Digital/Pausen

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Hans Ulrich Gumbrecht lehrt Literatur in Stanford und bedauert es, zu alt für eine Karriere-Chance als Trainer im American Football zu sein.

Berlin als "Deutschlands Paris" – oder doch eher Weimar?

Hinter dem Namen "Berliner Republik," den sich das nach 1989 entstandene Deutschand gerne gibt, liegt eine eigenartige, potentiell befremdliche Vorgeschichte....

Hinter dem Namen “Berliner Republik,” den sich das nach 1989 entstandene Deutschand gerne gibt, liegt eine eigenartige, potentiell befremdliche Vorgeschichte. Natuerlich stellt der Name eine Unterscheidung und zugleich eine Verbindung her zur “Weimarer Republik” der zwanziger Jahre, die, zumindest was die Kultur angeht, heute national und international hoch ihm Kurs des historischen Gedaechtnisses steht. Entstanden ist die Bezeichnung “Weimarer Republik” allerdings aus genau entgegengesetzter Perspektive. Waehrend man in den zwanziger Jahren zunaechst ausschliesslich von der “Weimarer Verfassung” sprach, welche die verfassungsgebende Nationalversammlung nach der Niederlage des Ersten Weltkriegs 1919 in Weimar erarbeitet und zur Institutionalisierung gebracht hatte, wurde der Ausdruck “Weimarer Republik” erst viel spaeter und mit veraechtlichem Unterton zunaechst im Kontext der wirtschaftlichen und politischen Krise vor 1930 gebraucht – und zwar von Politikern der extremen Rechten (unter ihnen natuerlich Adolf Hitler), die das politische System ihrer Zeit der Verbindung mit dem Namen der Hauptstadt nicht fuer wert hielten. Nur zoegernd liessen sich damals die republikfreundlichen Medien auf den fuer uns selbstverstaendlich gewordenen Namen ein.

Schwaechesymptome dieser Art sind fuer die Berliner Republik des spaeten zwanzigsten und des fruehen einundzwanzigsten Jahrhunderts gluecklicherweise undenkbar geblieben. National scheinen sich die Bedenken jener knappen Minderheit mittlerweile ganz verfluechtigt zu haben, die einst fuer ein Festhalten an Bonn als Bundeshauptstadt argumentierte. Als Aussenstehender gewinnt man sogar den Eindruck, dass die Deutschen nun schon viele Jahre geradezu geruehrt sind von der Wahl einer Hauptstadt, zu der sie sich ohne Ambivalenzen bekennen wollen. Ein nationalspezifischer Nachholbedarf aus einer Epoche, die eigentlich hinter uns liegen sollte, scheint noch immer nicht gestillt. International erfreut sich Berlin ohnehin, zumal bei den juengeren Generationen vieler Kontinente und Laender (zu denen erstaunlicherweise auch und gerade Israel gehoert), einer Begeisterung, fuer die manchmal die Gruende, nie aber die Worte fehlen.

Die nicht mehr ganz neue Hauptstadt mag sich also auf dem Weg einer Entwicklung befinden, an dessen Ende sie zu “Deutschlands Paris” wuerde. Dann waere Berlin jene Stadt, die alle anderen Staedte des Landes in jeder Hinsicht zur “Provinz” herabstufte. Laengst ist jedenfalls die Chance verspielt, wenigstens einige der Dezentralisierungs-Dynamiken aus der alten Bundesrepublik zu erhalten. Eher arbeiten die Deutschen bienenfleissig und konsequent (bewusst oder vorbewusst) fuer Berlin am “Modell Paris” — und selbst eine elliptische Zwei-Polaritaet wie “Rom / Mailand,” “Madrid / Barcelona,” oder “Moskau / Sankt Petersburg” steht ganz ausser Frage.

Bei soviel nationalem und internationalem Berlin-Enthusiasmus wird fast immer uebersehen, dass diese absolut zentripetale Bewegung eine absolute Neuerung fuer die deutsche Geschichte ist. Noch im fruehen neunzehnten Jahrhundert beobachtete die franzoesische Autorin Germaine de Stael verwundert und zugleich mit Bewunderung, dass die bedeutendsten europaeischen Philosophen und Kuenstler ihrer Zeit in Deutschland “hinter Butzenscheiben” lebten – und meinte (neben Weimar) kleine, schon damals beruehmte Universitaetsstaedte in den deutschen Laendern, wie Goettingen und Marburg, Tuebingen und Heidelberg. Auch fuer diese Auslagerung des akademischen Lebens von der Hauptstadt gibt es mindestens ein funktionierendes Modell in der europaeischen Tradition, und das ist natuerlich die Rolle, welche Oxford und Cambridge als dominierende Universitaetsstaedte heute in Grossbritannien so selbstbewusst wie je spielen. Aber selbst dieses deutsch-akademische Erbe, weiss jeder, der mit den einschlaegigen Foerderungspraktiken des Bundes und den Berufungsentscheidungen der Professoren vertraut ist, wird bald dem Berlin-Sog anheimgefallen sein.

Historische Legitimitaet fuer diese beinahe alternativenlos gewordene Praeferenz, die Berlin inzwischen unter der Hand auch zur Kulturhauptstadt gemacht hat, gibt es eigentlich nicht, denn kulturgeschichtlich gesehen ist Berlin allenfalls exzentrisch fuer eine Hauptstadt — und eben deshalb interessant, aber keinesfalls zu vergleichen mit Paris, Rom oder London. Kulturell bemerkenswert wurde die Stadt eigentlich erst im Jahr 1811, mit der Gruendung der heutigen Humboldt-Universitaet, die sich rasch zu einem einflussreichen Zentrum der Philosophie und wenig spaeter auch (und vor allem) zu einem Ort bahnbrechender naturwissenschaftlicher Entdeckungen entwickelte. Die von wirtschaftlicher Not und politischer Instabilitaet bedrohten Zwanziger Jahre waren – bis in unsere Gegenwart – die einzige zeitliche Spanne, in der Berlins kulturelle Produktivitaet weltweite Aufmerksamkeit genoss und deshalb neben Wissenschaftlern auch Autoren und Kuenstler aus vielen anderen Laendern faszinierte. In dieser Hinsicht ist es emblematisch, dass Josephine Bakers Weltkarriere in Berlin – und eben nicht in Paris – begann. Bald aber wurde die Stadt zum Opfer der von den Nationalsozialisten verhaengten intellektuellen Laehmung, aus der sie sich waehrend der vierzig Jahre der Teilung, so gut es ging, herausarbeitete — mit der Kuenstlichkeit einer von aussen erhaltenen kapitalistischen Enklave und mit der Behaebigkeit einer sozialistischer Metropole. Es ist also nicht ueberraschend, wenn das Berlin der Berliner Republik auf internationaler Ebene manchmal Muehe hat, all den kulturellen Erwartungen zu entsprechen, die der uebereifrige nationale Berlin-Enthusiasmus entfacht.

Koennte Weimar — zum Beispiel — eine Alternative werden, die das Potential hat, an Besonderheiten der deutschen Kulturgeschichte anzuknuepfen? Wer die thueringische Stadt, die von ihrem Habitus ja immer eine Kleinstadt bleiben wird (und will), auch nur oeberflaechlich kennt, der weiss, dass die Frage rhetorisch bleiben muss. Denn bei aller gutgemeinten und im Rahmen des Moeglichen ja auch gelungenen Foerderung kann Weimar nichts anderes sein als ein historisches Freilichtmuseum, von dessen provinziellem Rhythmus man sich als entsprechend gestimmter Bildungstourist gerne in die Zeit von Goethe, Schiller und Wieland tragen laesst. Trotzdem gaebe es fuer die kulturelle Zukunft Deutschlands einiges zu lernen von Weimar.

 

Man muss dort sein, um sich deutlich zu machen, dass waehrend des halben Jahrhunderts zwischen 1780 und 1830 in Weimar und in Jena (als Weimars akademischem Pendant) der entscheidende Teil jener geistigen und kuenstlerischen Leistungen vollbracht wurden, die Deutschland zu einer zentralen Kulturnation im westlichen und globalen Kontext gemacht haben. Darauf hat deutlich, ja mit einer gewissen Brutalitaet Heinz Schlaffer in seiner programmatisch “kurzen” Geschichte der deutschen Literratur verwiesen. Nicht zuletzt durch solche extreme Konzentration unterscheidet sich die deutsche von den Kulturgeschichten Frankreichs, Englands und (mit Abstrichen) auch Spaniens und Italiens. Wer sich auf die einschlaegigen Fuehrungen und Besichtigungen in Weimar oder Jena begibt, wird bald erleben, wie hoechst unwahrscheinlich diese Explosion vielfaeltiger Grosse selbst in ihrer eigenen historischen Gegenwart war. Denn auch um 1800 waren Weimar und Jena enge Staedte fuer die Zeitgenossen, Staedte mit durchaus begrenzten wirtschaftlichen und sogar intellektuellen Resourcen.

Keiner unter denen, die damals von Weimar angelockt wurden, fand eine Gelegenheit oder gar eine Notwendigkeit zur Ablenkung. Auf lokale Streitigkeiten und Rivalitaeten liess man sich hoechstens am Rande ein. Niemand konnte dort dem Rausch der grossen Staedte anheimfallen, den man so gerne und oft mit der eigenen Inspiration verwechselt. Niemand konnte sich in der thueringischen Provinzialitaet bequem und zuhause fuehlen. Und darin genau, hat Jean-François Lyotard, der Philosoph aus Paris, einmal nach einer Gastprofessur in einer noch viel provinzielleren deutschen Stadt als Weimar geschrieben, darin genau liegt die intellektuelle Produktivitaet solcher Milieus – die natuerlich nur eine von vielen, gewiss nicht die einzige, aber gewiss doch eine spezifisch deutsche Moeglichkeit intellektueller und kultureller Produktivitaet ist. Provinzialiatet zwingt die Intellektuellen und Kuenstler zur Konzentration und zugleich dazu, von sich selbst Distanz zu nehmen, “von sich selbst zu emigrieren,” wie es Lyotard formulierte. Das war nicht anders im Tuebingen von Hoelderlin, Hegel und Schelling oder im Marburg von Bultmann, Heidegger und Arendt.

 

Gewiss, gegen den nicht nur historischen Anspruch solcher Beispiele kann man die Meinung kehren, dass es sich um Konfigurationen aus einer Vergangenheit handelt, die uns fuer immer verloren ist – und wer sagt ausserdem, dass in keiner deutschen Zukunft je die Moeglichkeit besonderer kultureller Produktivitaet unter Hauptstadtbedingungen entstehen kann? Andererseits: solange sich jene Akademiker, Intellektuellen und Kuenstler, die in Chemnitz oder Friedrichshafen, Osnabrueck oder Greifswald arbeiten, zurueckgesetzt fuehlen und deshalb die eigenen Ansprueche vorauseilend bescheiden formulieren, solange sie Woche fuer Woche nur auf den spaeten Donnerstagnachmittag warten, um ueber Regionalbahn mit ICE-Anschluss ins Berliner Wochenende zurueckzukehren, solange mag die Berliner Republik auf kulturelle Stagnation zusteuern.