu assoziieren. Die Pointe der hier entfalteten These allerdings soll gerade in die entgegengesetzte Richtung zeigen. Denn jede Form von Musik ruft ja Stimmungen ab — was bedeutet, dass jede Form von Musik zu einer Latenz-Situation und mithin zur Aura eines Wahrheitsereignisses werden kann. Auch die Selbstentbergung von Phänomenen der Eleganz, Leichtigkeit und Anmut hat ihre jeweils besondere Gravitas, ihre Verbindlichkeit und einen Ernst, der über jede subjektive Projektion erhaben wirkt — und erhaben ist. Möglicherweise erscheint und bleibt es genau deshalb für viele von uns (selbst in meiner nicht besonders “musikalischen” Familie) so ganz undenkbar, ohne Musik zu leben — weil ohne Musik das von Heidegger ganz unabhängige, existentiell tröstende und Sicherheit schenkende Versprechen einer Möglichkeit von Wahrheits-Ereignissen weitgehend verschwände.

04. Nov. 2017
von Hans Ulrich Gumbrecht

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21. Okt. 2017
von Hans Ulrich Gumbrecht

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Brauchen wir eine Ästhetik des Staats?

Am Ende des 1935 verfassten Essays über “Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit,” der in der intellektuellen, vor allem der geisteswissenschaftlichen Nachwelt eine Resonanz von einzigartiger Intensität gefunden hat, gab Walter Benjamin seinen Lesern eine denkbar kompakte, mittlerweile längst zur normativen Orientierung gewordene Formel über das Verhältnis von Politik und ästhetischer Erfahrung an die Hand. Eine Ästhetisierung der Politik, heißt es dort, sei unter allen Umständen zu vermeiden, zumal sie zum Gestenrepertoire des Faschismus gehöre, während die Politisierung der Ästhetik (gemeint ist mit “Ästhetik” hier natürlich die aktive Produktion und Rezeption von Kunst, Musik oder Literatur, nicht die Reflexion über solche Verhaltensformen), während ihre Politisierung zur einzigen Existenzberechtigung ästhetischer Erfahrung aufsteigen soll. Bis heute gehören die einschlägigen Passagen aus Benjamins Text zum Zitatenschatz politisch korrekter Akademiker.

Sie verlassen sich auf Bedeutungen der beiden Zentralbegriffe, welche in der Entwicklung des Essays noch einmal illustriert werden, aber von unserer Gegenwart wohl nicht mehr als unmittelbar plausibel oder gar notwendig übernommen werden können. Den Begriff der Kunst und ihrer Wirkung verbindet Benjamin mit der ursprünglich religiösen Dimension einer “Aura,” welche auch säkularen Kunstwerken eine – aufgrund jenes Ursprungs – problematische Autorität verleihen soll. Unter “Politik” hingegen versteht er eine soziale Praxis, die am Ziel der Herbeiführung eines sozialistischen Ideals von gesellschaftlichem Leben orientiert sein muss.

Mittlerweile hat sich der dominante Gebrauch der beiden Begriffe und vor allem das Verständnis von politischer Praxis und ästhetischer Erfahrung mit ihren jeweiligen Risiken und Chancen so weit verschoben dass die Umkehrung der von Benjamins Formel unterstellten und vertretenen Bewertungen mindestens ein Gedankensexperiment wert ist, Schon während der späten vierziger Jahre wurden Stimmen laut (etwa in dem an einer Theologischen Hochschule in Connecticut geschriebenen Buch über “Meaning in History” – übersetzt als: “Weltgeschichte und Heilsgeschehen” — des emigrierten deutschen Philosophen und kritischen Heidegger-Schülers Karl Löwith), die vor den ideologisch-politischen Konsequenzen des von Benjamin beschrittenen sozialistischen Denkwegs warnten, aus einer Interpretation der Vergangenheit Ideal-Konzepte des menschlichen Lebens abzuleiten, weil dies notwendig zu einer Verhärtung in ideologischen Totalitätsansprüchen führe. Man kann hier den Beginn einer Rückkehr zu Vorstellungen des achtzehnten Jahrhunderts entdecken, für die als “Politik” eine sozial inklusive Form der Herbeiführung von Konsens und von kollektiv relevanten Unterscheidungen durch Argumente und Diskussionen galt, ohne dass mit solcher Praxis die Erwartung einer Emergenz von übergreifend normativen “Weltbildern” verbunden war. Um die Lösung von Einzelproblemen sollte es gehen – ohne die notwendige Erwartung einer übergreifenden Entwicklung.

Was die Ästhetik angeht, so sieht Benjamins Assoziation mit der religiösen Aura – bei aller impliziten Faszination seiner These – innerhalb der historischen Tradition des Begriffsgebrauchs heute durchaus exzentrisch aus. Denn die Entstehung des Begriffs “Ästhetik” im frühen achtzehnten Jahrhundert setzte nicht etwa Religion und ihre Dimension der Aura als dominant voraus, sondern gerade die Vorherrschaft der säkularen Vernunft im intellektuellen und kulturellen Leben jener Zeit. Auf dieser Grundlage bezog sich die Ästhteik dann erstens auf eher marginale Situationen, wo der Vernunftgebrauch in vielfacher Weise mit den (körperlichen) Sinnen verfugt war und zweitens auf deren gesellschaftliche “Autonomie,” das heißt auf ihre Distanz gegenüber einer als ausschließlich vernunftorientiert ausgerichteten Alltagspraxis.

Nicht nur Immanuel Kant ging nun (etwa in seiner schon unter Zeitgenossen breit rezipierten Antwort auf die Frage “Was heißt Aufklärung?”) davon aus, dass der im Blick auf seine Ergebnisse offene Vernunftgebrauch in der sozialen Form des Argumentierens und öffentlichen Streitens nur dann praktisch erfolgreich werden konnte, wenn er umgeben war von Fragen und Verhaltensformen, die den Status des immer schon Beantworteten und Festgelegten hatten. Da er auf solche Prämissen mit dem in den Imperativ gesetzten Verb “Gehorchen!” verwies und sie mit seinem König, Friedrich II. von Preußen, assoziierte, wird man als Leser unserer Gegenwart den Verdacht nicht los, dass hier ein Kant nicht bewusster oder ein bewusst hingenommener Widerspruch liege.

Abgesehen von jenem historisch spezifischen Kontext jedoch lässt sich die Vorstellung eines strukturellen Verhältnisses zwischen einerseits Situationen, die der freien argumentativen Verfügung offen stehen, und andererseits Fragen, die als beantwortet, oder Verhaltensformen, die als festgelegt gelten sollen, durchaus produktiv auf unsere Gegenwart übertragen. Diskussionen, wissen wir, können nur dann als Medium der Konsensbildung erfolgreich sein, wenn ihre von verschiedenen Standpunkten ausgehenden Teilnehmer bestimmte Rahmenvoraussetzungen als Regeln des Verhaltens akzeptieren und teilen. Als permanent gesetzte und aus der verändernden Verfügung ausgenommene sind solche Strukturen innerhalb der alltäglichen gesellschaftlichen Interaktion exzentrisch – und autonom.

Hier liegt tatsächlich eine Affinität zu der (ursprünglich anders entstandenen) Autonomie-Dimension des klassischen Ästhetik-Begriffs, auf die sich mein Vorschlag bezieht, mit dem Begriff einer “Ästhetik des Staates” jene Voraussetzungen des politischen Argumentierens und der politischen Auseinandersetzung in den Blick zu bringen, die auf Dauer gestellt und von jeder Verfügbarkeit ausgenommen sind. Eher mit dem Begriff einer “Ästhetik des Staates” als mit dem einer “Ästhetik der Politik,” weil sich so die wichtige Unterscheidung zwischen “Politik” als nie endender Auseinandersetzung und “Staat” als langfristig gesetzter Rahmenstruktur hervorheben lässt.

Wenn man – gegen Benjamin und so Benjamin ernst nehmend – die Verurteilung einer Ästhetik der Politik in einen positiven Begriff von der Ästhetik des Staates verkehrt, dann soll auch (in diesem Zusammenhang nur der Vollständigkeit halber) erwähnt werden, was – wenigstens aus meiner Perspektive – gegen jede Verpflichtung zu einer “Politisierung der Ästhetik” einzuwenden ist. Sie muss, meine ich, die vielfältigen Funktionsmöglichkeiten von Verfugungen zwischen Vernunft und Sinnlichkeit auf immer nur einen Bereich der gesellschaftlichen Praxis, eben auf die Politik, reduzieren und ihr unterwerfen. Zumal in der Literatur führt das dann zu allzu monochrom-allegorischen Formen der Lektüre, die sich darauf verpflichtet sehen, alle literarisch-fiktionalen Inhalte immer nur als Oberfläche in Verhältnis zu einer “eigentlichen” politischen Bedeutung und Bedeutsamkeit zu sehen.

Was auf der anderen Seite unserer Umkehrung des Benjamin-Motivs die konkreten Phänomene einer Ästhetik des Staats angeht, so gehören zu ihnen die prinzipiell auf langfristigere Zeitlichkeit gesetzten Verfassungen und die von ihnen beschriebenen und geforderten Institutionen, das heißt die Ämter innerhalb des Staates mit den einschlägigen Erwartungen eines jeweiligen Verhaltensstils, aber auch die Prozess-Strukturen der Konsens- und Entscheidungsfindung (etwa Wahlen) und selbstredend die Rolle des “Staatsbürgers.” Dass sie alle unter dem Ziel einer Optimierung der politischen Funktionsmöglichkeiten von Veränderbarkeit und Verfügung ausgenommen sind, macht ihre Ästhetik aus. Oft spricht man alternativ von ihrer besonderen “Würde,” und Ästhetik oder Würde des Staats artikulieren sich auch in der intendierten, oft zugleich zurückgenommenen Monumentalität seiner Gebäude (etwa in der modernen Architektur des Kanzleramts und in der Staats-Kontinuität suggerierenden Eleganz der Gebäude von Schinkel) oder in der Choreographie seiner Rituale (zum Beispiel in der Sitzordnung des Bundestags).

Unter einer dringenden Notwendigkeit, an die Ästhetik des Staats und ihre Funktionen zu erinnern, leben wir heute vor allem deshalb, weil ihr der gegenwärtige Präsident der Vereinigten Staaten täglich mehr Schaden zufügt als irgendeiner seiner Vorgänger – und zweifellos im globalen Rahmen eine Nachahmung solchen Verhaltens ermutigt. Dies beginnt mit “Reden” oder Twitterbotschaften, die unter vielen Perspektiven die Verfassung in Frage stellen oder einfach missachten: mit der wahrhaft skandalösen, ja tatsächlich für einen Präsidenten unglaublichen Bemerkung etwa, dass die Pressefreiheit eigentlich abgeschafft oder doch zumindest eingeschänkt werden sollte; mit seiner aktiven Infragestellung des vom ersten Amendment der amerikanischen Verfassung garantierten absoluten Rechts individueller Bürger auf freie Meinungsäußerung – vor allem in Reaktion auf jene Sportler, die als Akt politischen Protests am Beginn ihrer Veranstaltungen nicht mehr stehend, mit der Hand auf dem Herzen und womöglich mitsingend die Nationalhymne hören wollen; mit Trumps Beleidigung dieser Bürger seines Landes durch das Wort “Hurensöhne;” mit der fortlaufenden Erosion des Weissen Hauses als Amts- und Wohnsitz des Präsidenten durch die Vulgarität seines Sprachgebrauchs und oft auch seines sozialen Verhaltens; vielleicht am entschiedensten und nachhaltigsten durch die Formen einer politischen Kommunikation, die nicht mehr auf die Überzeugungskraft von Argumenten und Gegenargumenten setzt, sondern auf Resonanz als prä-reflexive und ausschließlich emotionale Form der Kommunikation.

Unter demokratischen Vorzeichen kann jene Zeitlichkeit, auf die sich Kant mit dem Verb “gehorchen” bezog und die wir mit der Ästhetik und Würde des Staats verbunden haben, allerdings nicht permanent von der Möglichkeit jeder Veränderung freigesetzt werden. Selbst eine Veränderung von Verfassungselementen muss möglich sein, aber diese Möglichkeit sollte an Veraussetzung gebunden werden, die sie zur seltenen Ausnahme machen. Genau unter solchen Vorzeichen kann man den gegenwärtigen Konflikt um die Unabhängigkeit Kataloniens anlysieren. Einerseitens gehen die lokalen Unabhängigkeitskämpfer anscheinend davon aus, dass eine Aufhebung ihrer Zugehörigkeit zu Spanien jederzeit durch einen Plebiszit zugänglich sei. Die Zentralregierung in Madrid hingegen schließt ein solches Ereignis grundsätzlich aus – und stellt so die Zugehörigkeit Kataloniens zum spanischen Staat auf Permanenz. Wenn man nun davon ausgeht, dass aufgrund des Prinzips der Volkssouveränität der Wille einer potentiellen Mehrheit von Bürgern (in jeder Region der Welt) zur Unabhängigkeit eine Chance auf Realiserung haben muss, dann liegt der zu verhandelnde politisch positive Kompromiss in der Beantwortung der Frage, unter welchen erschwerten demokratischen Bedingungen — und mithin unter welcher besonderen Zeit-Struktur – die Öffnung zu Abstimmung und möglicherweise Unabhängigkeit gegeben sein soll.

Hier läge eine produktive Lösung — unter der auf beiden Seiten verstandenen und aufgenommenen Voraussetzung einer Ästhetik des Staats. Stattdessen ist eine hochgradig verfahrene Situation entstanden, die nicht nur eine positive Lösung unwahrscheinlich macht, sondern auch und vor allem der Ästhetik des Staats auf beiden Seiten mit langfristigen Folgen geschadet hat.

21. Okt. 2017
von Hans Ulrich Gumbrecht

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07. Okt. 2017
von Hans Ulrich Gumbrecht

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Leben wir in einer Zeit der Völkerwanderung?

Der mit seinem spezifischen Inhalt nur in der deutschen Sprache gebrauchte Begriff “Völkerwanderung” soll die Jahrhunderte zwischen der Spätantike (Auflösung des weströmischen Reichs) und dem frühesten Mittelalter (erste Strukturen des Feudalsystems) umfassen, manchmal auch chronologisch genauer die Zeit zwischen der Invasion der Hunnen nach Osteuropa um 375 und dem Überfall der Landgobarden auf Norditalien im Jahr 568, und er hat trotz seiner erstaunlich anhaltenden Beliebtheit zurecht ein schlechtes Ansehen unter Gelehrten und histoisch Gebildeten. Die Probleme können auf verschiedenen Ebenen dargelegt werden, doch sie konvergieren unter dem nur selten erwähnten Vorzeichen, dass “Völkerwanderung” einen geschichtlichen Zeitraum in Bildern heraufbeschwört, die — aus vielfachen Gründen — durchaus vage und ungewiss bleiben. So ist zunächst umstritten, ob man die Zeit seit dem Ende des vierten nachchristlichen Jahrhunderts als Auflösung oder als Transformation des weströmischen Reiches (hin zu einer neuern Form der Herrschaft in meist germanischen Händen) ansehen will, während auf der anderen Seite der Mittelalter-Begriff durch die Ausdehnung auf eine chronologisch so frühe Zeit seine Konturen verliert.

Zugleich haben die beiden Teile des Kompositums, die Wörter “Völker” und “Wanderung,” wie man der Historienmalerei des neunzehnten Jahrhunderts und einschlägigen literarischen Darstellungen (etwa Felix Dahns “Kampf um Rom”) entnehmen kann, unsere Vorstellungen von jener “dunklen” Übergangszeit in wohl allzu starken Farben und Konturen geprägt. “Völker” im Sinn ethnisch homogener Gruppen oder organischer Gesellschaften waren jene sich anscheinend rastlos durch Europa bewegenden Gruppen kaum, sondern eher improvisierte Kriegereinheiten unter wechselnden Anführen, gemeinsam mit jenen Funktionsträgern, die man pauschal “Tross” nennt (hier stiften epische Namen wie die der “Goten” oder der “Langobarden” also eher Verwirrung als Klarheit). Zweitens verführt uns der Begriff des “Volkes,” ihre Größe zu überschätzen, welche Historiker heute mit maximal zwanzigtausend Mitgliedern ansetzen. Drittens und vor allem können nüchterne Analysen in diesen “Wanderungen” eigentlich nie geschlossene Bewegungen mit deutlichen Anfangs- und Endpunkten oder gar mit langfristig strategischen Zielen entdecken.

Was sich prinzipiell für alle (historischen) Begriffe sagen lässt, trifft deshalb auf die “Völkerwanderungen” in besonderem Mass zu: die mit ihnen verbundenen Inhalte und Visionen sind das Produkt bestimmter retrospektiver Interessen, in diesem Fall das Produkt von nationalen und nationalistischen Ideologien des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert, welche im Bedürfnis der nationalsozialistischen “neuen Mythen” nach emblematischen Vorläufern der eigenen rassistischen Ambitionen ihren scheußlichen Höhepunkt fanden. Wer Deutschland um 1930 als ein “Volk ohne Raum” interpretierte, der konnte nicht umhin, zum Beispiel an der Vorstellung von Expansionsbewegungen der Goten (bis hin zur iberischen Halbinsel) kriegerischen Gefallen zu finden.

Sobald wir aber all die ideologischen Schichten und Krusten vom Begriff der “Völkerwanderung” abgetragen haben, tritt ein Bedeutungskern mit erstaunlich innovativem Deutungspotential für die gegenwärtigen “Migrationsbewegungen” hervor. Dieser Bedeutungskern zeigt Impulse von langanhaltenden kollektiven Bewegungen im Raum – sozusagen unter Abzug aller Selbst- und Fremddeutungen hinsichtlich möglicher Funktionen und Absichten. Auf der Grundlage einer ähnlichen Reflexion hatte schon Friedrich Schiller in einer Jenenser Vorlesung des Jahres 1792 die Zeit der Völkerwanderungen mit der Epoche der Kreuzzüge verglichen. Gewiss, in der Deutung und im Bewusstsein ihrer Teilnehmer galten die Kreuzüge dem Ziel, das “Heilige Land” der Christen von Muslimen zu “befreien” und in christliche Hände zu bringen. Doch andererseits wissen wir etwa, dass die Gruppe von auffällig jungen Migranten, die den sogenannten “Kinderkreuzzug” von 1215 ausmachten, unbewaffnet war, also kein Eroberungsziel verfolgt haben kann – und folglich auch nicht weiter als bis zu den östlichen Küsten Italiens gelangte.

Das mich am meisten faszinierende Phänomen dieser Art heißt “Coluna Prestes” (“Prestes Bataillon”) und bestand aus einer Gruppe von etwa fünfzehnhundert Menschen, die, ausgehend von schnell niedergeschlagenen Putschversuchen in Sao Paulo und im südlichen Brasilien, zwischen 1925 und 1927 unter Führung des Offiziers Luis Carlos Prestes nicht weniger als fünfundzwanzigtausend Kilometer im brasilianischen Festland zu Fuß zurücklegten, um sich im frühen Februar 1927, nach Überquerung der brasilianisch-bolivianischen Grenze, ohne evidente Gründe aufzulösen. Ihrem expliziten Selbstverständnis nach wollte die Bewegung (im wörtlichsten Sinn) der “Coluna” den Geist der Revolution und Rebellion in der Bevölkerung verschiedener Regionen erwecken, doch sie war anscheinend seit den ersten Wochen ihres Marsches vor allem mit der Logistik des eigenen Überlebens beschäftigt. Und gewiss kann man auch hinter dem seit seiner historischen Emergenz gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts exponentiell gewachsenen Phänomen des Tourismus die hochkomplexe Version eines solchen (vorerst auf Dauer gestellten) Bewegungsimpulses vermuten.

Von der Beobachtung solcher Kollektiv-Dynamiken, deren Selbst- oder Fremd-Plausibilisierungen bestenfalls fragil wirken, können dann nur Spekulationen im Stil der “philosophischen Anthropologie” (oder “Kultur-Anthropologie”), wie sie vor allem unter Denkern des frühen zwanzigsten Jahrhunderts beliebt war, in eine bisher erstaunlich selten thematisierte Dimension prä- oder subkultureller Bewegungsimpulse weiterführen. Derart viele zoologische Gattungen existieren in Formen regelmäßiger Migration, dass sich die Frage aufdrängt, ob wir sie nicht als Normalfall des Lebens auf unserem Planeten ansehen sollten. Zweitens wäre zu überlegen, ob die – in diesem Fall notwendig externen – Standard-Beschreibungen oder Erklärungen solcher Migrationen im Hinblick auf Ernährung und Paarungsverhalten, nicht den Stellenwert der Bewegung / Dynamik an sich durch Hypothesen über angebliche Funktionen unterschätzen. Und schließlich ist dieselbe Beobachtungsperspektive natürlich auch im Hinblick auf menschliche Formen nomadischen Lebens anzuwenden. Noch deutlicher als bei Nomaden sogar tritt Bewegung im Raum als gleichsam unwiderstehliche, durch keine Institution zu unterwerfende und daher gleichsam intransitive Energie im Leben der Zigeuner auf (“Zigeuner” statt “Sinti und Roma” schreibe ich hier, weil eine Welle von kritischen Reaktionen anlässlich eines Blogs über ihre Kultur mich auf diese Wortwahl verpflichtet hat).

All diese Verweise auf Beobachtungen aus der Kulturanthropologie und Verhaltensforschung sollten natürlich zu der (in meiner Sicht eher rhetorischen, also schon immer positiv beantworteten) Frage führen, ob es nicht intellektuell und sogar politisch produktiv sein könnte, hinter den sogenannten “Migrationsbewegungen” unserer Gegenwart solche intransitiven Impulse und Energien zu vermuten. Was müsste oder könnte sich dann hinsichtlich politischer, gesetzlicher, aber auch kultureller Reaktionen ändern? Vor allem würde eine solche Sicht die (oft monokausale) Verbindung von “Migrationsbewegungen” und lokalen politischen “Krisenherden” (“Syrien”) vielleicht nicht gänzlich eliminieren, aber doch tendenziell einklammern. Migrationsimpulse sind, wie uns etwa das Wissen über die “Völkerwanderung” lehrt, zwar grundsätzlich nicht auf Dauer gestellt, aber wir haben keinerlei Möglichkeit, ihren Beginn oder ihr Ende zu prognostizieren — solange wir uns nicht auf jene politischen und wirtschaftlichen Gründe verlassen wollen, deren Erklärungspotential sich immer wieder als erstaunlich gering erwiesen hat.

Darin liegt eine Herausforderung, die gängigen Kategorien von Migrations-Motivationen oder Migrations-Gründen zu problematisieren. Es wird deutlich, wie etwa Gesetze und Verordnungen zur Vorzugsbehandlung von “politisch Verfolgten” die Versuchung unter Migranten etablieren, ihr eigenes Leben und ihre Erinnerung in durchaus opportunistischer Weise zu stilisieren (ich behaupte nicht, dass “Migranten grundsätzlich lügen,” sondern kritisiere nur eine Festlegung auf bestimmte Formen in der Verarbeitung ihrer Erlebnisse). Vor allem aber wird die Zurückweisung von Migranten generell dann problematisch und tendenziell sogar moralisch illegitim, wenn man ihre Bewegungen als einen Normalfall – und nicht als eine Ausnahmesituation — der menschlichen Existenz ansieht. Auf der anderen Seite bleibt verständlich, warum unsere seit dem neunzehnten Jahrhundert dominante, mit den längst überlebten Nationalstaaten weiterhin verzahnte Form von Regierung eine Tendenz entwickelt, Migrantenströme zu regulieren — vor allem wenn ihr die Verpflichtung zu wohlfahrtsstaatlichen Leistungen auferlegt ist, so dass ein Ansteigen der Bevölkerungszahl vor allem ein Ansteigen der Versorgungskosten auslöst.

Wie kann man auf dieses Dilrmma reagieren, das natürlich vorerst hypothetisch ist, weil es sich ja aus einer eher marginalen Deutung der Migrationsphänomene ergibt? Zum einen, das soll noch einmal betont werden, durch eine Tendenz zur Aufhebung aller Unterscheidungen zwischen legitimen und nicht-legitimen Migrations-Motivationen. Und des weiteren — vielleicht allzu langfristig und utopisch gesehen — durch die Entwicklung einer rechtlichen und politischen Unterscheidung zwischen zwei gleich legitimen Formen der Existenz, zwischen einer sedentären Form und einer migratorischen Form. Die migratorische Form des menschlichen Lebens ließe sich in Anlehnung an den offiziellen Status der “Staatenlosigkeit” organisieren, wie er vor knapp hundert Jahren schon einmal in Reaktion auf den Ersten Weltkrieg vom Völkerbund erfolgreich eingeführt, durch einen sogenannten “Nansen-Pass” (nach dem norwegischen Polarforscher Fridtjof Nansen) dokumentiert und damals von über fünfzig Staaten anerkannt worden war, wo “Staatenlose” leben und arbeiten durften.

Vielleicht fehlt unserer Gegenwart einfach die Kraft der Imagination und das nötige Selbstvertrauen für derart kühne Projekte und Institutionen.

07. Okt. 2017
von Hans Ulrich Gumbrecht

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23. Sep. 2017
von Hans Ulrich Gumbrecht

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Was “Heimat” heute heißen könnte

Wie immer man es dreht oder wendet (anders gesagt: von welchem unter vielen möglichen Blickwinkeln man die Dinge sehen will), der Begriff “Heimat” hat heute unter den Gebildeten im Land – und ohnehin unter seinen wenigen Intellektuellen – einen schlechten Ruf. Fast reflexartig erinnert er an “Homeland Security” und die in Europa eigentlich ausnahmslos verurteilten (obwohl intern bisher durchaus wirksamen) Überwachungsmaßnahmen, mit denen die Regierung der Vereinigten Staaten auf die Ereignisse des 11. September 2001 reagiert hatte, um ihr Territorium und seine Bürger vor weiteren Terrorangriffen zu schützen. Zum eher europäischen Horizont der gegenwärtig innenpolitischen Themen gehört das Problem der Migrationswellen und ihrer internen Regulierungen. “Heimat” wird dabei nicht selten mit der Lust zu Restriktionen assoziiert, die ihrerseits mit historisch-kollektiven Besitzansprüchen verbunden ist (einmal ganz abgesehen von den in dieser Hinsicht bestenfalls drastischen, aber kaum je begründeten Gesten des nicht mehr ganz neuen amerikanischen Präsidenten).

Außenpolitisch führt das Motiv zum Topos vom Mittleren Osten als “permanentem Krisenherd” aufgrund von Heimat-Ansprüchen, die je nach persönlicher und kollektiver Präferenz entweder auf mythologischer Basis einem historischen und aktuellen Zionismus zugestanden werden (persönlich unterstütze ich diese Position und halte ihre Geschichte für überzeugend) oder (aus historisch eher kurzfristigen und beinahe empirischen Gründen) den Palästinensern und ihren militanten Bewegungen. In Deutschland verläuft diese Diskussion unter den Anhängern beider Optionen oft mit einem rhetorisch-moralischen Pomp, der den Anschein erweckt, alle denkbaren Zukünfte jenes Teils der Welt hingen allein vom Urteil jener Nation ab, über deren historisches Lastenkonto der Holocaust abzurechnen ist. Schließlich gehört der Begriff “Heimat” auch – und hier wird er spezifisch deutsch – zu jenen regionalen Gefühlen und Solidaritären, die nicht auf politische Institutionaliserung pochen. Typisch war in dieser Hinsicht der Wortgebrauch des (mittlerweile erstaunlich – oder glücklicherweise — vergessenen) Franz Josef Strauß, der gerne von Bayern als seiner “Heimat” und Deutschland als seinem “Vaterland” redete. Mit der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung hingegen, die in einer Woche ihr großes politisches Ziel erreichen kann, würde den Begriff der Heimat wohl kaum jemand in Zusammenhang bringen.

Vor allem aber gehört zu diesem Wort mittlerweile ein Aura des beinahe peinlich Altmodischen, eine spezifische Behaglichkeit konservativer oder auch “rechter” Positionen, die zu harmlos sind, als dass wir sie im Ernst “faschistisch” nennen wollten. Dieses eigenartige Gefühl vor allem hat mich zu der Frage gebracht, ob es denn eine andere Bedeutung von “Heimat” in unserer Gegenwart geben könnte, eine Bedeutung, die fähig wäre, solche Peinlichkeit abzuschütteln, ohne ausschließlich von Problemvermeidungsstrategien geprägt zu sein. Wie könnte ein politisch wie rechtlich legitimer und als Anspruch attraktiver Begriff von “Heimat” aussehen – wenn er überhaupt denkbar ist?

Natürlich handelt es sich dabei um eine jener “typisch historischen” Fragen, die man allein anhand aufgrund einer Erzählung über die Vergangenheit diskutieren und vielleicht sogar beantworten kann, hier wohl am ehesten über die Skizze einer sogenannten “Begriffs-Geschichte.” Aus diesem Blickwinkel fällt auf, dass – in ganz verschiedenen historischen Kontexten – das Aufscheinen des Worts “Heimat” stets Symptom für Eindrücke von schmerzlichem Verlust gewesen ist. Als Erstbeleg gilt unter historischen Sprachwissenschaftlern ein Satz von Martin Luther, der die Erfüllung der Sehnsucht nach Heimat auf “den Himmel” verschiebt. Nicht mehr gegeben war dabei, in einer Theologie, die sich an Menschen in ihren individuellen Existenz zu wenden begann, die von mittelalterlichen Gesellschaften garantierte Gewissheit, nach Gottes Willen einem Raum (und einem Ort in der sozialen Hierarchie) zugewiesen zu sein. Selbst die sich in permanenter Bewegung zwischen ihren Pfalzen vollziehende Lebensform mittelalterlicher Monarchen brachte nur zum Ausdruck, dass sie den ihnen innerhalb der Schöpfung zugewiesenen Raum beständig als Besitz durchmaßen.

Das bis heute durchgehaltene Prinzip der Legitimät von Heimat als individuellem oder kollektivem Anspruch auf Orte über den Nachweis einer Kontinuität von Besitz oder Gegenwart durch sich wandelnde Zeiten (im Gegensatz zu einer Zuweisung innerhalb des Schöpfungsplans) konnte wohl erst gemeinsam mit dem historischen Weltbild – ungefähr zwischen 1780 und 1830 — auftauchen. Wenn Zeit damals zuerst – im Gegensatz zum Mittelalter — als unvermeidliches Agens von Veränderung erlebt wurde, als Agens einer Veränderung, die man als “historisch notwendig” interpretierte, dann war die vorausgehende – gottgegeben stabile — Form von Kontinuität des Besitzes nicht mehr denkbar. Die neue Temporalisierung von Besitz und Zugehörigkeit brachte zwei Narrative hervor. Einmal und vor dem Hintergrund erfolgreicher bürgerlicher Revolutionen oder Reformen (England, Frankreich, Vereinigte Staaten) das Narrativ von der Republik oder konstitutionellen Monarchie, die ihre Prinzipien – als imperialistische Republik – in einem weltweiten “Fortschritt” verbindlich machen will und dabei immer mehr Land als potentiell neue Heimat unter ihre Herrschaft bringt. Zum anderen das – romantische – Narrativ vom Verlust eines Teils der Heimat als Trauma und Erbsünde einer Nation (Italien, Spanien – Deutschland), die damit rechnet und darauf hofft, in einer zeitlich nicht festgelegten, aber doch vom Schicksal versprochenen Zukunft via “Erlösung” diesen Verlust wieder aufheben zu können.

Hier genau mag der historische Grund für die nur im Deutschen gegebene zugleich vage und flexible Bedeutung von “Heimat” liegen. Denn allein in Deutschland existierte der Gedanke an das Territorium der Nation im frühen neunzehnten Jahrhundert ganz ohne politisch greifbare Realität, das heißt bloß in der vermeintlichen “Erinnerung” an ein mittelalterliches Reich (genau deshalb nannte sich das im Anschluss an den französisch-preußischen Krieg gegründete deutsche Reich “Zweites Kaiserreich”). Ein Gefühl der Zugehörigkeit war also entweder auf eine Erinnerung als Vorstellung verwiesen oder auf Territorien und Staaten, die sich nicht “Deutschland” nennen konnten — was genau der Bedeutung von “Heimat” entspricht (wie in dem Satz von “Deutschland als Vaterland, Bayern als Heimat,” dessen zweite Hälfte sich sicher nicht auf Bayern als Bundesstaat beziehen sollte).

Zumal in Deutschland war der Symmetrie zwischen einem kollektiven wie individellen Gefühl der Zugehörigkeit und einer territorialen wie staatlichen Form nur für kurze Zeit gegeben. Weniger als ein halbes Jahrhundert nach der Gründung des Zweiten Kaisserreiches und anlässlich seiner Niederlage im Ersten Weltkrieg, stellte sich — den Horizont politischer Posiitonen übergreifend — erneut ein Gefühl des Verlusts von Heimat ein. Dies galt – auf der Seite der politischen Linken – zum Beispiel für den aus Ungarn stammenden Georg Lukács, der in seinem 1919 veröffentlichten, großartigem Buch über “Die Theorie des Romans” von “transzendentaler Heimatlosigkeit” als existentieller Grundbedingung ausging (deren Aufhebung, so muss man annehmen, Lukács wohl von der Realisierung einer “klassenlosen Gesellschaft” erhoffte). Doch strukturell ähnliche Sehnsüchte fanden sich auf der politisch entgegengesetzten Seite der sogenannten “Konservativen Revolution.” Nur wenige Jahre vor seinem Eintritt in die Nationalsozialistische Partei wies Martin Heidegger in einer Freiburger Vorlesung der Philosophie – und nicht der Politik – die Aufgabe zu, den Menschen eine existentielle “Heimat” zu geben. Und es ist nicht zu übersehen, dass er zu diesem Motiv bis zum Ende seines Lebens — und seines Werkes — immer wieder zurückkehrte: in der grundsätzlich Kitsch-bedrohten Selbstmythisierung von der Schwarzwaldhütte wie in seinen weit produktiveren Reflexionen über das “Geviert” zwischen Himmel und Erde, Unsterblichen und Sterblichen als Ort des Menschen oder über das Verhältnis von “Wohnen und Bauen.”

Motive dieser intellektuell produktiven Phase im Nachdenken über “Heimat” tauchen noch in den gegenwärtigen Diskussionen über die Legitimität kollektiver und individueller Territorial-Ansprüche auf. Die kaum je benannte Prämisse, ja der Auslöser der heutigen Debatten liegt jedoch im Prekär-Werden des historischen Weltbilds, wie es um 1800 entstanden und (über das Motiv einer Kontinuität im historischen Wandel) zum Legitimitätsanspruch geworden war – wobei die Ursprünge dieses Prekär-Werdens zu komplex sind, um hier diskutiert zu werden. Allein jene politischen Standpunkte, welche Migrationen reduzieren und ganz zum Stillstand bringen wollen, beziehen sich heute noch – bewusst oder vorbewusst – auf das historische Weltbild. In der Rede vom “Migrationshintergrund” bestimmter Mitbürger oder Nachbarn befindet es sich schon im sozusagen permanenten Rückzug. Der Tendenz jedoch, Bürger “mit Migrationshintergrund” in irgendeiner Weise als Bürger zweiter Klasse anzusehen, muss man – jedenfalls und aus vielfachen Gründen — widerstehen.

Anders formuliert: es sollte heute klarer sein als je zuvor, dass Geburt oder Familien-Genealogie in einem bestimmten Land weder den Anspruch auf mehr politische Rechte noch auf größere Authentizität von heimatlichen Gefühlen begründen kann. Vielleicht ließe sich “Heimat” – ernsthaft und durchaus im Blick auf gesetzliche Konsequenzen – mit dem Begriff der “Natalität” verbinden, den Hannah Arendt im Vorwort zu ihrem Buch von der “Human Condition” 1958 verwendete. Unter dem Eindruck der ersten künstlichen Erdtrabanten und der heute längst zu vergangener Zukunft gewordenen Erwartung von menschlichem Leben auf anderen Planeten hatte Arendt die Notwendigkeit hervorgehoben, unseren Planeten als Ort und Grenze existentieller Zugehörigkeit wahrzunehmen und zu bejahen. Heute sollten wir eine anders perspektivierte Version dieselben Begriffs gegen alle restriktiven Maßnahmen hinsichtlich Freizügigkeit des Wohnens und Bleibens wenden. In dieser Bedeutung könnte “Natalität” den Gedanken vom Recht aller Menschen markieren, jeden Ort auf dem Planeten als Heimat zu erleben und zu ihrer Heimat zu machen.

Gewiss wäre die praktische Umsetzung eines solchen Rechts mit einer Fülle – vielleicht sogar: mit einer nicht zu bewältigenden Fülle – von praktischen Problemen verbunden. Doch selbst in diesem Fall wird die Anerkennung von Natalität als “Heimat” im Sinn eines territorial nicht beschränkten Geburtsrechts helfen, den – vorerst utopischen – Rahmen einer neuen Form von Gerechtigkeit zu etablieren.

23. Sep. 2017
von Hans Ulrich Gumbrecht

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09. Sep. 2017
von Hans Ulrich Gumbrecht

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Paradoxie der Gewaltlosigkeit?

Normalerweise “spreche” ich mit meiner Kollegin und guten Freundin Martha aus Berlin ein oder zwei Mal jeden Monat per e-Mail über Fragen, Probleme, Gerüchte und Neuigkeiten aus unserem Beruf, der Literaturwissenschaft. Aber letzte Woche erzählte sie mir vor einer Schlaflosigkeit, die ihre Nächte – und Tage – beherrscht. Martha ist Mutter von zwei Jungen im Grundschulalter, weshalb die Dokumentationen vom jüngsten Terroranschlag in Barcelona, bei dem auch Kinder von einem Auto überrollt und getötet wurden, in ihrer Vorstellung die Furcht aktivierten, die eigenen Söhne könnten Opfer eines ähnlichen Akts von Gewalt werden. Keine außergewöhnliche Reaktion gewiss. Zu schaffen machte Martha aber auch der Impuls, den Tätern Gewalt entgegenzusetzen, sie zu verfolgen (“to hunt them down” war eine Lieblingsformulierung des amerikanischen Präsidenten George W. Bush in Bezug auf die Drahtzieher des 11. September 2001), sie “unschädlich zu machen” und ihnen “heimzuzahlen,” was sie anderen angetan hatten. Den Gedanken an ein solches, gleichsam symmetrisches Verhalten, sagte sie, dürfe sich niemand gestatten.

Wir alle sind von den bürgerlichen Gesellschaften und Rechtssystemen, die auf Traditionen der Aufklärung zurückgehen, unter dem Gewaltmonopol des Staats auf Gewaltlosigkeit eingestellt, und wenn man unter “Gewalt” das körperliche Eindringen in Räume gegen den Widerstand anderer Körper versteht, dann durchbrechen Marthas Impulse tatsächlich das hier implizite Verbot einer individuellen Aggression. Die Ausprägung des Wunsches, Verbrechen der Gewalt “heimzuzahlen” entspricht strukturell dem mittelalterlichen “ius talionis,” nach dem die Schergen des Staats oder Gottes Körperteile amputieren sollten, mit denen Verbrechen begangen worden waren. Die Sorgen und das schlechte Gewissen meiner Freundin erinnerten mich an die Umstände, unter denen ich zum ersten Mal von dieser archaischen Rechtspraxis erfahren hatte. In einer Vorlesung über Dantes “Divina Commedia” erklärte mein Doktorvater den entsprechenden Begriff, um dann im Brustton geschichtsphilosophischer Genugtuung das Ende solcher “Unmenschlichkeiten” im “Projekt der kulturellen Moderne” zu feiern.

Zwei Jahrzehnte nach dem Tod dieses akademischen Lehrers, hat nun ein Historiker belegt, dass er während des Zweiten Weltkriegs, als Mitglied der Waffen-SS und ohne bindenden Befehl, die gesamte Bevölkerung zweier kroatischer Dörfer hatte exekutieren lassen. Für mich bestätigte die erschreckende Entdeckung den Verdacht, dass zwischen der Bereitschaft zur Gewalt und dem Bestehen auf eindeutigen Prinzipien (nicht selten eindeutigen Moral-Prinzipien) ein paradoxaler Zusammenhang bestehen kann (und natürlich keineswegs bestehen muss). Adolf Hitler, wissen wir, befolgte ohne Abweichung und Ausnahme die Regeln einer asketischen Lebensführung. Der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, zeigte sich bei seiner berüchtigten Posener Rede vom Oktober 1943, erleichtert darüber, dass seine Untergebenen bei der planmäßigen Arbeit an der “Ausrottung des Judentums,” wie er es etwas rätselhaft formulierte, “anständig” geblieben waren. Offenbar hatte Himmler befürchtet, individuelle Gefühle könnten der operativen Rationalität seines Projektes in die Quere kommen.

Man kann jene für immer an die nationalsozialistische Industrialisierung des Tötens gebundenen Namen nicht in einem Atemzug (oder Absatz) mit dem Namen von Mahatma Gandhi nennen, der Indien unter dem konsequent eingehaltenen Prinzip der Gewaltlosigkeit in seine sehr besondere politische Moderne führte – und dort bis heute ein unvergleichliches, bis in den Alltag normbildendes Ansehen genießt. Doch die eigene Gewaltlosigkeit bewahrte Gandhi nicht davor, am 30. Januar 1948 von einem den Islam und die Staatsgründung Pakistans ablehnenden Hindu ermordet zu werden. Dieses historische Faktum bringt uns zu der Frage, um die es hier geht, zu der einfachen (im Sinn von: leicht zu artikulierenden) Frage, ob Gewaltlosigkeit ein Prinzip ist, dessen Verwirklichung wir von uns “als Menschen” realistischerweise erwarten dürfen – oder ob sie im Status einer politisch und moralisch motivierten Verschreibung unvermeidlich mit dem Risiko verbunden ist, Ereignisse der Gewalt zu provozieren und mangels Gegen-Gewalt unkontrollierbar werden zu lassen. Noch einmal anders beschrieben: könnte der Versuch, Gewalt kategorisch aus unserer Existenz zu verbannen, mit der Gefahr ihrer Intensivierung verbunden sein?

Eine in dieser Hinsicht relevante Position hat der französisch-amerikanische Kulturanthropologe René Girard im späten zwanzigsten Jahrhundert über den Leitbegriff der “mimetischen Begierde” entwickelt. Unter allen elementaren Strukturen des Zusammenlebens soll die Emergenz von bestimmten Dreiecks-Beziehungen unvermeidlichen sein, in denen jeweils Außenstehende einen der Protagonisten einer Zweierbeziehung wegen seines oder ihres Verhältnisses zu der anderen Person beneiden. Typisch (aber nicht allein einschlägig) sind Liebesbeziehungen mit eifersüchtigen Beobachtern. Neid und Eifersucht motivieren die (oder den) Außenstehenden, die beneidete Person nachzuahmen (daher ist hier von “Mimesis” die Rede), was zu dem Bewusstsein führt, entweder bei der Nachahmung zu scheitern oder aber trotz ihres Gelingens nicht die Rolle der beneideten Person einnehmen zu können. Diese Erfahrung hat eine Akkumulation und Intensivierung von Ressentiment zur Folge, die nach Girard irgendwann in Gewalt umschlagen und zum Mord der beneideten Person führen muss.

Im Opfertod Christi als freiwillig angenommenem Tod sah er einen epochalen Akt, den Zyklus mimetischer Begierde zu durchbrechen. Grundsätzlich jedoch, so hat Girard in seinem Spätwerk immer wieder betont, schien ihm das Vermeiden oder Ausschließen von Gewalt als Komponente menschlicher Existenz unmöglich, ja gefährlich. Allein ein Bewusstsein von dieser Grundbedingung des Lebens könne ihre Wirkungen (bestenfalls) abschwächen. Natürlich hat diese Theorie zum Teil polemische Fehldeutungen ausgelöst, die sie als “reaktionäre” Bejahung von Gewalt kritisierten. Doch auf die Details einer Anthropologie der mimetischen Begierde kommt es hier gar nicht an. Denn sie ist nur eine unter erstaunlich zahlreichen (und ernstzunehmenden) Reflexionen, nach denen sich etwa die Frage nicht aufschieben lässt, ob hoch-charismatische Figuren wie Gandhi mimetische Begierde provozieren, von deren Auswirkungen sich dann Außenbeobachter durch die aggressive Umkehrung von Gewaltlosigkeit in Akte tötender Gewalt zu erlösen versuchen.

In den intellektuellem Milieus unserer Gegenwart wirkt vielleicht noch riskanter die weniger komplexe Vermutung, dass eine unvermeidliche Tendenz zur Gewalt (und mithin die von ihr ausgehende Bedrohung) spezifisch — ausschließlich, dominant? — zur männlichen Form der Existenz gehören könnte. Die Ursprünge bestimmter sozialer Institutionen, zum Beispiel des Militärs oder des Sports, lässt sich dann mit der Notwendigkeit assoziieren, vielfach männlich-individuellen Gewaltimpulsen eine Form zu geben, durch die sie berechenbar (beim Militär) oder wechselseitig akzeptabel (bei verschiedenen Sportarten) werden – was natürlich keinesfalls den Gedanken notwendig macht, dass Frauen der Zugang zu Militär oder Sport verstellt werden soll. Jedenfalls ist die innerhalb solcher Rahmen aufgeschobene und in den Status eines Potentials transformierte Energie zu aktueller Gewalt genau das, was man “Macht” nennt. Und aus einer sich in dieser Weise konsolidierten Macht ist — zumindest in den westlichen Kulturen — die Aristokratie als Lebensform hervorgegangen.

Freilich hat es die Aristokratie spätestens seit dem Mittelalter und moderne Formen des Sports immerhin seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert gegeben, ohne dass es ihnen gelungen wäre, Impulse der Gewalt für immer zu neutralisieren. Welche institutionellen Formen der Gewaltkontrolle kann man sich heute vorstellen? Sind neue Gesten von Gesellschaftlichkeit denkbar, die meiner Freundin Martha die Furcht vor dem Tod ihrer Jungen nehmen könnte? Eine inspirierende Antwort auf solchen Fragen zeichnet sich vorerst nicht ab. Aber könnte man sich nicht eine Rückkehr zur Affirmation von Männlichkeit vorstellen, jener Männlichkeit tatsächlich, die als Ursprungsenergie zur Gewalt-Bedrohung gehört?

Angesichts der terroristischen Gewalt-Drohungen unserer Gegenwart ziehen sich Frauen und Männer heute gleichermaßen hinter die Aufmärsche des staatlichen Gewaltmonopols zurück. Dieser Reflex lässt mich immer wieder an die Erinnerung eines afroamerikanischen Freundes denken, der erzählte, wie sein Vater in den bürgerkriegsähnlichen Spannungen der Civil-Rights-Jahre nach 1960 jede Nacht in der Veranda des Holzhauses, wo die Familie lebte, mit einem Gewehr wachte, um ihn, seine Geschwister und ihre Mutter im Notfall zu beschützen. Aus einer viel näheren Vergangenheit kommen mir jene beiden Soldaten einer amerikanischen Elite-Einheit in den Sinn, die auf einem Zug nach Paris im vergangenen Jahr – während ihrer Urlaubszeit und ohne Waffen – zwei bewaffnete Terroristen überwältigten, nachdem sie alle Reisenden bedroht hatten.

Wäre es denkbar, dass die Rückkehr einer solchen – männlichen? – Wachheit und Bereitschaft zur Gewalt die Gewaltbedrohung in unseren Leben wirksamer reduzierte als die vielen gutgemeinten Selbstverpflichtungen auf Gewaltlosigkeit? Darin läge ein schönes Paradox der Gewaltlosigkeit.

09. Sep. 2017
von Hans Ulrich Gumbrecht

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