„Jedes Jahr leiden gut 38 Prozent aller Europaeer an einer neuropsychiatrischen Erkrankung – 14 Prozent allein an einer Angststoerung, insbesondere Phobien, sieben Prozent an ernsten Schlafstoerungen, ebenso viele an Depression” und vor allem: „Bei Kindern und Jugendlichen werden heute fuenfmal so viele Depressionen festgestellt wie noch vor einer Generation.” Statistiken dieser Art und mit aehnlichen Zahlen liest man heute allenthalben, und natuerlich treffen sie nicht allein fuer Europa, sondern mindestens auch fuer Nordamerika zu (weniger fuer Asien offenbar und fast nicht fuer die suedliche Halbkugel, aber das ist ein anderes – in anderer Weise faszinierendes – Thema). So viele Berichte dieser Art lesen wir tatsaechlich, dass unsere Reaktionen flach werden: Erstaunen, Besorgnis, dann wird umgeblaettert, ohne weitere Fragen. Dabei beduerfte es nur eines kurzen Nachdenkens, um auf die eigentliche Provokation zu stossen. Denn gehen wir nicht davon aus, dass es in der Welt des fruehen einundzwanzigsten Jahrhunderts weniger Anlaesse als frueher gibt fuer depressive Verstimmungen (zum Beispiel)? Und liegt deshalb nicht ein Paradox im Zunehmen der Depressionen unter Jugendlichen um das fuenffache, innerhalb einer Generation?
Prinzipiell koennen wir mit den Zahlen in zwei ganz verschiedenen Weisen umgehen. Es ist einmal moeglich anzunehmen, dass sich die Zuwachsraten fuer psychiatrische Diagnosen aus einer Konvergenz von schaerferen Erfassungsmethoden und gesunkenen Hemmschwellen seitens der Kranken ergeben. Noch vor dreissig Jahren wurden psychiatrische Leiden weniger ernst genommen als heute und entsprechend weniger medizinisch registriert, waehrend es damals andererseits – viel mehr als heute – zumindest peinlich war (oder sogar als Schande erlebt wurde), ueberhaupt als psychisch krank zu gelten. Vielleicht hat sich also die Zahl der tatsaechlich psychisch Kranken in Wirklichkeit gar nicht oder nur geringfuegig veraendert? Eine grundsaetzlich andere Reaktion auf die genannten Statistiken liegt in der Frage, welche Strukturumwandlungen des Alltags, in dem wir leben, zu den als real angenommenen Situationen gefuehrt haben koennten. Am Ende ist es wohl banal, aber trotzdem richtig davon auszugehen, dass die Wahrheit auch hier irgendwo in der Mitte liegen muss. Sehr wahrscheinlich werden heute mehr psychiatrische Faelle erfasst als frueher. Doch das schliesst natuerlich keineswegs aus, dass die Zahl der psychisch Erkrankten enorm gewachsen ist.
Vor allem kann ich die eine Zahl nicht vergessen: fuenfmal mehr Depressionen bei Jugendlichen und Kindern als noch vor einer Generation. Darueber hoere ich nicht auf nachzudenken, auch wenn mir jede Fachkompetenz fehlt, den Befund medizinisch oder psychologisch zu kommentieren. Hat denn nicht meine und die nachfolgende den folgenden Generationen kollektiv und individuell bessere Bedingungen fuer ihr Aufwachsen geboten, als es ueber Jahrhunderte der Fall gewesen war? Lebensbedrohliche Kinderkrankheiten, Hunger, koerperliche Bestrafung und harte physische Arbeit fuer Minderjaehrige gibt es – in Europa jedenfalls – nur noch in Ausnahmefaellen, die zudem leicht identifizierbar und mithin (wenn noetig durch staatliche Intervention) abzustellen sind. Auf der anderen Seite haben sich der durchschnittliche Grad der Bildung und Ausbildung, die Durchlaessigkeit der Erziehungssysteme, die Angebote der Unterhaltung, die Moeglichkeiten des Reisens und wohl auch die Bereitschaft der Erwachsenen, in Belastungssituationen zu verstehen und zu helfen, ganz fraglos verbessert. Wie kann es also sein, dass weit mehr Jugendliche als frueher unter Depressionen leiden, welche sie nicht selten verleiten, sich das Leben zu nehmen?
Mit pauschalen „kulturkritischen” Beobachtungen, die schon zur Phrase geraten, bevor sie ausgesprochen sind, mit der Rede vom „Verlust der Werte” etwa oder von der „Leere sozialer Beziehungen” kommt man nicht weiter, sie helfen hoechstens der Elterngeneration, sich in einer Wolke von Vagheit aller Verantwortung zu entziehen. Spezifischer und intellektuell produktiver ist die Tatsache, dass depressive Verstimmung bei Jugendlichen, vor allem bei jungen Frauen, heute – haeufiger und auffaelliger vielleicht als je zuvor – mit Akten koerperlicher Selbstaggressivitaet verbunden sind. Dazu gehoeren als langfristig zu drastischen Veraenderungen, ja sogar zum Ausloeschen des Koerpers fuehrende Verhaltensformen wie Magersucht und Bulemie. Eine zeitlich andere Struktur hat die Tendenz, sich selbst Schnitte zuzufuegen. Anorexie und Bulemie werden in Alltagsgespraechen (eher als von Spezialisten) nicht selten mit dem medial erzeugten „Terror des Idealkoerpers” in Zusammenhang gebracht. Aber wahrscheinlich greift auch diese Erklaerung zu kurz, denn unter Ess-Stoerungen leiden ja durchaus auch Maedchen, deren Koerper zunaechst den Ideal-Massen entsprach. Das „Schneiden” andererseits erinnert an Erklaerungen, die oft fuer den – medizinisch ganz unproblematischen – Wunsch nach Taetowierungen und Piercings angefuehrt wuerden: man will sich Schmerz zufuegen, um wieder ein Gefuehl fuer den eigenen Koerper zu haben, um existentiell eine Beruehrung mit der materiellen Welt zu finden.
Aber wo und warum verlieren die Jugendlichen das Gefuehl fuer den eigenen Koerper? Vielleicht ist es ja schon ein Fortschritt, ueberhaupt bei dieser Frage anzukommen und sich fuer einen Moment auf sie zu konzentrieren. Jede Antwort muss vorerst im Bereich der Spekulation bleiben – und sollte mittelfristig von Spezialisten differenziert ausgearbeitet werden. Gewiss vollzog sich der historische Prozess der Moderne seit seinem Beginn in der Renaissance, das hat vor Jahrzehnten schon der Kulturhistoriker Norbert Elias beschrieben, als eine Folge von Schritten, die eine immer groessere Distanz zwischen den menschlichen Koerpern und ihren materiellen Umwelten verursacht haben. Die Wirkung dieser Distanz lag zunaechst in einer Entlastung vom Druck der physischen Umwelt, welche die Menschen freisetzte fuer Projekte und ihre Verwirklichung, wie sie im Mittelalter noch nicht denkbar gewesen waeren.
Vielleicht ist dieselbe Entwicklung aber nun im elektronischen Zeitalter weit genug fortgeschritten, um die Entlastung des Koerpers zu seiner Dysfunktionalitaet werden zu lassen. Wer Software so aktivieren will, dass sie ueber viele Stunden taeglich unser Haupt-Kommunikationsmittel werden kann, das auch raeumliche Distanzen aufhebt und damit Bewegung im Raum ueberfluessig macht, der muss ein erhebliches Bewusstseins-Volumens investieren, doch nur minimale koerperliche Bewegungen (nichts als das Tippen). Eben in diesem Zusammenhang – vor dem Computer sitzend, wie es fuer viele (nicht nur) Jugendliche heute zur dominanten Lebensform geworden ist – koennte „das Gefuehl fuer den Koerper verloren gegangen” sein. Sie kennen ja alle das – harmlose und doch signifikante – Gefuehl, das sich manchmal einstellt, wenn wir eine Person nach langer elektronischer Korrepondenz zum erstenmal leibhaftig sehen: wir fragen uns, ob es auf der anderen Seite ueberhaupt eines Koerpers und eines Gesichts bedarf.
Weiter will ich diesen Gedanken vorerst nicht treiben. Es scheint unleugbar, dass etwas aus den Fugen geraten ist in unserem koerperlichen Verhaeltnis zur physischen Umwelt, und es liegt zumindest nahe, dass damit auch unser Verhaeltnis zum eigenen Koerper sein primaeres Gleichgewicht verloren hat. Fuer Akte und Gewohnheiten koerperlicher Selbst-Aggression spielt dies zweifellos eine ausschlaggebende Rolle. Dass der Sport – als aktiv betriebener und als Zuschauer-Sport — in der Kultur der Gegenwart einen breiteren Raum einnimmt als je zuvor, kann man als ein Symptom im selben Sinn verstehen. Aber wir wissen nicht, ob dem Sport der notwendige Ausgleich auch vollends gelingt. Vielleicht hat der Prozess der Moderne unsere Lebensbedingungen langfristig in so radikaler Weise „verbessert,” dass die „Verbesserung” nun fuer die juengste Generation in Depression als Volkskrankheit umgeschlagen ist.