Sehr lange ist es noch gar nicht her, dass die vor fünfzig Jahren so beliebten Schilder restlos verschwunden sind, auf denen deutsche Gasthäuser Kunden mit dem Versprechen “Hier kocht der Chef” verlocken wollten. Als einem heftig übergewichtigem Kind war mir das immer verdächtig. “Muss man nicht denken, dass der Besitzer des Gasthauses” (denn so verstand man das Wort “Chef” ja in der Gastronomie von damals) “besonders sparsam ist? Sind dann die Portionen nicht kleiner, und das Fleisch hat Sehnen?” fragte ich altklug meine Mutter, die von sich selbst gerne als “Wirtstochter sprach”. Deshalb konterte sie die ökonomische Rationalität meines Verdachts, auf den ich im Rückblick fast stolz bin, stets mit einem Anruf des Standards bürgerlicher Ethik, so als ob sie Max Weber gelesen hätte: “Nein, der Chef spart nicht, er möchte ja gerne, dass die Kunden wiederkommen und dass sein Restaurant einen guten Ruf hat.” Selbst die mütterliche Erklaerung hat mich nur wenig überzeugt, so wenig, dass ich mich neulich bei einem halb traumatischen gastromischen Erlebnis wieder (mit der Freude, recht behalten zu haben) an sie erinnerte.
Ein paar Studenten glaubten nämlich mir, dem Gastprofessor aus den USA, einen Gefallen zu tun, als sie mich am schönen Bodenseeuefer in ein Gasthaus mit dem nichts Gutes versprechenden Namen “Spicy Grill” abschleppten, wo sich ein griechischer Chef (“Chef” heute im doppelten Sinn: Koch und Besitzer) an “amerikanischen” Steaks und Hamburgern versucht. Zwischen Parkplatz und Eingang grüßt dort die aus Gegenwart und jüngerer Vergangenheit vertraute, etwas überlebensgrosse Skulptur eines Kochs, dessen Hemd sich (in je nach Gasthaus in verschiedenen Grundfarben) unappetitlich (oder, je nach Geschmack: viel versprechend) über seinen Bauch spannt – und ich verstand plötzlich, dass diese Statue das funktionale Äquivalent des 21. Jahrhunderts für das Versprechen “Hier kocht der Chef” ist. Hausmannkost, ob (national) als Schnitzel mit Bratkartoffel’ oder (multikultuell) Cheeseburger aus türkischer Hand ist ein Wert, der sich bei allem sozialen Kurs-Verlust gehalten hat.
Dagegen, gegen das gastromisch Heimelige, im besseren Fall gegen das Gediegen-Heimelige (im alten Westberlin gab es ein richtig teures Gasthaus, das “Bamberger Reiter” hiess), rebellierte in den Siebzigern die “Nouvelle Cuisine” mit einem provokanten Minimalismus, der an die enthaltsamsten Versionen von “historischer Avantgarde-Kunst” erinnerte. So wie Lyriker nach 1900 die “bürgerlichen” Leser mit Gedichten “schockieren” oder gar “erschrecken” wollten, die keinen “Inhalt” hatten, wie die Bürger erwartungskonform feststellten, und mit Gemälden, die “nichts darstellten,” so provozierten die Chefs der “Nouvelle Cuisine,” die als eingeschworene Anti-Kapitalisten den Besitzer-Status natürlich strikt ablehnten, die Esser mit Gänsehälsen und ungesalzen wässrigem Gemüse. Sich daran erfreuen zu sollen, war eine Zumutung wie die von “Des Kaisers neuen Kleidern” – und ich denke, wir verdanken es der von solchen Anstrengungen unvermeidlich hervorgerufenen Verkrampfung, dass wir inzwischen von der “Nouvelle Cuisine” ebenso befreit sind wie von jener Kunst, die das “Schockieren” zur Norm und Institution gemacht hatte.
Das neue “Paradigma,” wenn man über Restaurant-Essen einmal so schreiben will wie über akademische Trends (und dazu gibt es neuerdings Anlass), das neue Paradigma ist weder heimelig noch asketisch sondern gehört zum intellektualistischen Typ des Ästhetischen. “Brainy Art” könnte man auf Englisch sagen, wo es auch längst üblich ist, von “Artsy Food” zu reden. Ein sprachlich-stilistischer Vorläufer des neuen Paradigmas war die preziöse Verwendung der Proposition “an,” wie in “Rosenkohl an Jakobsmuscheln,” die inzwischen glücklich hinter uns liegt. Ich schlage vor, zwischen zwei Dimensionen des gastronomischen Intellektualismus zu unterscheiden. Die erste kann man “intellektualistische Gedächtnis-Kunst nennen,” sie ist sogar doppelt künstlich, eine Kunst-Übung bei der Kommunikation über Kunst-Essen, und sie hat etwas sehr studienrätisches. Denn als kompetent gilt ihr allein, wer mindestens fünfzehn italienische Speise-Öle beim Namen nennen kann und die Anrede “Herr” beim Nennen von Wein-Produzenten verwendet um damit zu erkennen zu geben, dass er vor Ort seinen Haus-Bedarf deckt als ein ob seiner kompetenten Ratschläge und seines sicheren Urteils geschätzter Kunde. Solche gastronomischen Gedächtnis-Künstler sprechen immer, als ob sie gleich für ihre Haus-Gäste kochen wollten – und, was viel schlimmer ist, sie tun das auch gar nicht selten.
Allerdings: wenn mich mein (oft etwas zu optimistischer Eindruck) nicht täuscht, dann gibt es inzwischen auch Chefs, die nicht per Vor- und Nachnamen von ihren Lieferanten sprechen, wenn sie die Tische ihrer Restaurants heimsuchen, sondern nur höflich und meist beinahe scheu fragen, ob das Essen denn “gut war” oder, etwas verschmitzter, ob es “geschmeckt hat.” Manche von diesen Chefs machen ein Essen, dessen Aussehen und dessen Geschmack die schweigende Aufmerksamkeit ihrer Kunden herausfordert und sie nicht selten in Staunen versetzen. Das ist zwar immer noch eine ästhetische Erfahrung des eher intellektuellen Typs, aber sie nervt nicht, mich jedenfalls nicht. Im Gegenteil, weil sie schmeckt, kann diese ästhetische Erfahrung mich faszinieren wie ein dramatisches Fußball-Spiel oder wie ein Stück gekonnt gelassener Prosa. In diesem Sinn empfehle ich (jetzt selbst etwas studienratshaft), “Manresa” in Los Gatos / California (etwas abgelegen), “Ze Kitchen” (tatsaechlich so geschrieben) in Paris und “Aqua” (tatsächlich) in Wolfsburg.
– zwei Trends: Joe und Martina
– great: Aqua