Digital/Pausen

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Hans Ulrich Gumbrecht lehrt Literatur in Stanford und bedauert es, zu alt für eine Karriere-Chance als Trainer im American Football zu sein.

Kuenstlich, virtuell und gratis – Die Ankunft der neuesten Intelligenz

Ein Weltrekord koennte in der vergangenen Woche erreicht worden sein: mehr als 58000 Interessenten schrieben sich innerhalb weniger Stunden fuer einen elektronischen Kurs ueber "Artificial Intelligence" ein, den die Stanford University anbietet. Ist die Kehrseite dieser intensiven Faszination der Anfang vom Ende klassischer akademischer Bildung?

Die „New York Times” berichtete in der vergangenen Woche sofort darueber und auch in den deutschen Menschen gab es unuebersehbare Resonanz: ein Weltrekord koennte gefallen sein (obwohl die einschlaegigen Rankings noch fehlen), als sich wenige Stunden nach seiner Ankuendigung auf dem Web ueber 58,000 Interessenten fuer einen Einfuehrungskurs zum Thema „Artificial Intelligence” angemeldet hatten, den die Stanford University anbietet. Er wurde von zwei international fuehrenden Spezialisten zusammengestellt, von Peter Norvig, dem Forschungsdirektor bei Google, und von Sebastian Thrun, einem Stanford-Professor in Computer Science. Thrun hat vor Jahren ein unbemanntes Fahrzeug gebaut, das mehrere tausend Kilomenter auf kalifornischen Strassen rollte und arbeitet jetzt „in geheimer Mission” an einem aehnlichen Projekt fuer Google. Die elektronische Lehrveranstaltung meidet alle monologisch-vorlesungsartigen Elemente, nur fuer kurze Momente sind die Dozenten zu hoeren und zu sehen. Die Moeglichkeit des direkten Gespraechs mit den Dozenten wird durch eine Fuelle interaktiver Elemente ersetzt, welche es den Teilnehmern unter anderem erlauben, ihren Kenntnisstand und ihre praktische Kompetenz mit anderen Web-Teilnehmern zu vergleichen und mit Studenten in Stanford, die dem Kurs im Hoersaal folgen. Wer diese Veranstaltung auf dem Web belegt, gilt zwar nicht offiziell als Stanford-Student und bekommt auch nicht die entsprechenden credits, doch er kann mit einem „Statement of Accomplishment” rechnen, das auf dem Arbeitsmarkt wohl funktionsaequivalent sein wird. Vor allem ist die Teilnahme gratis, waehrend die vollen Studiengebuehren in Stanford mittlerweile bei weit ueber 50,000 Dollars pro Jahr liegen. Als derselbe Kurs im vergangenen Studienjahr in einer nicht elektronischen Version angeboten wurde, schrieben sich – sage und schreibe – dreihunderfuenfzigmal weniger Studenten ein, und auch bei einem kuerzlich in Spanien gehaltenen Sommer-Seminar hatten Norvig und Thrun keine in quantitativer Hinsicht bemerkenswerte Resonanz.

 

Die mit Begeisterung verbreitete Nachricht von den 58,000 Interessenten fuer den elektronischen Kurs ueber „Artificial Intelligence,” machte ich alternder kalifornischer Professor mir – eher zaehneknirschend – klar, markiert den Anfang vom Ende der akademischen Tradition. Vor allem liegt dies wohl an der Kombination von Thema und medialer Form. Keine der grossen intellektuellen Gestalten, keines ihrer Lebenswerke fasziniert heute so sehr wie das (noch vage) Versprechen kuenstlicher Intelligenz, und die interaktiv-elektronische Form setzt sie unmittelbar in erlebte Praxis auf dem Keyboard um – fuer eine Generation, welche die Geduld (oder die Konzentrationsfaehigkeit) fuer professorale Monologe laengst verloren hat. Die Autoritaet der Dozenten wird von der Strahlkraft des Namens „Google” belegt, waehrend das Prestige der „Stanford University” daneben zu nicht mehr als einer nostalgischen Dreingabe verblasst. Und zugleich ist es letztlich Google-Kapital, das es ermoeglicht, den Kurs gratis anzubieten (zu einer Zeit, wo man sich in Deutschland erst langsam an den Gedanken zu gewoehnen beginnt, dass zumindest private Institutionen ein Recht haben, ernsthafte Studiengebuehren zu erheben). Denn gegenueber der mittelfristigen oekonomischen Wirksamkeit einer an 58,000 Teilnehmer vermittelten elektronischen Hochkompetenz werden Studiengebuehren (beliebiger Hoehe) irrelevant.

 

In der Alptraum-Vision dieser Nachricht besetzt die schwarze Spinne eines Kommunikationskreislaufs aus der corporate world nun das ueber Jahrhunderte geknuepfte Netz der Institution „Universitaet” und laesst viele jener Verzweigungen obsolet werden, die seine Schoenheit und seine Attraktivitaet ausmachten. Das Hoersaal-Charisma des grossen akademischen Dozenten werden die Studenten der Zukunft nicht mehr erleben, und Erinnerungen an die erotischen Schwingungen heisser Seminar-Diskussionen wird es bald nur noch in der Literatur der Vergangenheit geben. Aber natuerlich existiert auch eine utopische Kehrseite zu diesem Bild. Das ist die elektronisch ermoeglichte – und tatsaechlich radikale – Demokratisierung einer neuen Bildung auf hoechstem Niveau. Wer wollte die so viele Millionen junger Intelligenzen motivierende Kraft von Karrieren wie denen der Google-Gruender in Abrede stellen wollen, die zwar ihr Stanford-Studium nie abgeschlossen haben, aber die Universitaet inzwischen mit Spenden in Milliardenhoehe unterstuetzen?

 

Dennoch regt sich in der Seele des aus der weit abgesetzten Peripherie beobachtetenden alten Geisteswissenschaftlers ein  Impuls, der auch von weither, aus den Traeumen der 1968er Studentenrevolte aufsteigt. Das kleine Feuer seiner „kritischen” Energie, sage ich mir etwas verzagt, erinnert an jene Strahlungen des big bang, die uns noch heute erreichen. Soll man sich nicht jener schwarzen Spinne aus der corporate world widersetzen, laesst sich keine Stelle auf ihrem Ruecken ausmachen, wo sie verletzbar wird, ist die akademische Tradition tatsaechlich nicht mehr zu reden? Bevor ich zu einem Stich aushole, der in der Welt von heute so aussehen muesste wie Don Quijotes Kampf gegen die Windmuehlen, macht sich eine ernuechternde Sicht der Zukunft breit. Kein aus dem Horizont meines Wissens zu formernder Kurs faellt mir ein, der je Zehntausende von Interessenten aktivieren koennte. Ende September werde ich hochzufrieden sein, wenn sich zwanzig Studenten fuer mein Seminar ueber „Philosophies of Modernity” eingeschrieben haben, die bereit sind, sich ein Trimester lang mit mir um einen Tisch zu versammeln, um die – oekonomisch ueberhaupt nicht wirksame – Frage zu diskutieren, ob eine in der Antike entstandene und von der Renaissance erneuerte Tradition von Intelligenz in unserer elektronischen Gegenwart an ihr Ende gekommen ist.

 

Mit dieser medialen Form der Vergangenheit werde ich dann bald das Trimester meiner Emeritierung erreichen, gewaermt von der Hoffnung, dass sich einige Kollegen der Zukunft an unsere Gespraeche vom Herbst 2011 erinnern werden. Fuer die Gegenwart schreibe ich ja – Woche fuer Woche – diesen Blog.