Kharkov erreicht man mit dem Flugzeug über Wien, aber dass die Stadt weit im Osten der Ukraine liegt, verstehe ich erst über der Karte im Magazin der Austrian Airlines. Weil Ukrainisch die uns vertrauten lateinischen Buchstaben verwendet, war mir an den kyrillischen Buchstaben einer Website (wahrscheinlich die Website der Universität Kharkov) aufgefallen, dass dort Russisch gesprochen und geschrieben wird. Wie meistens, wenn ich Gelegenheit habe, auf dem Weg nach Osteuropa aus einem Flugzeugfenster zu schauen, bin ich erstaunt, wie wenig Städte auftauchen. Und weil ich zu einer deutschen Generation gehöre, die den immer gleichen Geschichten der Stalingrad-Heimkehrer ausgesetzt war (oder genauer: den Geschichten der vielen, die behaupteten, sie seien in Stalingrad gewesen), habe ich mich daran erinnert, wie eigenartig dankbar sie immer von dieser „Weite” sprachen und auch von den Ukrainern – mein Vater erzählte sogar anspielungsreich von ukrainischen Frauen. Spuren eines von der deutschen Wehrmacht genutzten Effekts der Kollaboration natürlich.
Dann schieben sich Wolken über die Landschaft, und das erste, was ich von Kharkov sehe, ziemlich tief schon, wenn einen kurz vor der Landung die Schwerkraft in den Sitz schmiegt, ist ein breiter Friedhof mit kleinen weißen Steingebäuden auf den meisten Gräbern, die aussehen wie Kleinst-Mausoleen (ich will sagen, dass der Friedhof auch etwas verkommen wirkte, aber eine konkrete visuelle Erinnerung daran habe ich nicht). Dann, weit in dem Hintergrund, auf den sich das Flugzug nach der Landung zubewegt, ein mächtig auswallendes Gebäude des Stils, den man in Deutschland „stalinistischen Zuckerbäckerstil” nennt. Seine Türme und Türmchen, die alle mit Sowjetsternen enden, sehen so aufdringlich perfekt aus wie die mittelalterlichen Schlösser von Disneyland. Daneben erscheint noch, kakophonisch fast, ein Gebäude in der funktionalen Architektur unserer Gegenwart, state-of-the-art, als wollte die Ukraine ihren Gästen sofort und unübersehbar mitteilen, dass sie in dieser Gegenwart angekommen ist, gerade rechtzeitig für die Europameisterschaft der Fußball-Nationalmannschaften im nächsten Jahr.
Und dann der Wagen, hinter dem die österreichische Maschine zu ihrem endgültigen Parkplatz rollt. Ein schwarzer Moskva, das Auto, das irgendwann einmal ein Rolls Royce- oder mindestens ein Mercedes-Äquivalent der Sowjetunion hätte werden sollen, davon ein einzigartig heruntergekommenes Exemplar, ohne Radkappen, mit Reifen, die platt wirken, und mit einem Sprung in der Windschutzscheibe (bemerke ich beim Aussteigen). So Kindergarten-fröhlich angemalt und mit vielerlei Werbung tapeziert wie fast überall sonst ist der Bus zum Flughafen-Gebäude. Man könnte etwas intellektualistisch assoziieren: die Narben von zweiundsiebzig Jahren Sowjetunion auf der Kinderhaut des geduldig expandierenden globalen Kapitalismus. Im frühen zwanzigsten Jahrhundert, als sie begann, war die Sowjet-Union, die die Ukraine zu einer ihrer Republiken machte, das unumstößlich gewisse Versprechen auf eine Zukunft aus Freiheit und Wohlstand gewesen, die sich sehr schnell einstellen sollte. Heute ist es schwer sich vorzustellen, bleibt aber wahr, dass so viele Millionen wirklich daran geglaubt und darauf gehofft haben. Die Erinnerungsnarben des Versprechens sind unübersehbar in die Gegenwart geschnitten, und sie geben Kharkov eine Vergangenheit, die jetzt weh tut, während sie die Stadt weit hinter der Gegenwart hält. Noch lange wird es dauern, bis ein Flug nach Kharkov kein Flug mehr in eine vergessenswerte Zeit ist. Was ich in Kharkov sehe, ist nicht ganz so schockierend als ein Bild vom Ende der Welt wie die Photos der zerfallenen Schaltzentralen von Tschernobyl — aber eine Narbe auf der Haut der Gegenwart bleibt es allemal. Die nächste Frage heißt, wieviel Silicon unter der Haut der Gegenwart steckt.