Auf dem Rueckflug von zwei Wochen intensiver Arbeit in Budapest bin ich fuer einen Tag in Frankfurt und sehe auf jedem Bildschirm und jeder Zeitung die Gestalt des Papstes, wie er mit aller Zwiespaeltigkeit von Deutschland empfangen wird. Mit der begeisterten Sehnsucht nach einer Autoritaet einerseits, die nicht von geschichtlichem Wandel und individuellen Meinungen zu relativieren ist; aber andererseits auch mit einer Skepsis und manchmal sogar einer Empoerung, die den Anspruch auf solche Autoritaet prinzipiell in Frage stellen. Als ich weiterfliege, legen sich die komplexen ungarischen Erinnerungen ueber die schnellen Eindruecke aus Deutschland und geben ihnen eine neue Bedeutung.
Noch nie habe ich eine Stadt gesehen, in der die Schichten des Vergangenen so praesent sind – so herausfordernd praesent – wie in Budapest. Was den Haeuser-Fassaden und Denkmaelern vor allem ihre Form gegeben hat, ist das halbe Jahrhundert vor dem Ersten Weltkrieg, als Budapest – neben Wien – die andere Hauptstadt der kaiserlich-koeniglichen Doppel-Monarchie entlang der Donau war. Wie ein Nachhall aus jener Zeit wird die deutsche Sprache bis heute – neben dem Englischen – auch von den juengeren ungarischen Generationen als eine von zwei gleich abrufbaren Fremdsprachen gebraucht. Aber ueber solchen Fernerinnerungen und ihrer Praesenz in der Gegenwart, ueber den Gebaeuden aus einer offenbar sehr bewegten Zwischenkriegszeit auch, liegen die Spuren des kurzen halben Jahrhunderts Staats-Sozialismus zwischen 1949 und 1989, der in Ungarn gerade zum „Kalten Krieg“ erstarrte. Dort hatten im Herbst 1956 Studenten-Proteste, welche auf bessere Versorgung und einen freiheitlicheren Sozialismus draengten, die pro-sowjetische Regierung an den Rand der Machtlosigkeit gebracht. Als Moskau schon bereit schien, mit den Vertretern der Reform-Bewegung zu verhandeln, rollten Panzer in die Hauptstadt ein und stellten in wenigen Tagen schonungslos blutiger Unterdrueckung wieder den Zustand absoluter sowjetischer Kontrolle her. Ueber siebenhundert russische Soldaten fielen, mehr als zweieinhalbtausend Ungarn verloren ihr Leben, und mehr als zweihunderttausend flohen aus ihrem Heimatland. Die westliche Weltoeffentlichkeit wartete auf eine militaerische Reaktion der anderen Alliierten aus dem Zweiten Weltkrieg, vor allem der Vereinigten Staaten, welche die ungarische Reformbewegung ermutigt und unterstuetzt hatten – und fuerchtete zugleich den Ausbruch eines nuklearen Dritten Weltkriegs (ich war damals acht Jahre alt und hoere noch die Stimmen meiner Eltern, die sich – auf die erschreckenden Nachrichten am Radio reagierend – Vorwuerfe machten, wenige Monate zuvor ein zweites Kind in die Welt gebracht zu haben). Als aber alle politisch und militaerisch ernstzunehmenden Reaktionen zugunsten der ungarischen Erhebung ausblieben, wurde zum deutlich, dass die beiden Supermaechte einander jede Art brutaler Machtdemonstration innerhalb der entstehenden sozialistischen und kapitalistischen Bloecke zugestehen wuerden. Dies war der definitive Beginn des Kalten Krieges als Zeit eines prekaeren und zuerst mit ungarischem Blut erkauften Friedens.
Auf dem Platz vor dem ungarischen Parlament, wo die Panzer des Staats-Sozialismus im Herbst 1956 aufrollten, sind bis heute Geschosskugeln in den Mauern und andere Spuren der Zerstoerung an den Waenden der Haeuser zu sehen. Vor allem den Schmerz der Unterdrueckung (als deren Vorspiel manche Aeltere jene sportliche Niederlage Ungarns aus dem Jahr 1954 erwaehnen, die in Deutschland so gerne „das Wunder von Bern“ genannt wird), vor allem den nicht vergehenden Schmerz der gebrochenen Hoffnungen und die nie mehr wettgemachte Enttaeuschung durch den Sozialismus spuert man noch immer in vielen Gespraechen, obwohl der 1956 wiederhergestellte Staats-Sozialismus ja vor inzwischen mehr als zwanzig Jahren an sein Ende gekommen ist. Auf einem benachbarten Platz wird – durch einen hohen Zaun geschuetzt – das Denkmal zur „Befreiung“ Ungarns durch die Rote Armee erhalten. Ihm gegenueber hat man eine lebensgrosse Metall-Skulptur von Ronald Reagan aufgestellt, der fuer viele Ungarn offenbar als jener amerikanische Praesident gilt, dem vor allem (dessen Bemuehungen um eine militaerische Hochruestung) das Ende des Kalten Krieges nach 1989 zu verdanken ist.
Die verschiedenen nationalen Vergangenheiten sind so ungewoehnlich gegenwaertig in Budapest, dass man sich zu fragen beginnt, ob diese Gegenwart erklaert, warum die Ungarn mit ueberwaeltigender Mehrheit eine Regierung gewaehlt haben, die zugleich sozialistisch sein will (Wieder-Verstaatlichungen zentraler Unternehmen stehen auf ihrem Programm) und eine nationale Groesse erreichen, welche die Vergangenheit dem Land verweigert hat (jene Ungarn, die ausserhalb der heutigen Staatsgrenzen leben, werden immer wieder demonstrativ in die kollektive Identitaet eingeschlossen). Diese Politik zu verstehen und sie wirklich beurteilen zu koennen, hat meine Zeit in Budapest nicht ausgereicht. Aber ich frage mich, ob ihr expliziter Wille, die Vergangenheit nicht unter je neuen Gegenwarten verblassen und vergehen zu lassen, wirklich nur ein nationaler „Sonderfall“ ist.
Steht eine aehnliche Haltung nicht auch – vorbewusst gewiss – hinter der Begeisterung fuer einen programmatisch konservativen Papst und fuer die Institution, die er verkoerpert? Koennte hinter der (nicht nur) deutschen Spannung zwischen Benedikt-Begeisterung und Benedikt-Ablehnung nicht die Spannung zwischen zwei ganz verschiedenen Haltungen zur Geschichte liegen? Zwischen derjenigen Haltung zur Geschichte, an die wir uns seit dem neunzehnten Jahrhundert gewoehnt haben und in der wir von jeder neuen Gegenwart die Abloesung alles Vergangenen erwarten; und auf der anderen Seite jener neuen Einstellung zur Geschichte, der die „Gruenen“ zum Beispiel ihre Resonanz wie ihren politischen Erfolg verdanken, weil sich in ihr vor den Automatismus einer „fortschrittlichen“ Dauer-Veraenderung der Welt die Frage geschoben hat, ob nicht oft die Bewahrung des Vergangenen seiner Abloesung vorzuziehen ist. Man hat diese Einstellung „neo-konservativ“ genannt, um sie als „rechts-konservativ“ an den Rand des politischen Spektrums zu draengen, aber diese Strategie ist gescheitert. Sie haette nur innerhalb einer Mentalitaet erfolgreich sein koennen, fuer die Veraenderung weiterhin und ausnahmslos als positiv gilt.
Es war also wohl kein Zufall, dass in der Bundestagsrede Benedikts XVI. eine Affinitaet zur Fraktion der „Gruenen“ aufschien. Sie musste bei jenen gruenen Abgeordneten zwiespaeltige Reaktionen ausloesen, die sich weiterhin der Wertekombination von „Links“ und „Fortschritt“ verpflichtet fuehlen. Aber vielleicht bewegt sich die Welt gar nicht mehr auf dieser Einbahnstrasse — ganz abgesehen davon, ob man die neue (die „neue konservative“) Richtung politisch bejaht oder nicht. Vielleicht bewegt sich die Welt in einer anderen Richtung, wo die Bewahrung des Vergangenen nicht mehr „rechts“ ist im Sinne einer Bewahrung vergangenen Privilegien, sondern „links“ im Sinne der Bewahrung von Ueberlebens-Moeglichkeiten fuer alle.
Waehrend des neunzehnten Jahrhunderts hatte sich die katholische Kirche – entschiedener als irgendeine andere Institution und teilweise mit Konsequenzen, die sie heute nur bedauern kann – gegen die damals neue Mentalitaet des Fortschritts und der Modernisierung gestellt. Das genau war der „anti-modernistische“ Geist des ersten Vatikanischen Konzils, und es ist jener Geist geblieben, welcher der Kirche bis heute eine Aura des „Unzeitgemaessen“ eingetragen hat. Daran hat das zweite Vatikanische Konzil in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts nur wenig geaendert – trotz all seiner Bemuehungen um moegliche Anpassungen an die Gegenwart (von „aggiornamento“ [„Anpassung an den Tag“] war damals die Rede: man waehlte ein italienisches, also nicht mehr ein lateinisches Wort und vermied zugleich das Wort „Modernisierung“).
Doch inzwischen scheint eine Gegenwart gekommen, in welcher der grundsaetzliche Wille zur Bewahrung – gemeinsam mit der Bereitschaft zu begruendeten Teil-Veraenderungen (kann man „aggiornamento“ so verstehen?) — viel attraktiver scheint als vor fuenfzig Jahren. Das ist eine langsamere Gegenwart, eine Gegenwart, welche die Vergangenheit nicht mehr ohne weiteres hinter sich lassen kann oder notwendig hinter sich lassen will: eine Gegenwart auch, deren Zukunft mehr von der Furcht vor drohenden Katsatrophen besetzt ist als vom Glauben an unendliche Moeglichkeiten des Fortschritts, aus denen wir nur auszusuchen brauchen.
Fuer viele Zeitgenossen sind in dieser anderen Gegenwart der „unzeitgemaesse“ Papst und seine „unzeitgemaesse“ Institution sehr anziehend geworden. Kirche und Papst koennen ihrerseits in Anspruch nehmen, dass sie sich nicht an eine neue Haltung zur Geschichte, an eine sich wandelnde Zeitlichkeit angepasst haben. Die katholische Kirche ist konservativ nicht aus politischen Gruenden, sondern weil sie sich als eine Institution versteht, welche die Welt als Schoepfung Gottes im kollektiven Bewusstsein zu halten hat, die Welt als Schoepfung Gottes, deren Werte und Gesetze als in ihren „Heiligen Schriften“ geoffenbart gelten und nicht historischem Wandel unterworfen werden duerfen. Allenfalls kann die katholische Kirche in je neuen Gegenwarten andere, bisher nicht freigelegte Bedeutungen der Heiligen Schriften entfalten. Das ist „aggiornamento“ (mit all seinen Grenzen), und das hat der Papst getan, als er vor dem deutschen Parlament, vor dem Parlament der oekologischsten aller Industrienationen, von den Verpflichtungen sprach, welche „die Wuerde des Planeten“ der Gegenwart aufgibt.
Was Fragen der Sexualitaet angeht, so werden Papst und katholische Kirche „unzeitgemaess“ bleiben, solange sie in den Heiligen Schriften und den ueberlieferten Dogmen keine Anhaltspunkte und Legitimationen fuer eine zu wandelnde Einstellung identifizieren zu koennen glauben. Das ist aus saekularer Perspektive und – noch intensiver – aus der Perspektive der persoenlich Betroffenen gewiss zu bedauern. Aber daran liegt nicht wirklich ein Widerspruch zur neuen Attraktivitaet des Papstes und der Kirche in einer neuen, langsamen Gegenwart. Es ist nur ein anderer, ein schmerzhafter Aspekt jenes Konservativismus, der sie in anderer Hinsicht anziehend macht, eines Konservativismus, der es nicht erlaubt, die Welt und ihre Werte an die sich wandelnden Beduerfnisse je neuer Generationen anzupassen.
Fuer theologisch Bewanderte ist wahrscheinlich banal, was mir zwischen Frankfurt und San Francisco (und mit Budapest in Erinnerung) durch den Kopf ging, und wen die „unzeitgemaessen“ Wertvorgaben der katholischen Kirche existentiell treffen und eingrenzen, dem ist mit solchen Ueberlegungen schon gar nicht geholfen. Immerhin habe ich jetzt meine Sympathie fuer eine Institution besser verstanden, deren Gotteshaeuser ich seit der Zeit meiner Erstkommunion nur noch aus kunsthistorischem Interesse oder zum Anlass von Familienfeiern besuche. Und ich habe auch verstanden, was in dieser anderen Gegenwart meine Sympathie fuer die katholische Kirche zu tun hat mit meiner grossen Sympathie fuer Budapest.