Digital/Pausen

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Hans Ulrich Gumbrecht lehrt Literatur in Stanford und bedauert es, zu alt für eine Karriere-Chance als Trainer im American Football zu sein.

2. August, 4. Juli und Praesident Obama

Es ist sehr frueh am Mittwoch, dem 27. Juli, so frueh, dass dieser Morgen des kuehlen europaeischen Sommers noch milchig aussieht. Seit einer Woche beginne...

Es ist sehr frueh am Mittwoch, dem 27. Juli, so frueh, dass dieser Morgen des kuehlen europaeischen Sommers noch milchig aussieht. Seit einer Woche beginne ich jeden Tag damit, auf dem Web nach irgendwelchen Nachrichten Ausschau zu halten, die bestaetigen, dass die Politiker in Washington nun endlich eine parlamentarische Loesung fuer die Schuldenkrise des Landes gefunden habe, dessen Buerger ich seit elf Jahren bin. Heute, sechs Tage bevor es definitiv zu spaet sein kann, scheint die Situation aber ganz besonders trostlos und verfahren zu sein. Die alte Voraussetzung, dass es nur „eine Frage der Zeit“ sei, wann genau die Positionen der demokratischen und der republikanischen Partei in einem Konsensus einrasten, verschiebt sich immer schneller zu der intensiven Befuerchtung, dass der Staatsbankrott nun tatsaechlich eintreten wird. Vor fuenfzig Stunden habe ich mir noch eingeredet, dass Saetze wie die gerade geschriebenen am Samstag, wenn dieser Text erscheinen wird, melodramatisch und wehleidig aussehen muessen. Jetzt, wo ich sie lese, kommen sie mir eher zu gelassen vor. Die Intensitaet meiner Furcht ist in dem Mass gestiegen, wie sie zur Angst wurde – und das heisst vor allem: zur Furcht vor dem, das man nicht kennt, weil es noch unvorstellbar ist. Dabei hoffe ich weiter, dass das, was ich jetzt denke und schreibe, bis Samstag (oder spaetetens bis naechsten Dienstag) doch noch von einer neuen politischen Wirklichkeit degradiert wird zum vergleichsweise banalen Dokument einer vergangenen Furcht.

 

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Wie ist der amerikanische Staat, unser Staat, bis vor diesen Abgrund gelangt? Was die Fakten angeht, kann selbst ein Wirtschafts-Laie wie ich ziemlich alles anfuehren, was sich anfuehren laesst: immense Staatsausgaben fuer Kriege, die sich – anders als Kriege frueher – einfach nicht zu einem Ende bringen lassen, trotz groesster technologischer Ueberlegenheit; danach noch immensere Staatsausgaben zur Rettung der nationalen Wirtschaft, die bisher zwar am Leben erhalten wurde, aber nicht in eine Dimension von Erfolg und erfolgspotentierendem Optimismus zurueckzubringen war; und eine Pattsituation zwischen den Politikern, deren systeminterne Logik ausschliesst, dass sie die parlamentarische Entscheidung ueber eine Erhoehung des Staatsschulden-Volumens nicht aus der Perspektive der Praesidentenwahlen im Herbst sehen und durchdenken. All dies ist derart derart unveraenderbar und plausibel, dass man auf Moralisierungen (die Republikaner handelten „unverantwortlich,“ und der Praesident habe geredet „wie ein Oberlehrer“) ebenso verzichten kann wie auf Schuldzuweisungen (die Kriege des fruehen einundzwanzigsten Jahrhunderts haben die Republikaner noch mehr gewollt als die Demokraten, und andererseits waere auch eine republikanische Regierung in der Pflicht gestanden, die Rettung und Wiederbelebung der nationalen Wirtschaft  durch Staatsinvestitionen zu versuchen).

 

 

 

Eine weitere Dimension in der Beschreibung dieser Situation gibt es noch, die wir alle kennen oder zumindest ahnen, obwohl sie bisher kaum in den Fokus gekommen ist. Demokraten und Republikaner koennen wohl nur mit so unheimlicher Gelassenheit am Abgrund tanzen, weil noch niemand diesen Abgrund wirklich erfahren hat. Was wuerde der amerikanische Staatsbankrott fuer unser Land und fuer seine Buerger bedeuten? Das weiss eben keiner so genau. Wuerden wir die Welt in eine globale Wirtschaftskrise mitreissen? Koennte es auch Gewinner geben oder nur Verlierer? Waere der amerikanische Staatsbankrott ueberhaupt ein neuer Abgrund – oder nur die Ratifizierung dessen, was seit Monaten und Jahren der Stoff von Alp- und von Wuenschtraeumen war, dass naemlich die einst staerkste Wirtschaft der Welt zu einem toenernen Riesen im freien Fall geworden ist? Es laesst sich allein ahnen, dass der Staatsbankrott eine Konfiguration von Reaktionen heraufbeschwoeren muesste, die es noch nie gegeben hat – ob die amerikanischen Praesidentschaftswahlen 2012 zum Beispiel nach einem solchen Ereignis noch irgendjemanden kuemmern wuerden und ob irgendjemand ueberhaupt imstande waere, solche Wahlen zu gewinnen, steht auf einem anderen Blatt.

 

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Wie fuehlt sich ein Amerikaner vor diesem Abgrund? Ein Amerikaner in Europa, der ausgerechnet am 2. August wieder nachhause fliegen wird; ein  Amerikaner wie ich, der Amerikaner werden wollte, als er vierzig war, und der immer noch (was genau das auch bedeuten mag) „stolz darauf ist, Amerikaner zu sein“? Ich fluechte mich in eine Erinnerung, an der ich meine grosse Zuneigung fuer das Land waermen moechte. Eine glorreiche Fern-Erinnerung zurueck in das vergangene Jahrzehnt kann das nicht sein, denn Momente nationalen Ruhms hat es kaum gegeben in den elf Jahren, seit ich einen amerikanischen Pass habe. Ich denke also nur neunundzwanzig Tage vom Stichtag des 2. August zurueck, an den Independence Day diesen Jahres, den Fourth of July, 2011. In der kleinen Stadt, wo ich wohne, trifft man sich zum Nationalfeiertag gerne bei einem Chili-Kochbewerb: die Feuerwehr, die Beamten der Stadtverwaltung, die Aerzte und Pfleger der Krankenhaeuser, aber auch private Teams kochen mit viel Begeisterung Chili, an ihren Staenden kann man sich dann suppenloeffelgrosse Portionen servieren lassen, und am Ende wird abgestimmt, welcher Chili am besten schmeckt, mit anschliessender Preisverleihung. Was war schoen fuer mich an diesem sehr provinziellen Ritual? Ich glaube, es war die absolut ernsthafte Naivitaet des Koch-Bewerbs; es war das siebzig- oder achtzigjaehrige Paar mit den asiatischen Gesichtszuegen, das ganz in sich versunken einen Rock’n Roll tanzte, so dass ich ihre Zaertlichkeit spuerte und sah, wie die machtvoll revolutionaere Musik von einst nun zur Musik derer geworden ist, die (wie ich) am Ende ihres Lebens stehen; wie gekonnt die schwarzen Teeager ihre Koerper in die Musik fallen liessen, gefiel mir, und wie poetisch sie sprechen koennen, ohne es zu ahnen; mit wieviel sichtbarem Verantwortungs-Pathos die vielen Penner auf der Wiese des Fests ihrer demokratischen Pflicht beim Ausfuellen der Kochwettbewerb-Fragebogens nachkommen. Das alles (und mehr natuerlich) war mein Fourth of July 2011: ein paar Stunden wirklich werdender Gleichheits-Utopie in diesem Einwanderer-Land. Und weil am Fourth of July diesen Jahres, vor dreiundzwanzig Tagen also, schon spuerbar war, wie nahe der Staat – und das Land – am Abgrund stehen, wusste ich noch nie vorher so deutlich und so schmerzhaft, dass ich ein Amerikaner sein moechte trotz allem unvermeidlichen Pessismus im Blick auf die Zukunft der Nation, das heisst: Teil dessen, was unpraetentioes wirklich geworden ist an dieser vergangenen Utopie von den Gleichheit der Verschiedenen – und doch  nie ganz aufgegangen und  eingeloest.

 

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Auf der Autobahn, die von San Francisco an die Nordgrenze von Kalifornien fuehrt und dann nach Oregon gibt es Tankstellen, die so aussehen, als ob sie vor zwanzig Jahren in Panik verlassen worden waeren (nie hat jemand dort die Werbung aus den Fensternscheiben genommen), von unten sehen manche Autobahnbruecken so aus, dass man sich ueber den Mut wundert, den es kosten sollte, sie mit einem Auto zu ueberqueren, es gibt Tieflader mit offenen Fahrer-Tueren, die keiner mehr schliessen wird, und Lagerhaeuser, die fuer immer leer bleiben. All das ist beileibe kein Dornroeschen-Schlaf, denn niemand wird die Wirtschaft hier zu neuem Leben erwecken. Es ist die vernarbte Szenerie einer vergangenen Gegenwart, deren Zukunft irgendwann wegbrach. Meile fuer Meile erfaehrt man hier, was es heisst, dass der Staat Kalifornien die Szenerie des Staats-Bankrotts schon vorweggenommen hat, und ich zwinge mich also zu einem Schluss, der mir sehr unangenehm ist, dem Schluss naemlich, dass der historische Hoehepunkt der Vereinigten Staaten, der Hoehepunkt meines Landes, ein knappes halbes Jahrhundert hinter uns liegen muss.

 

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Gibt es irgendeine amerikanische Hoffnung auf die Zukunft? Man kann sich natuerlich trotzig oder auch mit vorbildlicher Bescheidenheit sagen (einreden?), dass wir ja ueberhaupt nicht „Weltmacht Nummer Eins“ sein brauchen, dass wir das nicht einmal je wirklich gewollt haben. Die dominierende Zukunfts-Furcht ist allerdings eine andere. Es ist die Furcht, die von dem Eindrueck ruehrt, dass sich der Abstieg von Imperien immer und notwendig zu ihrem Fall beschleunigt. Gibt es etwas, das wir dagegen in die historische Waagschale – oder eher: in die Waagschale der Zukunftshoffnung – werfen koennen? Wir haben die elektronische Macht, heute mehr vielleicht als je zuvor, in Silicon Valley, eine gute Autostunde suedlich von jenem Friedhof aus vertrockneter Zukunft entlang der Autobahn nach Oregon, und das koennte die Macht der Zukunft werden, staerker, praegender, unbestrittener in unserer Zukunft als es das Militaer je gewesen ist (aber noch einmal: warum wollen wir ueberhaupt diese Macht)? Wir haben Universitaeten voll von jungen und weit fortgeschrittenen Studenten aus allen Laendern, die nirgends so frei und so produktiv denken wir hier. Wir haben die Geschichte der Depression in den dreissiger Jahren, als das Land schon einmal am Ende war (nicht nur: am Ende „schien,“ sondern wirklich am Ende war), um im naechsten Jahrzehnt endlich zur unbestritteten Weltmacht aufzusteigen.

 

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Und wird unser Praesident politisch ueberleben, dem vor weniger als drei Jahren die Welt zu Fuessen gelegen war, nachdem er die Nation verzaubert hatte? Er ist, aus meiner Sicht wenigstens, ein normaler Praesident geworden, ein sehr guter normaler Praesident (zu dessen grossen Tugenden seine politische Geduld gehoert), aber er bekommt keinen zinsfreien Kredit mehr dafuer, dass er Afro-Amerikaner ist, da haben die Republikaner recht – und sie haben auch recht zu betonen, dass es so sein muss. Niemand weiss also, ob Barack Obama Praesident bleiben kann ueber den naechsten Wahltermin im November 2012 hinaus – auch das ist ja im Prinzip gut, muss selbst ein Obama-Anhaenger wie ich zugeben. Ist das nicht eine verbleibende Staerke meines Landes, dass oft sehr schnell normal wird eben, was gerade noch undenkbar war und kaum einen Moment spaeter Wirklichkeit wurde? Vielleicht sind wir in diesem einen Sinn immer noch das Land der Zukunft, in dem einen Sinn eben, dass die Zukunft sehr schnell Gegenwart und dann Vergangenheit wird – aber vielleicht ist die Zukunft unserer Gegenwart, dass das ganze Land so aussehen wird wie die Autobahn von San Francisco nach Oregon.

 

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Ich weiss es nicht. Hin- und hergerissen bin ich dieser Tage, hin- und hergerissen zumindest, solange ich nichts auf den Websites finde, das mir die Angst vor der unmittelbar bevorstehenden Zukunft des 2. August loescht. Nur eines ist mir affektiv ganz klar: ich moechte dort (hier) bleiben, ich moechte Amerikaner bleiben. Nicht aus Trotz, glaube ich. Es gibt andere positive Gruende, unbd zu ihnen gehoert auch die etwas apokalyptische Intuition, dass selbst der Untergang meiner Nation etwas avantgardistisches haette, wenn er zum Vorspiel fuer den Untergang der Menschheit wuerde. Nur ist das natuerlich eine Reaktion  in deutscher  Stimmung (eher wagner’scher als hegel’scher Stimmung, befuerchte ich) — auf eine moegliche Zukunft Amerikas.