Digital/Pausen

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Hans Ulrich Gumbrecht lehrt Literatur in Stanford und bedauert es, zu alt für eine Karriere-Chance als Trainer im American Football zu sein.

The Graduates of Silicon Valley — gibt es eine digitale Generation?

Einige von den Studenten, die im Juni 2011 an der Stanford University ihr vierjaehriges College-Studium mit einem Bachelor of Arts abgeschlossen haben (und am...

Einige von den Studenten, die im Juni 2011 an der Stanford University ihr vierjaehriges College-Studium mit einem Bachelor of Arts abgeschlossen haben (und am ehesten kann man die College-Zeit als “allgemeinbildend” beschreiben), einige Graduates dieses Sommers an der Universitaet, aus der Silicon Valley hervorgegangen ist und immer noch lebt, gehoeren zu einer Generation, deren Schulzeit unmittelbar hinter einer historischen Schwelle einsetzte – und wie die meisten historischen Schwellen hat man auch jene Schwelle uebersehen, als sie noch Gegenwart war. Mitte der neunziger Jahre hatten zum erstenmal Fuenf- oder Sechsjaehrige im Kindergarten und in der Grundschule das Schreiben auf einem Keyboard gelernt und vor einem Computer-Bildschirm, erst danach wurden ihnen dann traditionelle Schreibgeraete, “zur Zusatzausbildung” sozusagen, in die Hand gegeben.

Diese neue Generation meine ich mit dem Namen “Graduates of Silicon Valley,” und ihr Uebergang vom College ins Berufsleben oder zu weiterfuehrenden Niveaus akademischer Ausbildung ist ein Anlass, endlich konkret ueber eine Frage nachzudenken, deren Antworten abstrakt und sehr spekulativ schon unzaehlige Male vorweggenommen wurden. Es ist die Frage, wie ein Leben in elektronischer Kommunikation das Denken veraendert hat und noch veraendern wird – und wenn es einen gemeinsamen Nenner der vorweggenommenen Antworten gibt, dann zeigt er sich darin, dass diese Antworten gewichtige Worte wirklich nicht scheuen. Man hat das alles in den letzten Jahren schon einmal gehoert: die “groesste kulturelle Revolution seit Gutenberg,” mindestens, liege hinter unmittelbar uns; warum nicht gleich der groesste Sprung in der “Evolutions-Geschichte der Menschheit;” “nichts wird je wieder so sein wie frueher,” natuerlich – so und anders im Gestus von Science Fiction zu reden ist zu einem beliebt-beliebigen Gesellschaftsspiel geworden. Nur was genau und im Alltag der Achtzehn- bis Zweiundzwanzigjaehrigen anders ist im Vergleich zu all den Generationen, die zu schreiben mit einem Bleistift oder Griffel gelernt hatten, das fragt niemand. Denn konkrete Beobachtungen wirken viel weniger spektakulaer als die gaengigen, zu Prognosen gestylten und sehr allgemeinen Phantasien, zwischen denen im einzelnen man eigentlich kaum unterscheiden kann.

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Das konkrete Neue begann fuer mich mit einer zweistuendigen Vorlesung fuer Studenten des ersten Studienjahrs in Stanford. Sie ist Teil einer obligatorischen “Einfuehrung in die Geisteswissenschaften” (anhand von historisch-spezifischen Paradigmen), die sich ueber drei Trimester – im wahrsten Sinn des Wortes – erstreckt und unueberbietbar unbeliebt ist bei unseren Undergraduates, deren Berufswuensche noch viel deutlicher noch als bei den Undergraduates in Harvard, Yale oder Princeton auf die “wirkliche Welt” projiziert sind, auf Wall Street, den Supreme Court und natuerlich Silicon Valley. Es war mir aufgefallen, wie sich in wenigen Jahren das Mitschreiben von den klassischen Papierblocks ganz auf die Laptops verlegt hatte – und dann schien auf einmal das Jahr der Erfuellung fuer den alternden Professor gekommen zu sein, das Jahr, wo alle Studenten mir fuenfzig Minuten lang Wort fuer Wort mit voller Konzentration zu folgen schienen. Das stellte sich, so wie rundum positive Eindruecke auf der Lehrer-Seite fast immer, als eine Illusion heraus. Es war mir einfach entgangen, dass ich zum erstenmal meine Vorlesung in einem Hoersaal hielt, der den Studenten auch ohne Kabel-Verbindung den Zugang zum Internet freistellte – und dort verbrachten sie, wurde mir klar, alle so sichtbar konzentriert ihre Zeit, waehrend meine fleissig ausgearbeitete Vorlesung an ihren Ohren vorbeizog. Aber diese Einschaetzung war, merkte ich bald, nun wieder zu pessimistisch, zu sehr im Schwarz-und-Weiss Muster gedacht. Als ich anfing, mich mit unangekuendigten Verstaendnisfragen bei meinen Hoerern unbeliebt zu machen (und wohl auch etwas zu raechen) – lernte ich, dass sie diese Fragen meistens, vom Rand ihrer auf anderes zentrierten Aufmerksamkeit her, ganz gut beantworten konnten – manchmal sogar fuer mich unbegreiflich genau und ausfuehrlich, wenn immer ihnen naemlich die fuer sie hinreichenden Sekunden blieben, um sich historische Informationen und philosophische Definitionen auf dem Web zu verschaffen.

Wir waren uns also etwas naeher gekommen, aber beileibe nicht so nahe, dass die Studenten sich mit meinen zwei fuenfzigminuetigen – reinen – Wortschwaellen pro Woche angefreundet haetten. Ich hatte gehofft, sie mit dem Charme des quasi-Archaeologischen zu interessieren, mit der klassischen Vorlesung als einer Institution aus der Vergangenheit, aber meine Undergraduates wollten “Visuals,” Powerpoint, Photos, Gliederungen und Zitate, an denen entlang ich reden sollte — gnadenlos und fast ganz ohne die Geduld der Empathie. Ich fuehlte mich (und fuehle mich immer noch, heute mehr denn je) wie ein dreiundsechzigjaehriges Auslaufmodell, zuerst waidwund und etwas larmoyant (“Perlen vor die Saeue,” wofuer gluecklicherweise kein hinreichend idiomatisches Aequivalent im amerikanischen Englisch existiert), und kam dann auf die eher heitere und fast erleichternde Einsicht, dass es eben wachsende Luecken zwischen den Generationen gibt, Luecken, die offen zum freien Fall sind, Luecken, die uns Aeltere laecherlich aussehen lassen, wenn wir sie unbedingt ueberbruecken wollen. Ich habe die Erfahrung zum Anlass genommen, das Datum meiner Emeritierung festzulegen (dies ist bei uns – prinzipiell und in allen Berufen – eine individuelle Entscheidung) und nehme mir als ein Recht des Alterns jetzt ganz bewusst heraus, alt-modisch zu sein. Kein Powerpoint, keine Websites, auf welche die Diskussion meiner Seminare ausgelagert wird, keine Sprechstunden per E-mail oder Facebook. Wer eines meiner Seminar belegen will, muss es drei oder fuenf Stundenten pro Woche an einem (meist runden) Tisch mit fuenfzehn anderen Studenten diskutierend aushalten. Dieses praktizierte Recht des Alterns macht mich weder besonders beliebt noch akademisch vereinsamt, es ist ein individueller Kompromiss zwischen den Generationen, ein historischer Schnappschuss am Uebergang, in dem ich die naechste Runde schon (ohne viel Melancholie) verloren habe. Hoeflich wie akademische Institutionen in meinem Land sein koennen, hat mir der Rektor von Stanford – ein Computer-Wissenschaftler (etwa meines Alters), der das Basis-Programm fuer Nintendo gschrieben hat und heute die Google-Gruender, seine ehemaligen Studenten, beraet — John Hennessy, der Rektor von Stanford hat mich ermutigt, bis ans Ende meiner akademischen Tage Vorlesungen in der alten Form zu halten. Aber das ist eine freundliche Konzession an einen fast-Emeritus. Danach werden Powerpoint und Website zur eisernen und selbstverstandlichen Regel der neuen Gegenwart werden – ohne Ausnahme.

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Jedes Studienjahr lasse ich mir acht Freshmen von der Stanford-Verwaltung zuweisen — um nicht schon vor der jetzt ja festgelegten Emeritierung den paedagogischen Halt zu verlieren und weil es einfach interessant ist, sich einmal im Monat mit ihnen fuer je eine halbe Stunde zu treffen, um ihr Interesse auf Themen zu lenken, die gerade nicht im Fokus ihrer primaeren Faszinationen liegen. Auf Minnelyrik zum Beispiel, auf Tolstoi oder auf den deutschen Idealismus. Hinter diesem Programm leuchtet — wie eine untergehende Sonne — das klassische Rollenideal des gebildeten Intellektuellen. Ich habe den Eindruck, dass bei gut zwei Dritteln meiner Freshmen Advisees das Interesse an (fuer sie) exotischen Inhalten und die (computergestuetzte) Verarbeitungskapazitaet ins fuer mich fast Unvorstellbare gestiegen sind und weiter steigen – waehrend ich das andere Drittel als “Bewerbungsspezialisten” identifiziere. Das sind Studenten, die (nicht selten unter dem Druck ehrgeiziger Eltern) schon zehn Jahre damit verbracht haben, online natuerlich, die Oekonomie von Noten, Credits und Belegungsstrategien so zu optimieren, dass der naechste – und immer ganz abstrakte – Qualifikationsschritt bereits vorweggenommen ist. Statistisch gesehen sind die Bewerbungsspezialisten in ihren Studiengaengen eher noch erfolgreicher als die neuen Intellektuellen unter den Graduates von Silicon Valley.

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Christy Huang hatte es nicht noetig, sich zur Bewerbungsspezilistin auszubilden. Sie war von Andover nach Stanford gekommen, von einer der beruehmtesten High Schools des Landes, deren Studiengebuehren nicht erheblich unter denen von Stanford oder Harvard liegen, aber natuerlich war sie – als eine lebende Option auf die zukuenftige nationale Elite – von einem Vollstipendium in Andover zu einem Voll-Stipendium in Stanford durchgewinkt worden. Gleich in ihrem ersten Jahr bei uns hatte Christy ein Seminar fuer fortgeschrittene Studenten ueber “Theorien der Auffuehrung” belegt und das mit Abstand beste von sehr vielen sehr guten Referaten gehalten. Ueber die Urauffuehrung von Puccinis “Madame Butterfly,” mit historischen Originaldokumenten im Powerpoint-Format und einer wirklich innovativen philosophischen Reflexion zu “nicht mehr produktiven kulturellen Gattungen” – wie der Oper. Am Rande stellte sich heraus, dass Christy bis kurz vor Stanford mit dem Gedanken gespielt hatte, Konzertpianistin zu werden – und auch, dass sie nur vage Eindruecke vom Werk jener klassischen Komponisten hatte, die nicht zu ihrem Repertoire gehoerten. Ob sie denn vielleicht Deutsch verstuende, fragte ich Christy mit den Hintergedanken, sie auf einige Mozart-Biographien zu verweisen oder auch auf Mozarts Briefe – aber sie verstand zunaechst gar nicht richtig meine Frage. Nein, Deutsch habe sie noch nicht gelernt, aber im Prinzip wolle sie alle Sprachen lernen (tatsaechlich!), fuer den Rest gebe es immer noch elektronische Uebersetzungsprogramme. Und da sie ja wisse, dass deren Ergebnisse immer zu wuenschen uebrig liessen, koenne sie tatsaechlich, wenn dies denn mein Wunsch sei, bis Anfang naechster Woche eine Mozart-Spezialistin werden. Das ist es, was “elektronische Auslagerung des Gedaechtnisses” konkret und im nicht nur akademischen Alltag bedeutet.

Christy hat dann – freiwillig – das Aequivalent einer “wissenschaftlichen Hausarbeit” geschrieben, und zwar ueber die Tradition professionellen Geschichten-Erzaehlens im heutigen Damaskus als eine “nicht mehr produktive kulturelle Gattung.” Dafuer hat sie Arabisch gelernt und war fuer zwei Monate in Damaskus, um ein Bild- und Ton-Archiv zu erstellen. Die siebzig Seiten lange Arbeit sollte unbedingt veroeffentlicht werden, meine ich – und bin umso mehr beeindruckt, als Christy die nicht-elektronischen Sprechstundentermine mit mir meistens geschwaenzt hat. Ganz am Ende erfuhr ich, dass sie neben “Comparative Literature” noch einen zweiten Studienschwerpunkt in “Economy” hatte. Ihre Freunde in “Economy” wuerden ab und an fragen, warum sie sich “Comparative Literature” antue, erzaehlte sie, sie sei doch ganz offensichtlich intelligent genug fuer staerkere Herausforderungen. Waehrend Christy ihre Arbeit ueber die Geschichtenerzaehler von Damaskus schrieb, hat sie sich on-line fuer eine Stelle als Investment Bankerin in Abu Dhabi beworben. Natuerlich erfolgreich. Dort will sie jetzt (fuer ein Anfangs-Jahresgehalt von ueber $ 150,000) solange arbeiten, bis sie – das ist ihre Formulierung – “absolute Wahlfreiheit fuer die Zukunft” hat (Philosophie als eine Zukunfts-Moeglichkeit wollte sie sich uebrigens nicht ausreden lassen – das sei schon sehr interessant, denn davon wisse sie ja noch kaum etwas). Am Jahres-Abschlusstag in Stanford bekam Christy den obligatorischen Buch-Preis fuer ihre Hausarbeit und freute sich sehr, denn Buecher sind fuer ihre Generation vor allem Trophaeen, Erinnerungsstuecke, eben etwas fuer einen festlichen Tag. Dann stellte sie mir ihre Familie vor, die gekommen war, um mit ihr zu feiern. Eine ziemlich abgehaermte Mutter (ich hatte schon von der Tochter gehoert, dass die Mutter “etwas komisch” (“somehow weird”) sei); eine schwangere Schwester, die noch auf die High School geht (aber nicht nach Andover) mit ihrem Freund. Sonst niemand. Die vier wollten nicht zum offiziellen Mittagessen unseres Departments kommen, sondern downtown Hamburger essen gehen. Christy hatte nicht mehr den schweren schwarzen Talar an, den auch die Studenten zu diesem Festtag tragen. Sie fuehlt sich nur in Shorts und T-Shirt wohl – und ist aufs erste zufrieden mit ihrem Tomboy-Look, der eher eine Resultante aus praktischen Gruenden und Desinteresse ist als Ergebnis einer Absicht.

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Man kann gebildete Leser immer noch mit dem Sachverhalt ueberraschen, dass sich der Schwarzwald-Liebhaber Martin Heidegger (je naeher an seinem Tod im Jahr 1976 desto deutlicher) ausgerechnet von der Technik der Gegenwart – viel eher als zum Beispiel von der Fach-Philosophie – “Wahrheitsereignisse” erhoffte, Momente der “Selbstentbergung des Seins,” wie er es nannte. Was koennte also das “Sein” sein, welches sich in der Technik elektronischer Kommunikation entbirgt – diesseits aller Science Fiction-Euphorie und jenseits allen kulturkritischen Gejammeres?

Vielleicht ist das Denken meiner neuen Studenten das erste Denken, das nicht mehr verkoerpertes Denken ist  — zumindest die Gedaechtnisfunktionen sind ja laengst in diesem Sinn ganz ausgelagert. Ihr Denken ist nicht mehr an Koerper, an Raeume und an Zeiten von Koerpern und Raeumen gebunden – es ist, finde ich, in sehr ueberraschender Gestalt zu jener “reinen Spiritualitaet” geworden, von der fruehere Zeiten und Generationen immer dann getraeumt haben, wenn ihr koerperliches Leben hart war. Nur sieht die zur Wirklichkeit gewordene reine Spiritualitaet ganz anders aus, weniger bestrickend, als wir sie uns ueber Jahrhunderte vorgestellt hatten. Und vielleicht ist die Kehrseite dieses entborgenen Seins der reinen Spiritualitaet, dass wir so – koerperlos und ortlos – nicht leben wollen. Aber das mag eher mein Vorbehalt sein als der von Christy Huang.