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Das Raetsel (des Fussballs) von Uruguay

Beim Anflug auf Montevideo sieht man in der Mitte der Stadt das Estadio Centenario und ahnt, dass es wohl immer noch so aussieht wie 1930, beim Endspiel der ersten Fussball Weltmeisterschaft, fuer das der Bau gerade noch rechtzeitig abgeschlossen wurde. Das Gastgeberland hatte damals knapp zwei Millionen Einwohner, davon ein gutes Drittel in der Hauptstadt (heute entsprechen die eineinhalb Millionen Uruguayer von Montevideo ungefaehr der Haelfte der Gesamtbevoelkerung), galt als “die Schweiz Suedamerikas” (den entsprechenden Reichtum verdankte Uruguay der technischen Moeglichkeit, gefrorenes Fleisch zu exportieren) und siegte 4:2 gegen das benachbarte  Argentinien, nachdem es schon die olympischen Fussballturniere 1924 und 1928 gewonnen hatte – und deshalb heute zwei Weltmeister-Sterne mehr als die fuer 1930 und 1950 auf dem Nationalmannschafts-Trikot traegt. Solche Details werden sehr ernst genommen in Uruguay, niemand vergisst zu erwaehnen, dass die FIFA tatsaechlich die Zaehlung von Weltmeister-Wuerden vor dem Beginn der Weltmeisterschaften offiziell gebilligt hat

Kaum habe ich dem Taxifahrer gesagt, zu welchem Hotel er mich bringen soll, frage ich ihn auch schon ohne irgendeine Ein- oder Ueberleitung, denn Maenner jedenfalls sprechen immer ueber Fussball in Montevideo, wie er denn die grossen Erfolge Uruguays in der juengsten Vergangenheit erklaert, und er sagt sehr ernst eben, mit Gewissheit, Stolz und so, als haette er mit meinem Interesse ganz selbstverstaendlich gerechnet: “Mucho corazón,” und dann: “mucho amor a la camisa.” Man muss kaum Spanisch koennen, um diese Worte zu verstehen, und zugleich ist es fuer einen Aussenstehenden auch fast unmoeglich, ihre Bedeutung ganz nachzuvollziehen. Aber zunaechst kommt einem natuerlich diese Antwort — “viel Herz” und “Liebe zum National-Trikot” — nur unueberbietbar naiv und sehr altmodisch vor, fast so altmodisch wie die Pferde-Fuhrwerke, die ich durch das Taxi-Fenster in den Strassen von Montevideo sehe. Kein Fan in Europa — und in Brasilien auch schon laengst nicht mehr – wuerde heute noch diese Worte gebrauchen.

Immerhin ist die Fussball-Geschichte von Uruguay bemerkenswert: zwanzig Jahre nach der Weltmeisterschaft von 1930 gewann die Nationalmannschaft noch einmal vor zweihunderttausend Zuschauern im Maracana-Stadion von Rio de Janeiro gegen den haushoch favorisierten Gastgeber. Dann waren die Ergebnisse ueber ein gutes halbes Jahrhundert respektabel, aber doch auch hinreichend mit Niederlagen durchsetzt, dass man in Uruguay und in der Fussball-Welt ganz realistisch anzunehmen begann, die ganz grossen Erfolge der Vergangenheit liessen sich unter den finanziellen und athletischen Anforderungen der fortschreitenden Gegenwart nie mehr wiederholen. In dieser neuen Situation und in ihrer Einschaetzung liegt uebrigens eine historische Umkehrung: denn waehrend der zwanziger Jahre gab es Berufsspieler nur in England (das, etwas arrogant, bis 1950 am internationalen Spielbetrieb nicht teilnahm), in Argentinien und in Uruguay, und so wird verstaendlich, warum die Einfuehrung der Fussball-Weltmeisterschaft mit der Tendenz des Internationalen Olympischen Komitees zu tun hatte, sich konsequent auf Distanz zum professionellen Sport zu halten (auch José Andrade, der erste internationale Star der Fussballs, dem nicht wenige Frauen zu Fuessen gelegen haben sollen, als sei er Rodolfo Valentino, war (Afro)Uruguayer) .

Doch dann wirkten alle Prognosen ueber ein Ende dieser Tradition schon etwas weniger realistisch, nachdem sich Uruguay im vergangenen Jahr bei der suedafrikanischen Weltmeisterschaft als Vierter vor Brasilien und Argentinien plaziert hatte. 2011 hat dieselbe Mannschaft nun das alle vier Jahre stattfindende Turnier der suedamerikanischen Nationen in Argentinien ziemlich ueberlegen gewonnen, waehrend Penarol Montevideo in der “Copa de Libertadores” siegte, dem Aequivalent der Champions League. Es gibt also tatsaechlich, nach den zwanziger und den fuenfziger Jahren, heute doch einen neuen “ruhmreichen Moment” (sagt man dort ganz unironisch) im uruguayischen Fussball, den “ruhmreichsten” von allen vielleicht  – denn ihn sollte es, “realistisch” gesehen eben, gar nicht geben duerfen. Wie unwahrscheinlich ist es, dass ein Land von drei Millionen und einer weiterhin eher schwachen Wirtschaft heute wieder zu den ganz grossen Fussball-Nationen aufgeschlossen hat, zumal auf der Grundlage einer eigenen ersten Liga, in der (mit seltenen Ausnahmen) nur Hauptstadt-Clubs spielen (von denen hoechstens zwei je international wahrgenommen werden), und die deshalb nie irgendeinen Spieler halten kann, der im Ausland auf sich aufmerksam gemacht hat? Selbst der Erfolg jener Uruguayer, die das “Vaterland” (auch das Wort “Patria” wird mit Ernst und sehr haeufig gebraucht) verlassen und die in sie gesetzten Erwartungen erfuellen, wie Diego Forlán (frueher bei Atlético Madrid, jetzt bei Inter Mailand) oder Luis Alberto Suárez (frueher bei Ajax Amsterdam, jetzt bei Liverpool), fuehrt eigentlich nie in das hellste Licht des Star-Systems — was nicht unbedingt sportliche Gruende haben muss.

Natuerlich unterhalten sich auch in Uruguay die Fans – und das sind eben alle – darueber, wie diese Fussball-Gegenwart moeglich wurde, und je gebildeter das Niveau des Gespraechs, desto “globaler” und vorhersehbarer fallen die Antworten aus. Anders gesagt: je gebildeter sie sich geben, desto mehr entsprechen die Thesen dem neuesten, international akzeptierten Fussball-Erfolgszept. Oscar Washington Tavares, der Nationaltrainer, den man auch deshalb “Maestro Tavares” nennt, weil er ein ausgebildeter Grundschullehrer ist, kuemmert sich mit Akribie und erstaunlichem Erfolg um all die uruguayischen U-Nationalmannschaften; er ermutigt seine Spieler, sich neben ihren Fussball-Verpflichtungen auch um eine alternative Berufsausbildung und sogar um etwas Allgemeinbildung zu kuemmern; er geht davon aus, dass Uruguay gegen die anderen grossen Mannschaften nie seinen eigenen Stil durchsetzen kann, sondern von Fall zu Fall spezifische Strategien entwickeln muss. Dann soll es derzeit einige Figuren in der uruguayischen Nationalmannschaft geben, die Verantwortung zu uebernehmen bereit sind und Autoritaet bei neuen, juengeren Spielern haben. Aber all das liest man ja auch ueber die anderen Mannschaften, welche heute Erfolg haben, zum Beispiel ueber die deutsche Nationalmannschaft – und man koennte es gewiss auch ueber viele Mannschaften sagen, die ihre Ziele nicht erreichen. Mit der politischen oder wirtschaftlichen Situation als Erklaerung schliesslich kommt man nicht sehr weit im Fall von Uruguay. Das Land wird derzeit zum ersten Mal in seiner Geschichte von betont linken Politikern (mit Chávez-Affinitaet) regiert, aber das hat anscheinend weder zu begruendeter Euphorie noch zu nationalen Katastrophen gefuehrt. 

Als die uruguayische Mannschaft von der Weltmeisterschaft in Suedafrika nach Montevideo zurueckkam und auch nach dem Erfolg dieses Jahrs in Argentinien, war bis zur Feier im Estadio Centenario waehrend der fruehen Morgenstunden buchstaeblich die halbe Nation auf den Beinen, die Schaetzungen entsprechen der Einwohnerzahl der Haupstadt. Vielleicht hat solcher Patriotismus in unserer Zeit der Globalisierung allein in jeden Laendern ueberlebt, deren Gesamt-Bevoelkerung an einer gemeinsamen Feier teilnehmen kann, unter Bedingungen also, von denen Jean-Jacques Rousseau im achtzehnten Jahrhundert schrieb, dass sie Voraussetzung jeder wahren Demokratie seien: alle Buerger sollen sich auf einem Platz versammeln, ja sich wechselseitig in die Augen sehen koennen. Und vielleicht erklaert genau dies, warum der einzige Vergleichsfall zum Fussball in Uruguay der Basketball in Litauen ist, einem aehnlich kleinen Land. Basketball in Litauen und Fussball in Uruguay sind als zentrale Dimensionen der nationalen Geschichte und mithin der nationalen Identitaet auch fuer jene Buerger wichtig und konkret erfahrbar, die sich sonst nicht fuer Sport begeistern. Schon der Vater von Diego Forlán, dem Kapitaen der heutigen Nationalmannschaft, spielte fuer Uruguay, waehrend sein Grossvater als Trainer eine Suedamerika-Meisterschaft fuer das Land gewann – und man hat den Eindruck, dass nur wenige Leute in Montevideo nicht irgendeinmal mit der Forlán-Familie in direktem Kontakt waren.

Natuerlich koennen solche zentrale Dimensionen kollektiver Identititaet bei Nationen von wenigen Millionen nicht in imperiale Traeume oder konkrete Projekte der Expansion umschlagen. Sie vermitteln nur das Gefuehl, nicht uebersehen zu werden, und auch die Hoffnung, dass es ein eigenes Potential zu besonderen Leistungen und herausragenden Momenten gibt. Das mag der Grund dafuer sein, dass nationale Identitaet besonders homogen und besonders wichtig ist in Uruguay — als eine individuelle Perspektive die es erlaubt, sich als Teil eines Kollektivs zu erleben und fuer dieses Kollektiv zu engagieren,.

Darin liegt wohl ein sportliches Potential, welches ein kompetenter Trainer wie Tavares mit institutionellen Massnahmen freisetzen kann, auch wenn dieselben Massnahmen unter anderen Umstaenden nicht aehnlich erfolgreich waeren. Die Nationalmannschaft scheint fuer die uruguayischen Spieler heute nicht nur wichtig zu sein als eine Plattform, die ihnen zu groesserer Sichtbarkeit und also auch zu groesseren Einnahmen verhilft. Es liegt ihnen offenbar existentiell daran (anders kann man es gar nicht sagen), die eine grosse und international wahrgenommene Tradition ihres Landes zu foerdern. Das koennen Real Madrid, Manchester United, Bayern Muenchen und demographisch viel groessere Nationen nicht bieten – und vielleicht gehoert andererseits die Komponente der katalanischen Identitaet zu den Erfolgsbedingungen des FC Barcelona. Der uruguayische Erfolg jedenfalls hat zu tun mit dem freundlichen Ernst und der Zurueckhaltung in den Gespraechen von Montevideo, mit den vielen Fahnen in den Strassen und mit dem individuellen Gefuehl, stolz auf die eigene Geschichte zu sein, gerade weil sie eine abgelegene und und oft auch eine intern schmerzvolle Geschichte war (nicht zufaellig ist das Wort “Stadt-Guerrilla” in Montevideo erfunden worden).

Koennten also “mucho corazón” und “mucho amor a la camisa” am Ende doch die richtigen Antworten auf die Frage nach den Gruenden des permanenten uruguayischen Fussball-Wunders gewesen sein? Ich denke, sie sind tatsaechlich eine gute –  dazu im uruguayischen Sinn: eine konservative – Loesung des Raetsels, und vielleicht sollte man sich ueberzeugen lassen, dass darin kein Problem liegt. Nur ist der Fall eben auch so aussergewoehnlich, dass seine “Logik” gewiss nicht wie ein Rezept auf viele andere Situationen uebertragen werden kann. Gerade dies fasziniert mich am Raetsel vom Uruguay, das nun schon – auf der Rueckreise und beim Umsteigen in Washington – noch heller strahlt als waehrend des Tags in Montevideo.

 

 

 

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