Was man sieht in Moskau, Jahr für Jahr, ändert sich so massiv, wie woanders in einem ganzen Jahrzehnt. Noch mehr Shopping Centers, teure Autos, halbteure Mode in der Untergrundbahn und noch mehr Leuchtreklamen, vor allem für die Nachtclubs, gegen die man sich mit einer Sonnenbrille schützen möchte. Dieses Mal gibt es etwas Neues allerdings, für das ich nicht gleich einen Begriff habe. Ich registriere erst einmal nur, als ich mit dem Taxi in die Stadt komme, wie ein Gefühl von Widerstand und Irritation verschwunden ist.
Dann fällt mir später auf, dass ich diese ganzen Skulpturen von sozialistischen Müttern mit Kopftüchern, ihren Soll übererfüllenden Arbeitern, heroischen Soldaten des grossen vaterländischen Kriegs und auch die sieben gigantischen Türme mit ihren barocken Fassaden, die Stalin seiner Hauptstadt geschenkt hat, bloß noch sehe wie historische Denkmäler, die eben zu Moskau gehören. Ich finde sie meistens interessant, frage mich vielleicht einmal, was denn wohl die Stilideale waren, die sie erfüllen sollten, stelle mir vor, was das für eine Welt gewesen sein muss, in der sie alle in eine versprochene glorreiche Zukunft wiesen. Vor allem denke ich nicht mehr, dass diese Monumente eigentlich verschwinden müssten aus einer Gegenwart, welche aufgehört hat, jene Gegenwart sein zu wollen, in der die Diktatur des Proletariats wirklich wird, die Vorstufe zum Ende der Geschichte in einer klassenlosen Gesellschaft. Das alles macht mich nicht ungeduldig wie früher, es ist museal geworden, Teil einer Vergangenheit, über die talentierte junge Autoren historische Romane schreiben werden und von der man den Enkelkindern erzählen soll, bevor es zu spät wird, weil die Gefühle und Bilder schon bald in der Erinnerung verlöschen.
Gar keine Rolle spielt es mehr, dass ich an die Utopie von Marx und Lenin nicht glaube, niemand sonst glaubt ja wirklich daran. Aus ihr als versprochener Zukunft ist nie ganz Gegenwart geworden, sondern nur eine Zukunft der Vergangenheit – uneingelöst, unerlöst und also bloß ein Thema für Ideen- und Stilgeschichte. Die schwergewichtigen Mütter, Arbeiter und Soldaten auf den Plätzen von Moskau sind mit einem Mal so fern und werden bald auch so schön sein wie die Gestalten auf dem metallenen Fries, das sich um die Säule in der Mitte der Place Vendôme von Paris gen Himmel windet, um Napoleon I. zu preisen. Man schaut sich die Säule an, weil sie zum erweiterten Programm des kulturellen Kreuzwegs von Paris gehört, und niemand wird sich je die Frage stellen, ob er mit der Politik des grossen französischen Kaisers einverstanden ist — oder gewesen wäre.
Noch ein paar Jahre werden wir leben — die, meine ich, die sich daran erinnern und erzählen können, wie sie von einer kommunistischen Zukunft geträumt haben, ohne dazu verpflichtet zu sein. Auch Fidel ist noch am Leben, im Adidas-Trainigsanzug, wie ein gerade noch ernsthaft Kranker in Nachbehandlung, statt in der Uniform seiner Revolution. Wenn Fidel und wir erst verschwunden sind, dann muss den neuen Generationen von den Türmen in Moskau und von den idealisierten Arbeitermüttern mit Kopftuch so erzählt werden wie jetzt schon von der Akropolis, dem Kloster Reichenau oder dem Escorial Philipps des Zweiten von Spanien.