“Heute erhielt ich Euren Brief mit den Erzaehlungen aus Frankfurt. Meine Meinung ist dies: Wenn in unserer Zeit etwas helfen soll, so ist es Gewalt.” Am 5. April 1833, als Georg Buechner diese Saetze an seinen Vater schreibt, einen Hofmedizinalrat in Darmstadt, ist er noch keine zwanzig Jahre alt und als Student der Medizin in Strassburg immatrikuliert. Klassiker-Saetze, Saetze von “ewiger Sagkraft,” sind das eher nicht fuer Europa im fruehen einundzwanzigsten Jahrhundert, wo man der Gewalt abgeschworen hat, unter allen Bedingungen. Der Buechner dieser Saetze traeumte zeitlich zurueckgewandte Traeume von der franzoesischen Revolution – und verfluchte auch schon “den graesslichen Fatalismus der Geschichte.” Alle Energie, die aus seinem und seiner Freunde Mitleid fuer die Armen kam, ahnte er, wuerde Ungerechtigkeit und Unterdrueckung nicht brechen. Doch die Ahnung machte ihn nur entschlossener, weil verzweifelter. Waehrend des naechsten Jahrs schrieb er in Giessen den “Hessischen Landboten,” der die Bauern zur Aufruhr wachruetteln sollte, geriet in Konflikt mit dem Gesetz, floh nach Frankreich und dann nach Zuerich, wo er mit einer Arbeit ueber das Nervensystem der Fische promovierte und, kaum dreiundzwanzig Jahre alt, zum Privatdozenten ernannt wurde. Zugleich begann Georg Buechner, drei Monate bevor er am Typhus starb, mit der Niederschrift einer Szenenfolge ueber das Schicksal des Fuesiliers Franz Woyzeck, der aus Eifersucht seine Geliebte Marie Zickwolf erstach — und bezog sich dabei auf den Fall des einundvierzigjaehrigen Perueckenmachers Johann Christian Woyzeck aus Leipzig, der am 3. Juni 1821 in gluehender Eifersucht seine Geliebte, die sechsundvierzigjaehrige Witwe Woost, im Hauseingang ihrer Wohnung totgestochen hatte und am 27. August 1824 oeffentlich hingerichtet worden war. Der wirkliche Woyzeck sagte aus, dass ihn Stimmen im Kopf unabweisbar zur Tat draengten (weshalb freiheitlich gesinnte Juristen fuer die Aussetzung der Exekution plaediert hatten) — und solche Stimmen hoert auch Buechners Woyzeck: “FREIES FELD. WOYZECK: Immer zu! Immer zu! Still, Musik! (reckt sich gegen den Boden): Ha! Was, was sagt ihr? Lauter! lauter! Stich, stich die Zickwolfin tot? – stich, stich die – Zickwolfin tot! – Soll ich? muss ich? Hoer ich’s da auch, sagt’s der Wind auch? Hoer ich’s immer, immerzu: stich tot, tot!”
“Immerzu” ist in Buechners Szenen das Wort fuer alle Stroeme, die man nicht kontrollieren kann. “Immer zu, immer zu,” ruft Marie, die Zickwolfin, “im Vorbeitanzen” mit einem Tambourmajor vor Woyzecks Augen, “ohne ihn zu bemerken.” “WOYZECK (erstickt). Immer zu – immer zu. (Faehrt heftig auf und sinkt zurueck auf die Bank.) Immer zu immer zu, (schlaegt die Haende ineinander) dreht Euch, waelzt Euch. Warum blaest Gott nicht die Sonn aus, dass alles in Unzucht sich uebernanderwaelzt, Mann und Weib, Mensch und Vieh. Tut’s am hellen Tag, tut’s einem auf den Haenden, wie die Muecken.” Es ist, als haetten die Woerter (das Bild von den Muecken auf der Hand!) Buechners brennendes Mitleiden, seine Verzweiflung, seine Wut und auch die Schmach der Armen von vor fast zweihundert Jahren aufgesogen, um sie in alle folgenden Gegenwarten abzustrahlen. Sogar die fast zaertliche Zudringlichkeit der Stimme, die im naechsten Moment die Stimme eines Moerders sein wird, und Maries Angst sind ganz unmittelbar und verstoerend im Text:
“WOYZECK. Weisst du auch wie lang es her ist Marie
MARIE. Um Pfingsten zwei Jahr
WOYZECK. Weisst du auch wie lang es noch sein wird?
MARIE: Ich muss fort der Nachttau faellt
WOYZECK. Friert’s dich Marie, und doch bist du warm. Was du heisse Lippen hast! (Heiss, heisser Hurenatem und doch moecht’ ich den Himmel geben sie noch einmal zu kuessen).”
Wer solche Saetze und Woerter “hermeneutisch vermittelt,” “in den historischen Kontext rueckt” und ihnen “Bruecken des Verstehens” zur Gegenwart baut, der laesst den Klassiker zur Ader. Es ist genauso einfach – und genauso kompliziert – wie der Dichter Gottfried Benn sagte, als ihm 1951 der Georg Buechner-Preis verliehen wurde: “Woyzeck: Schuld, Unschuld, Armseligkeit, Mord, Verwirrung sind die Geschehnisse. Aber wenn man das Stueck heute liest, hat es die Ruhe eines Kornfeldes und kommt wie ein Volkslied mit dem Gram der Herzen und der Trauer aller. Welche Macht ist ueber dieses dumpfe menschliche Material hinuebergegangen und hat es so verwandelt und es bis heute so hinreissend erhalten? Wir ruehren an das Mysterium der Kunst, ihre Herkunft, ihr Leben, unter den Fittichen der Daemonen. Die Daemonen fragen nicht nach Anstand und Gepflegtheit der Sitte, ihre schwer erbeutete Nahrung ist Traenen, Asphodelen und Blut. Sie machen Nachtfluege ueber alle irdischen Geborgenheiten, sie zerreissen Herzen, sie zerstoeren Glueck und Gut. Sie verbinden sich mit dem Wahnsinn, mit der Blindheit, mit der Treulosigkeit, mit dem Unerreichbaren, das einander sucht. Wer ihnen ausgeliefert ist, ob 24 oder 60 Jahre, kennt die Zuege ihrer roten Haeupter, fuehlt ihre Streiche, rechnet mit Verdammnis.”
Exakt das: wer sich den Strahlungen von Buechners Text aussetzt, ob willentlich oder aus Versehen, der wird bald mit Verdammnis rechnen – und die Erfahrung, hoffe ich sehr, soll die Haut all derer versengen und in ihre Eingeweide fahren, die mit zwei Bildungsurlauben pro Jahr, Fortbildung auf Kosten des Arbeitgebers, Lebensabschnittspartnern, Theater-Abos und gepflegtem Rotwein rechnen, waehrend sie auf die Einhaltung des Gewaltmonopols der Polizei bauen. Klassisch ausgewogen, wie wir heute alle sind, und rundum psychotherapiert, haben wir wirklich nichts Klassisches zu lernen von den Klassikern – und muessen sie also gegen uns wirken lassen. Nicht nur Buechner sollen wir gegen uns wirken lassen, sondern sogar Goethe. Denn auch im Faust gibt eine “Feld”-Szene. Sie faengt an mit den Worten “Grauer Tag. Feld,” gefolgt von einem doppelten Ausruf: “Im Elend! Verzweifelnd!” — und es lohnt sich, sie zu lesen, um von ihrer Strahlung gebrannt zu werden. Auf Feldern ueberhaupt scheint die Existenz Vollgas zu geben in der deutschen Klassik