Es ist schon ueberraschend (oder “bemerkenswert,” wie man in Deutschland gerne mit leicht akademischem Stirnrunzeln sagt), dass die juengste jener Wellen radikaldemokratischer Bewegung, die im spaeten achtzehnten Jahrhundert einsetzten, den Macht-Effekt und den anarchischen Charme von “Piraten” beansprucht. Ein Google-Klick genuegt, und man sieht, wie solche Gruppierungen mit elektronischer Initialzuendung waehrend der vergangenen fuenf Jahre in buchstaeblich allen Laendern der Welt aus je verschiedenen politischen Boeden geschossen sind und anscheinend unaufhaltsam Fahrt aufgenommen haben, manchmal mit wirklich exponentieller Beschleunigung – um sich am Ende jedenfalls immer um die Piratenflagge und ihr Emblem zu versammeln. Piraten aber, das weiss jeder Leser von Geschichten wie “Peter Pan” oder “Die Schatzinsel,” koennten nicht existieren, falls sie sich je auf Regeln demokratischen Umgangs einliessen. Piraten fuehlen sich an kein Gesetz gebunden und sind ausschliesslich motiviert von Gelegenheiten raschen materiellen Gewinns, wenn sie – momentane Vorteile von Flexibilitaets- und Gewaltpotential nutzend — auf hoher See schwere Fregatten entern. Was sind aber, um im Bild zu bleiben, die schwerfaelligen Fregatten, welche die Piratenparteien von heute entern wollen, stets bewaffnet mit dem Versprechen von mehr Demokratie?
Natuerlich heisst die Antwort, dass in der Sicht der neuen elektronischen Piraten jedes “etablierte” politische System zur Fregatte wird. Solange es sich bei den etablierten Systemen um Diktaturen handelt (wie bei einer Anzahl von arabischen Laendern in der juengsten Vergangenheit) oder um eine zum Schutz von Politikern aufgebotene Polizeimacht von einschuechternder Praesenz (wie bei mehreren Weltwirtschaftsgipfeln seit der Jahrtausendwende), laesst ein Wind globaler Sympathie die auf Konfliktkurs gehisste Piratenflagge flattern. Aber sollte man mit derselben Sympathie – oder gar mit Schadenfreude – reagieren, wenn die Piraten Systeme parlamentarischer Demokratie attackieren? Ende September berichtete die “New York Times” von Jugend-Protestbewegungen In Israel, Spanien und England, die sich nicht mehr um Wahlen und all die anderen demokratischen Legitimationsmechanismus scheren. Demokratisch sein soll fuer sie allein heissen, die Institutionen liberaler Politik zu ignorieren und lahmzulegen, wenn moeglich fuer immer.
Worin liegt nun die spezifische Schwaeche, worin liegt der wunde Punkt parlamentarischer Demokratien, auf die es solche “Piraten” abgesehen haben? Warum erweisen sie sich als schutzlos-schwere Fregatten auf der hohen See internationaler und nationaler Politik? Das Problem laesst sich am deutlichsten beim historischen Ursprung unserer heutigen Staatsformen greifen, im Zeitalter der europaeischen (und nordamerikanischen) Aufklaerung. Gegen die Konzentration der gesamten politischen Macht in den Haenden absolutistischer Monarchen ging es der Aufklaerung als politischer Bewegung zunaechst und um die die Teinahme aller Untertanen im Prozess der Meinungsbildung. Diese Inklusion sollte sie von Untertanen zu Buergern machen. So vage die Ideen ueber Mechanismen von Inklusion und Partizipation auch damals noch waren, man stellte sich Demokratie stets als “direkte” Demokratie vor. Der “politische Koerper” sollte aus einer begrenzten Anzahl von Buergern bestehen, forderte etwa Jean-Jacques Rousseau, von Buergern, die sich auf einem Feld versammeln konnten, um dort in unmittelbarer Praesenz Gesetzesvorschlaegen und Strategien politischen Handelns ihre Beistimmung zu geben oder zu verweigern.
Dabei zeigte sich sofort ein zentrales Problem – und mithin die Schwerfaelligkeit der Demokratie als System – aufgrund jenes Effekts, den Niklas Luhmann (zweihundert Jahre spaeter) den Effekt der “Elargierung” nannte. Denn die etwa fuenfzehn Millionen Wahlbuerger, deren beste Interessen die Politiker der franzoesischen Revolution verwirklichen wollten, liessen sich beim besten Willen nicht mehr auf einem Feld versammeln und “direkt” auf politische Zustimmung oder Ablehnung befragen. Die Loesung des Problems lag im Prinzip der “Repraesentation,” in der Wahl von Abgeordneten und Parlamenten, denen es anstelle der Versammlung aller Buerger auferlegt war (und immer noch ist), als “Vertreter” politische Entscheidungen zu diskutieren und zu formen. Rousseau scheint darauf mit der Unterscheidung zwischen dem “Willen aller” (“volonté de tous”) und dem “allgemeinen Willen” (“volonté generale”) reagiert zu haben. Dem Willen aller Individuen (aller versammelten Buerger zum Beispiel) sprach er geringere Wahrheitsfaehigkeit zu als dem allgemeinen Willen (wie ihn kleinere, besonders qualifizirte Gruppen “zum Wohl aller” identifizieren sollen). Mit anderen Worten: nicht die Teilnahme wirklich aller Buerger macht eine Entscheidung demokratisch, sondern ihre Qualitaet und ihre Konsequenzen (dies wurde dann eineinhalb Jahrhunderte spaeter zum Legitimationsprinzip des Staats-Sozialismus).
Unvermeidlich entstehen jedenfalls Spannungen zwischen der radikaldemokratischen Forderung nach Inklusion aller Buerger in den politischen Prozess einerseits und andererseits gewissen Folgen des Prinzips der Repraesentation. Gewaehlte Abgeordenete sollen fuer jeweils eine Legislaturperiode in ihren Entscheidungen unabhaengig sein; ihnen wird begrenzte Immunitaet gegen gerichtliche Verfolgung gewaehrt; unvermeidlich entwickelt sich die Politiker-Klasse stets zu einer Schicht “demokratischen Adels” (nicht umsonst redet man Abgeordnete im amerikanischen Englisch mit dem Wort “Honorable” an). Solche Spannungen und vermeintlichen Widersprueche waren und sind der Preis, den Systeme parlametarischer Demokratrie fuer die Problemloesung des Repraesentationsprinzip zahlen. Wegen ihrer standen sie von Beginn im Feuer radikaldemokratischer Kritik: “die da oben,” die weit vom Volk “abgehobenen” Politiker, kennen ueberhaupt nicht mehr den Alltag und die Sorgen derer, die sie vertreten sollen. Das so wahrgenommene “poliische System” ist also genau jene schwerfaellige Fregatte, die die Piraten entern wollen.
Und worin besteht der (bisher eher implizite als programmatische) positive Demokratieamspruch der Piraten? Vor allem natuerlich in der “frechen” Art und Weise, wie sie “die da oben” herausfordern. Dann aber auch in dem Sachverhalt, dass das Internet, die elektronische Kommunikationsform, ueber die Piraten sich finden und zusammenschliessen, tatsaechlich offen ist fuer die Inklusion und Partizipation aller Buerger (zumindenst fuer die Teilnahme aller Buerger, die Zugang zu einem Computer haben). Hinzu kommt die mittlerweile empririsch gesicherte Erfahrung, dass aus elektronischer Kommunikation erstaunlich flache (“laterale,” “nicht-hierarchische”) Formen sozialer Beziehung entstehen. Wir alle kennen die Wundergeschichten von den blitzschnellen und allein kompetenzabhaengigen Karrieren in der Software-Industrie, zu denen “Aufstieg” als Dimnesion gar nicht mehr gehoert; wer auf dem Web zuhause ist, weiss wie schnell dort alle (sprachlichen) Konventionen der Distanz, Hoeflichkeit und Autoritaet abgelegt werden. Ganz unberechtigt ist es also nicht, wenn die Piratenparteien agieren, als ob sie die lang ersehnte Verwirklichung der Traums seien, der in dem Satz “Wir sind das Volk” steckt. Auf das Prinzip der Repraesentation und seine unvermeidlichen Ambivalenzen jedenfalls muessen sie sich (selbst dort, wo sie in Parlamente gewaehlt werden) kaum einlassen, solange es ihnen gelingt – auf den lateral organisierten Kommunikationsstrukturen des Web – Lawinen des Protests und andere Formen von (meist negativer) Konsensbildung auszuloesen.
Gibt es ueberhaupt irgendwelche Probleme mit den lateralen Strukturen elektronischer Demokratie? Oder sollten wir sie so schnell und vollstaendig als nur moeglich zu unserer politischen Zukunft machen? Ich bin eher pessimistisch in dieser Hinsicht (aber ich bin auch dreiundsechzig Jahre alt. elektronisch eher gehandicapped und ein autoritaer ueber seine Studenten wachender Professor). Ich bin pessimistisch, weil ich vermute, dass die eine – vielleicht die einzige — grosse Staerke der elektronisch-lateralen Demokratie im Kanalisieren und Buendeln von Protestpotentialen liegt. Fuer diese Funktion ist der Kollaps aller Hierarchien eine ideale Voraussetzung, denn er laesst saemtliche Energiequellen des Protests auf derselben Ebenen zusammenstroemen. Andererseits bin ich ueberzeugt, dass Prozesse der politischen Entscheidungsfindung und die Entwicklung von Zukunftsvisionen erfolgreicher und effizienter unter Bedingungen politischer Repraesentation und struktureller Hierarchie (oder jedenfalls unter Bedingungen struktureller Asymmetrie) ablaufen. Denn Hierarchien koennen ueber Beziehungen der Rivalitaet intellektuelle und politische Energien freisetzen, und Hierarchien koennen die form-bildende Funktion der Reduktion von Komplexitaet foerdern (anders gesagt: Entscheidungen fallen leichter, wo sie ab und an von einer zentralen Figur oder von einem kleinen Spezialisten-Gremium verantwortet werden duerfen). Oft sind Hierarchien sogar genau in diesem Sinn das Ergebnis und zugleich die Voraussetzung von Kompetenz-Steigerung.
Laterale Kommunikationsstrukturen bewaehren sich (wie schon gesagt) beim Ausloesen von meinungsbildenden Prozessen und bei der Inklusion der Vielen. Zur Entwicklung von Problemloesungsstrategien sind sie wohl weniger geeignet, weil es ihnen schwer faellt, einen (gemeinamen) Fokus auszumachen und beizubehalten. Die Segel des Piratenschiffs mag ein frischer Wind des neuen kollektivistischen (und sogar radikaldemokratischen) Protests fuellen, doch es wird den Piratenparteien, laesst sich voraussagen, nur solange richtig gut gehen, wie sie vor allem reagieren koennen – und nicht den politischen Ton angeben muessen. Dieses potentielle Schicksal teilen sie uebrigens mit der amerikanischen Tea Party-Bewegung (so anders die Tonalitaet der selbst-bechreibenden Bilder sein mag), die ja auch als Adovokatin von Individual-Interessen gegen das “Etablierte” und “Abgehobene” in der Politik polemisiert – in diesem speziellen Fall unter den Fluegeln einer grossen alten Partei.
Aber wer weiss? Vielleicht kommt alles ganz anders. Silicon Valley wird man nichts weniger vorwerfen als Problemloesungs-Schwaeche – und keine Industrie ist so un-hierarchisch organisiert wie die dort entstandene Software-Industrie. Vielleicht stehen die “Piraten” und jene elektronischen Kommunikationsformen, die sie ausmachen, erst am Beginn eines heute noch kaum vorstellbaren Triumphzugs. Vielleicht bin ich einfach zu alt, um noch Urteilskraft fuer einschlaegige Zukunftsprognosen zu haben. Dort, wo der elektronische Triumphzug enden mag, moechte ich jedenfalls lieber nicht leben muessen.