Es ist selten geworden, dass bildende Kunst heute „etwas darstellt.” Mit anderen Worten: kaum je entwickeln oder vergegenwärtigen Bilder und Skulpturen derzeit Ansichten eines Gegenstands aus bestimmten (subjektiven oder institutionellen) Perspektiven. Immer weiter am Rand steht auch das „Ausdrücken” von individuellen Gefühlen und Visionen. Wenn aber derart klassische Funktionen wie „Darstellung” oder „Ausdruck” von der bildenden Kunst jetzt kaum mehr bedient werden, worum kann und soll es dann den Künstlern gehen – und worum geht es uns, wenn wir Bilder aus der Gegenwart sehen, bewundern und manchmal auch kaufen? Was „wollen” wir und was „wollen” die Künstler, bewusst, halbbewusst, vorbewusst? Warum klingen manche früher als kritische Kommentare wirksame Bemerkungen (wie „Was soll das darstellen?” oder „Was soll das ausdrücken?”) mittlerweile nur noch falsch? Und was könnte die „richtige” Einstellung zur gegenwärtigen Kunst sein? Solche Fragen führen uns zum „heutigen Erhabenen” (zum „contemporary sublime,” wenn Ihnen das deutsche Wort „Erhaben” peinlich sein sollte) – allerdings ist es nötig, historisch ziemlich weit auszuholen, um an den Beginn dieser Antwort zu kommen.
Alisa Margolis: I´m Your Boyfriend now
Das „Sublime” (oder „Erhabene”) als Dimension ist eigenartig spät in unser Reden über die Kunst gelangt, erst im siebzehnten Jahrhundert und zwar mit der Übersetzung eines Traktats aus der klassischen Antike, der sich auf diesen Begriff konzentrierte. So kann man erklären, warum das „Erhabene” – neben dem Begriff des „Schönen” – von Beginn an Karriere machte in den Schriften der philosophischen Ästhetik, wie sie sich seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts als eine philosophische Gattung emanzipierte von der Beschreibung einzelner Kunstwerke und Texte. Seither beziehen wir uns mit dem Wort „erhaben” auf Momente des Erlebens, vor allem des Kunst-Erlebens, deren Größe, Komplexität oder Intensität das Fassungs- und Auflösungsvermögen der menschlichen Wahrnehmung überfordern (daneben gibt es eine Vielzahl von einzelnen, oft philosophiegeschichtlich wichtigen Weiterentwicklungen des Begriffs, die aber alle ihren Ausgang nehmen beim Erhabenen, als dem, was uns überwältigt). Im vergangenen halben Jahrhundert nun hat „Erhabenheit” die „Schönheit” bei den (selbsternannten, aber auch bei den) kompetenten Spezialisten für Gegenwartskunst deutlich in den Hintergrund gedrängt. Warum ist das so?
Ich glaube, es hat damit zu tun, dass die Kunst neue Positionen gesucht und sicher schon vielfach (wenn auch nicht immer) gefunden hat, in einer Umwelt, deren Struktur als „Wirklichkeit” durch mehrere dramatische Veränderungen gegangen war. Seit der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert zum Beispiel ist für die meisten Zeitgenossen plausibel und bald auch ganz selbstverständlich geworden, was sich bis dahin nur wenige Intellektuelle (meist heimlich) vorzustellen gewagt hatten: seit dem frühen zwanzigsten Jahrhundert lässt sich die Welt ohne Jenseits denken. Oder genauer: seither ist es Privatsache geworden, sich ein Jenseits, eine Transzendenz, eine andere Welt zur diesseitigen Welt vorzustellen. Und selbst für diejenigen, die privat noch (etwa) an einen „Himmel” oder eine „Hölle” glauben, dürfen solche Vorstellungen im Alltag keine praktische Rolle mehr spielen, weil man nicht weiter voraussetzen kann, dass sie von anderen geteilt werden. Wir leben in einer einzigen Welt, der diesseitigen Welt, und diese eine diesseitige Welt ist unsere einzige Wirklichkeit (darauf bezog sich Nietzsche, als er vom „Tod Gottes” redete, der unseren eigenen Tod von einem „Übergang ins andere Leben” in einen „Teil des diesseitigen Lebens” verwandelt). Seither hat die Kunst unter anderem die Funktion verloren, aus dem Diesseits auf eine andere, etwa auf eine gegenüber dem Diesseits „vollkommene” Welt zu verweisen.
Beinahe gleichzeitig begann sich, von der Philosophie ausgehend, eine Skepsis zu verbreiten, welche die Möglichkeit prinzipiell in Frage stellte, die Dinge dieser zur einzigen Welt gewordenen diesseitigen Welt mit unseren Sinnen und Begriffen zu erreichen. Ist nicht das, fragen wir uns fast unwillkürlich, was wir für „wirklich” ansehen, tatsächlich eine allein durch unsere Sprache und durch gesellschaftlichen Konsens hergestellte „Konstruktion der Wirklichkeit” (so der Titel eines unter Intellektuellen in den siebziger Jahren überaus erfolgreichen Buchs)? Die einzig verbliebene Wirklichkeit ist so zu einer Konstruktion verdünnt worden, nicht wirklicher als die – ja immer von Menschen geschaffene – Kunst, was der Kunst zwar einen neuen Status als Teil der alltäglichen Wirklichkeit zuwies, ihr es aber gleichzeitig schwer machte, gegenüber der immer auch schon („sozial”) geschaffenen Wirklichkeit ihre Besonderheit zu finden und zu behaupten.
Ricky Gumbrecht: Untitled. Mehr unter web.me.com/rgumbrecht/
Als wirklich in einem anderen, nicht „konstruierten” Sinn, das ist die dritte Veränderung in unserer Wirklichkeits-Umgebung, sehen wir heute nur noch das an, was den menschlichen Sinnen nicht unmittelbar zugänglich wird, weil es ganz einfach zu klein oder zu groß ist: das Universum, die Milchstraße und die black holes; Viren und Gene, Atome und Partikel. Fast ist es, als ob ein „neues Jenseits,” eine Wirklichkeit außerhalb der Reichweite unserer Sinne, die durch Skepsis untergrabene und verfallene Wirklichkeit des Diesseits ersetzt habe. Paradoxalerweise eigentlich ist so das Allerwirklichste transzendent geworden, ein Horizont, der uns in Unmittelbarkeit nicht zugänglich ist.
Statt „darzustellen” oder „auszudrücken,” hat sich nun die Kunst während des vergangenen halben Jahrhunderts, glaube ich, vorbewusst, halb-programmatisch und in vielfachen Modalitäten (aber natürlich nicht ausschließlich) dem in einer solchen veränderten Umwelt intensiv gewordenen Bedürfnis zugewandt, ja der brennenden Sehnsucht, Wirklichkeit unmittelbar zu spüren, zu erleben, zu haben. Das „neue Erhabene,” the contemporary sublime, ist der Konvergenzpunkt all der künstlerischen Versuche, uns eine Wirklichkeit, eine materielle, substantielle, mit den Sinnen wahrnehmbare Wirklichkeit zurückzugeben, eine Wirklichkeit, die man berühren und an der man sich festhalten kann. Dazu rechne ich gerade nicht (ohne das in irgendeiner Weise kritisch oder gar abschätzig zu meinen) all jene Kunst der Gegenwart oder der jüngeren Vergangenheit, welche vor allem auf ihr eigenes Gemacht-Sein verweist, ja dieses Gemacht-Sein inszeniert und zelebriert – zum Beispiel Andy Warhols variierende Serien vorgegebener Bilder (denken Sie an seine Variationen des Gemäldes vom jungen Goethe in Italien oder auch an viele von der Tradition des Surrealismus inspirierte Werke).
Alisa Margolis: The Chase
“Erhaben” ist unter den gewandelten Wirklichkeitsbedingungen aber gewiss die Kunst von Joseph Beuys (der nicht zufällig oft als “Warhols Antipode” vorgestellt wird). Dieser Standard-Verweis auf einen Künstler, dem daran gelegen war, Materialien wie Filz oder Fett vorzustellen, Materialien, die sich der unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung nicht nur anbieten, sondern sie geradezu herausfordern, zeigt, dass das Erhabene nun gar nicht mehr immer das überwältigend Grosse oder Kleine sein muss. Erhaben und damit potentiell überwältigend ist für uns jeder Anspruch auf unmittelbar sinnliche Erfahrung geworden, in einer Welt, die sich allein aus Sprache konstruiert glaubt und in der die meisten von uns ihren Arbeitsalltag vor Computer-Bildschirmen verbringen, das heißt: in einer glatten Fusion von Bewusstsein und Software. Sinnliche Wahrnehmung, der wir uns bewusst zuwenden, ist die Ausnahme in unserem Leben geworden (deswegen ist vor allem in der Werbung soviel von ihr die Rede).
Erhaben sind die Leinwände („Bilder” will man kaum sagen, weil das Wort an „Darstellen” und „Ausdrücken” erinnert) mit den Spuren und Rhythmen des action painting von Jackson Pollock, erhaben sind sämtliche starken Formen, Farben und Kontraste, denen wir uns nicht entziehen können – erhaben ist alles, was die Wahrnehmung herausfordert, ja sie heraus-zwingt, und so die existentielle Furcht erregende Meinung noch einmal Lügen straft, dass eine unüberbrückbare Distanz, ja vielleicht ein unüberbrückbarer Abgrund unsere Sinne von der uns umgebenden Wirklichkeit trennt. Erhaben sind für uns auch, natürlich, die extrem komprimierenden Photographien von fernen Galaxien, deren Räumen sich nie ein Mensch wird nähern können, und erhaben sind die extrem vergrößernden Aufnahmen von mikroskopischem Leben, das unseren Augen unerreichbar bleiben muss. Erhaben sind Bilder von Rosen, die so perfekt gemalt sind, dass wir ihren Geruch vermissen — und erhaben sind (vielleicht kann das allein Gerhard Richter erreichen) Gemälde von Landschaften, vor denen wir uns wundern, dass wir ihr Wetter nicht auf der Haut spüren.
Aber wir sollen das gegenwärtige Erhabene, the contemporary sublime, nicht zu einer intellektuellen Fingerübung verkommen lassen. Es geht überhaupt nicht darum, zu wissen (und nachbeten zu können), was Beuys, Pollock, Richter „sagen wollten” (und wollen). „Sagen” wollen sie ja ohnehin nichts. Das Erhabene erleben, heißt sich der diesseitigen Wirklichkeit versichern, der einzigen Wirklichkeit, die uns geblieben ist.
(Eine erweitere Fassung meines Texts wird in dem von Alisa Margolis herausgegebenen Buch “Theory of Everything” erscheinen.)