Digital/Pausen

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Hans Ulrich Gumbrecht lehrt Literatur in Stanford und bedauert es, zu alt für eine Karriere-Chance als Trainer im American Football zu sein.

Gustaf Gruendgens, Mephisto und die Faszination der grossen Schauspieler

Sie kennen das: es gibt Tage, an denen man besessen ist von der Erinnerung an  eine Stimme und an einige Woerter, denen sie ihren Ton gegeben hat. Das...

Sie kennen das: es gibt Tage, an denen man besessen ist von der Erinnerung an  eine Stimme und an einige Woerter, denen sie ihren Ton gegeben hat. Das muessen nicht gesungene Woerter sein, nicht einmal Woerter in poetischer Form, das heisst: Woerter in rhythmischer und oft auch gereimter Form. Zum Beispiel kann es eine Erinnerung an die Stimme der Mutter oder der Vaters sein, an die Stimme eines Lehrers, oder die Stimme eines Geliebten – oder auch eine Stimme, die man ganz zufaellig in der U-Bahn gehoert hat. Obwohl ich im Alltag nur selten Deutsch spreche, sucht mich keine andere Stimme oefter heim als die von Gustaf Gruendgens, dem grossen Theater-Schauspieler der Nachkriegsjahre, und es ist immer derselbe Satz, den ich hoere: „Seid mir gegruesst, ihr schlotternden Lemuren.“ Gruendgens rollt das „r,“ wie es sich in der deutschen Theatersprache gehoert (und als ob er Italienisch spraeche); das „t“ in dem Wort „schlotternden“ ist so stark aspiriert, dass man ein „h“ herauszuhoeren glaubt; und dann dehnt sich ganz lang das „u“ von „Lemuren.“ Der Satz klingt so, denke ich jedes Mal, wie nur ein Satz von Mephisto klingen kann: etwas zu dramatisch artikuliert, um ganz ernst zu sein; zynisch vielleicht; verfuehrerisch, und immer auch mit einem Unterton resignierter Verzweiflung.

 

Ich habe nun ganz bewusst nicht nachgesehen, woher genau der Satz kommt. Aus Goethes „Faust“ jedenfalls, fast mit Sicherheit aus dem zweiten Teil und fast ebenso sicher aus einem dramatischen Moment ohne zentrale Bedeutung. Denn Saetze, die uns heimsuchen und verfolgen, verfolgen uns nicht deshalb, weil ihre Bedeutung wichtig ist. Man kann sogar von Saetzen und Woertern besessen sein, ohne die Sprache zu verstehen, zu der sie gehoeren (meinem einsprachigen Vater waren im Zweiten Weltkrieg einige russische Worte begegnet, die er vierzig Jahre lang, bis zum Lebensende, wiederholte, ohne je herauszufinden, was sie bedeuteten). Und andererseits sind profunde Saetze oder witzige Saetze nicht unbedingt die, an die wir uns akustisch erinnern. Am Anfang des ersten Teils in der Film-Trilogie vom „Paten“ gibt es einen laengst sprichwoertlich gewordenen Satz, der erstes Licht auf die Gestalt des Paten werfen soll und zugleich durch seine pointierte Ironie beeindruckt. Es ist der Satz ueber „an offer he could not refuse,“ der sich auf den kriminellen Tatbestand einer Erpressung bezieht, aber mit dieser kompakten Formel die Erpressung in eine kriminelle Handlung „zu gutem Zweck“ umwandeln soll. Nur, Hand aufs Herz, koennen Sie sich an die Stimme von Michael Corleone (Al Pacino) erinnern, die diesem Satz seinen Ton und seinen Rhythmus gibt? Eher nicht, nehme ich an. Denn der Satz ist beruehmt geworden wegen der Spannung zwischen seiner manifesten Bedeutung („ein Angebot, das man nicht ausschlagen kann“) und der in ihr transparent werdenden, komplexeren latenten Bedeutung (eine Erpressung „zum guten Zweck“), nicht wegen seines Klangs und seiner Diktion.

 

Saetze, Verse oder Woerter mit endgueltiger Diktion, etwa der Vers von den „schlotternden Lemuren“ in der Stimme von Gustaf Gruendgens am Ende des von ihm inszenierten Faust-Dramas, beduerfen keiner profunden oder pointierten Bedeutung, um erinnert zu werden. Eher als zum Wissensschatz zitierbarer Saetze, meine ich (aber darueber scheint noch kaum jemand nachgedacht zu haben), gehoeren sie zur  Bildwelt der                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                          zurBildweltder stummen oder von der Sprache nur begleiteten Gesten. Zum Beispiel zu jener Szene, wo der aus Lebensgefahr gerettete Pate vom Krankenhaus nachhause gebracht wird, erfaehrt, dass ausgerechnet sein juengster Sohn Rache genommen hat fuer den Anschlag auf ihn  — und, weil er noch zu schwach ist, um zu sprechen, nur reagiert, indem er die Augen schliesst und seine Hand nach links wie ins Unendliche bewegt. Wer sich an dieses Bild und ueberhaupt an die von Marlon Brando gespielte Gestalt des Paten erinnert, der erinnert sich koerperlich, fast unabhaengig davon, was die Rolle und ihre einzelnen Gesten „bedeuten“ moegen. Ich habe mich dabei beobachtet, wie ich – koerperlich eben – den Unterbiss des Paten nachgeahmt habe und nicht fern davon war, Marlon Brandos Intuition zu folgen, der mit Papiertaschentuechern im Mund seinen Backen jene eigenartige Form gab, die fuer uns das Gesicht des Paten, das Gesicht von Vito Corleone geworden ist.         

 

Saetze wie der Gruendgens-Satz von den Lemuren oder Gesten wie die von Marlon Brando sind endgueltig, weil sie es uns unmoeglich machen, die Gestalt, welche sie verkoerpern, je noch anders vorzustellen. Eine neue Version des „Paten“ mit Anthony Hopkins in der Hauptrolle waere (fast im woertlichen Sinn) ein Un-Ding, und Robert De Niro tat gut daran, sich um physische Aehnlichkeit mit dem Brando-Paten erst gar nicht zu bemuehen, als er im zweiten Teil der Trilogie den jungen Vito Corleone spielte. Ebenso ist fuer meine Generation – und offenbar nicht nur fuer sie —  der Mephisto von Gustaf Gruendgens endgueltig (und Gruendgens’ Mephisto ist kein Einzelfall – ganz aehnlich kann ich mich etwa an Lessings Nathan nicht anders erinnern als mit dem Bild von Traugott Buhre aus der beruehmten Peymann-Inszenierung). So ueberzeugend war die Mephisto-Gestalt von Gruendgens,  dass sie die Rolle des Faust in unserem Verstaendnis des klassischen Texts an den Rand gedraengt hat. Gewiss, dies war nicht unabhaengig von historischen Verschiebungen in den Sinnstrukturen, die unser Denken orientieren, nicht unabhaengig von dem, was man literaturwisseschaftlich „Rezeptionsgeschichte“ nennt. Zur Rolle des Faust gehoert ein idealistisches Pathos (etwa die Rede von den „zwei Seelen, ach, in seiner Brust“), das uns fremd geworden ist, waehrend wir uns mit Mephistos begrenzter Unabhaengigkeit, ja mit seiner Ambivalenz gegenueber Gott, mit dem Ton seiner Kritik, mit der Energie, die ihn traegt, mit seinem Scheitern am Ende und auch mit der Ahnung seiner komplexen Sexualitaet (Gruendgens hat der Gestalt deutlich homosexuelle Konnotationen gegeben) fast leichter als mit Faust identifizieren koennen – selbst wenn wir das nur insgeheim tun.

 

All dies aber, wir koennen es die „historische Aktualisierung“ von Goethes Vorgabe nennen, waere kaum so anscheinend endgueltig geworden, haette Gruendgens nicht mit der Diktion seiner Stimme, mit den schwarz-roten Kostuemen, mit der Ballett-artigen Eleganz seiner Bewegung, mit dem Masken-haft weiss geschminkten Gesicht und den rot ausgemalten Lippen einen kuenstlichen Koerper geschaffen, der vom Text und seinen moeglichen Bedeutungen unabhaengig geworden ist. Und manchmal frage ich mich, ob es genau dies ist, was wir – unbewusst oder halbbewusst – in der Kunst der Schauspieler suchen. Jenen Moment, der immer moeglich ist und doch nur selten wirklich wird, wo sich die Verkoerperung einer Rolle aus den historischen Bedingungen und aus den Sinn-Kontexten abloest, zu denen die Rolle gehoert – und etwas Neues in die Welt bringt, etwas Neues, Physisches, ein Ding fast, das uns fasziniert, von dem wir uns nicht trennen koennen, obwohl wir gar nicht wissen, was genau uns anzieht. Es waere nun ueberhaupt kein „rezeptionsgeschichtlicher“ Gedanke mehr, aber vielleicht ein Gedanke, der dem Theater als Schau-Spiel naeher kaeme, sich vorzustellen, dass Dramen fuer diesen Augenblick der Er-Loesung geschrieben sind, dass Schauspieler fuer den Augenblick der Er-Loesung arbeiten, der eben als Potential immer gegeben ist, aber sich nur so sollten einloest. Das ist auch der Moment, wo man zwischen dem Schauspieler, der Rolle im Text und dem aus beiden geschaffenen neuen Koerper nicht mehr unterscheiden kann, wo Gustaf Gruendgens Mephisto ist und Marlon Brando Vito Corleone.

 

Eine ganz andere Frage ist es, warum uns solche Momente so beeindrucken, warum sie unvergesslich werden und warum sie uns manchmal lebenslang heimsuchen, ohne dass wir uns dagegen wehren wollen. Das ist eine „theoretische Frage“ im kritischen Sinn des Wortes, eine aus der Perspektive des Schauspiels ueberfluessige Frage, denn es ist fuer die Existenz des Schauspiels ja durchaus genug, dass wir solche Momente der Er-Loesung einer Rolle in einer neuen Gestalt einfach wollen. Jedenfalls glaube ich nicht, dass wir von diesen Kunst-Gestalten Aufschluss, Orientierung oder Welt-Interpretationen erwarten. Vielleicht geht es eher um das Ereignishafte in ihnen, darum dabei zu sein wenn sie entstehen und in die Welt kommen – und im Theater kann das ja bei jeder Auffuehrung der Fall sein. Gruendgens hat Mephisto in seinem nicht ganz vierundsechzigjaehrigen Leben hunderte von Malen gespielt, und weil es bei jeder dieser Auffuehrungen moeglich gewesen waere (und wahrscheinlich auch ab und an geschehen ist), dass ihm die Verkoerperung nicht definitiv geriet, waren die meisten der Zuschauer, jene Zuschauer, die dabei waren, als sie ihm gelang, gegenwaertig bei einem Ereignis, durch das etwas Neues in die Welt kam.

 

Sollte diese These, diese Intuition nicht ganz ins Leere gehen (und ich warte mit viel Unsicherheit auf die Reaktion meiner Tochter, die Schauspielerin ist), dann machte der Sachverhalt, auf den die These zielt, die grossen Schauspieler unabhaengig von ihren Biographien. Gerade die Biographie von Gustaf Gruendgens steht in einem historischen Halbschatten, wegen seiner Naehe zu Hermann Goering, der ihn mit pompoesen Gesten protegierte, wegen des Entschlusses also, der Gruendgens in den Jahren des Nazi-Regimes ganz auf das Schauspielen setzen liess – und ganz ohne Widerrede. Dies hat Klaus Mann in seinem Roman „Mephisto“ fast ohne literarische Verhuellung blossgestellt. Aber der Mephisto, dem Gruendgens dazu verhalf, in die Welt zu kommen, ist nicht identisch mit dem historischen Gustaf Gruendgens.