Peter Sloterdijk will nicht am Kopfende des Tischs im Seminarraum sitzen. Fünfundzwanzig oder vielleicht dreißig Studenten sind am späten Montagnachmittag zum ersten von zwei Workshops gekommen, das ist sehr respektabel für Stanford – aber ich sorge mich etwas, dass er die akademischen Massen vermissen könnte, die sich in Deutschland um ihn versammeln. Wir haben eine auf den Begriff “Latenz” konzentrierte Diskussion angekündigt, aber von Latenz scheint er (vorerst jedenfalls) nicht sprechen zu wollen. Es geht um das Projekt eines Opern-Librettos unter dem bündigen Titel “Babylon” und um die Intuition, dass wir jüngst in eine “mesopotamische Stimmung” eingekehrt sein sollen, in eine Stimmung des “Astro-Terrors,” eine Stimmung, die abgewandt ist von dem Licht, das die griechische Tradition mit ihrem Zugewandtsein auf Wahrheit (“Lichtung”) verband und das sich die Aufklärung von den Griechen geborgt hat.
Die schnell aufleuchtenden Wolken aus Bildern und Konzepten, wie sie Sloterdijk mit langsam und fast vorsichtig geformten englischen Wörtern heraufbeschwört, wirken richtig und überzeugend für die Seminar-Runde am Pazifik, wohl auch weil sie ein eigenes Gefühl ozeanischer Nachbarschaft zu einer Dimension des Themas und der Intuition hat, immer schon — und jetzt mit mehr Intensität noch, in den Wochen nach dem japanischen Tsunami. Gegen die verhalten formulierte erste Reaktion, dass er dabei sei, einen Mythos unserer Gegenwart zu erfinden, wehrt sich Sloterdijk überhaupt nicht. Dann kommen Fragen, die auf begriffliche Genauigkeit in der Unterscheidung zwischen “mesopotamischer” und “griechischer” Stimmung aus sind, und er beanwortet sie so langsam und kurz, dass jedesmal für eine Sekunde der Eindruck aufkommt, er wolle oder könne noch gar nicht antworten. Ob kein Gespäech in Gang kommen wird, frage ich mich ungeduldig (wie meistens). Unsere eigene Stimmung um den Tisch, Sloterdijk eingeschlossen, kann man erst einmal “respektvoll verhalten” nennen.
Am nächsten Morgen mailt mir eine brasilianische Kollegin, um sich für ihre Begeisterung zu bedanken. Es sei das erste Mal gewesen, schreibt Marilia, dass sie erlebt hätte, wie sich Denken ereignet. Und sie bleibt nicht die einzige. Sloterdijk ist für den Dienstag mit seiner Tochter nach San Francisco gefahren, und wenn immer ich auf dem Gang unseres Gebäudes jemanden treffe, der am Montagabend dabei war, tauschen wir ein paar Worte aus über Mesopotamien und die Gegenwart. Für den zweiten Workshop am Mittwoch lässt der Gast eine Sequenz von Abbildungen aus seinem Buch über “Sphären” xerokopieren: Statuen von Göttern, die das Weltall als Kugel in der Hand haben, das Pantheon in Rom von innen, Christopherus (der mir vom Anfang meines Lebens als Schutz-Patron der Autofahrer vertraut ist) mit dem Jesuskind auf der Schulter durch einen Fluss watend. Sloterdijk nimmt sich die Zeit, alle Abbildungen im Detail mit einer wuchtig-sanften Fülle von Wissen zu kommentieren, und er ist so begeistert, dass ungefähr jede zweite Form als die ihm allerliebste vorgestellt wird. Nach einer guten Stunde ist er durch mit der Bilder-Sequenz und sein Enthusiasmus hat uns angesteckt. Jetzt sollten wir erraten (wörtlich!), was die Embleme des Universums zu tun haben könnten mit der “mesopotamischen Stimmung” vom Montag.
Den akademischen Gastgeber versetzt eine solche Situation, die nicht untypisch ist, in die Panik eines Prüflings, dem schwant, dass er keine Antwort auf die entscheidende Frage parat hat. Man sagt dann gerne, mit dem Schein pädagogischer Großzügigkeit, dass jetzt erstmal die Studenten ran sollen. Und die fragen tatsächlich am Mittwochnachmittag, so viel und so genau, dass die Zeit für den Workshop diesmal überhaupt nicht ausreicht. Sie interessieren sich für alle möglichen Einzelheiten der Bilder und haben dabei Ideen vom mesopotamischen Astral-Terror im Hinterkopf. Ich selbst beginne etwas ruhiger zu atmen, weil ich sehe, dass Sloterdijk sich auch nicht ganz sicher ist, welchen Bezug die vorgestellten Bilder zu Mesopotamien und zu unserer Gegenwart haben könnten. Definitive Antworten gibt es nicht am Ende, aber viele von uns, die meisten möglicherweise, haben jetzt das Gefühl, unsere eigenen Texte über Mesopotamien und die Gegenwart schreiben zu wollen.
Das alles bestätigt den Eindruck, dass Peter Sloterdijks Thesen, Argumente und Provokationen erst im Akt des Schreibens zusammenkommen. Jedenfalls ist er nicht ein Philosoph und Autor, der etwas zuende denken muss (oder will), bevor er es in einem geschriebenen Text fixiert. Vielleicht ist es genau sein Spiel mit dem Offen-Lassen, das manche Leser in Deutschland so sehr irritiert – vor allem unter denen, die sich für akademische “Fachvertreter der Philosophie” ansehen und ein Stück Philosophie-Geschichte verwalten. Ich vermute, Sloterdijk steht ihnen in der Tiefe und Breite des Fach-Wissens um nichts nach. Was ihn aber von den Fach-Kollegen unterscheidet, ist die Gelassenheit (auch das im ganz wörtlichen Sinn), mit der er Bilder, Metaphern und Worte sich ereignen lässt. Manchmal, denke ich, ist er die Wiederkehr (“Wiederauferstehung” wohl zu “österlich” für ein Seminar drei Tage nach Ostern) einer großen deutschen Tradition — vor allem wenn seine Stimme das antike Griechenland zu neuer Sprache bringt.
Am Mittwochabend sind wir alle begeistert, “inspiriert” ist wohl nicht zuviel gesagt — und niemand fragt, was denn nun in den insgesamt sechs Stunden Workshop “herausgekommen” ist. Warum sollte das auch wichtig sein? “Das Leben des Geistes” (“the life of the mind” klingt nüchterner und deshalb genauer) “lohnt sich” nur, während und weil es geschieht – sobald es sich in Buechern niederschlägt, hat es seine besten Momente schon hinter sich.