Digital/Pausen

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Hans Ulrich Gumbrecht lehrt Literatur in Stanford und bedauert es, zu alt für eine Karriere-Chance als Trainer im American Football zu sein.

Ästhetik der Gewalt: Was Rugby hat und Fußball nicht

“Stell Dir vor, es ist Krieg, und niemand geht hin,” diese beruehmt friedfertigen Worte stammen, glaube ich, von Bertolt Brecht, der uebrigens...

“Stell Dir vor, es ist Krieg, und niemand geht hin,” diese beruehmt friedfertigen Worte stammen, glaube ich, von Bertolt Brecht, der uebrigens nicht gerade pazifistisch war, wenn es darum ging, militaerische Interventionen der Sowjetunion zu rechtfertigen. Was immer der ethische oder politische Anspruch des Satzes sein mag, er passt genau, um die Einstellung der meisten deutschen Sportfans zur Rugby-Weltmeisterschaft zu beschreiben, die gerade mit den Halbfinalspielen zwischen Frankreich und Wales, Australien und Neuseeland in ihre entscheidende Phase eingetreten ist. Man hat kein Interesse und keine Zeit  fuer ein Spiel, das seit etwa einem Jahrzehnt weltweit immer mehr Zuschauer fasziniert — und beruft sich dabei gerne (durchaus selbstgefaellig) auf eine  Abscheu vor Gewalt, vor Gewalt, die tatsaechlich und ganz wesentlich zum Rugby gehoert.

 

Aus der Distanz wirkt diese Ausblendung eher wie ein provinzielles Vorurteil. Denn im Vergleich zu anderen Laendern bietet die deutsche Sportszene, was Mannschaftsspiele angeht, ein kaum ueberbietbar monokulturelles Bild. In England konkurriert der Fussball mit Rugby und Cricket; in Frankreich gibt es Regionen, vor allem im Suedwesten, wo Rugby weit populaerer ist als Fussball; wie weit der Fussball in den Vereinigten Staaten hinter Baseball, American Football, Basketball und Eishockey rangiert, nehmen deutsche Beobachter seit langem als ein unwiderlegbares Symptom schlechten Geschmacks wahr; und dass Rugby das domierende Spiel der suedlichen Hemisphaere ist, hat sich wohl noch gar nicht herumgesprochen. Auch in klassischen Fussball-Laendern wie Argentinien oder Uruguay spielt er dort eine beachtliche Rolle. Brasilien ist die – in dieser Hinsicht mit Deutschland vergleichbare – monokulturelle Ausnahme.

 

Da solche kollektiven Zuwendungen und Abwendungen zur Welt der aesthetischen Erfahrung gehoeren (so zaeh sich selbst viele Intellektuelle unter den Sportfans gegen den Sachverhalt wehren), kann und sollte man ueber sie nicht streiten  — schlimmer waere wohl nur, sie als Symptome von Schwaechen oder Staerken im “Nationalcharakter” zu deuten. Die Frage ist eher, was man – als Moeglichkeit aesthetischer Erfahrung – versaeumt in einer Sportkultur wo Rugby keine Rolle spielt. Und er spielt geradezu sichtbar keine Role in Deutschland: vor einigen Wochen entdeckte ich vor dem Frankfurter Flughafen den offiziellen Bus der Rugby-Nationalmannschaft, und er sah so bedauernswert aus, dass ich gerne mit einer Spende geholfen haette — wenn nur jemand dagewesen waere, um sie entgegenzunehmen.

 

Wer sich das aesthetische Potential eines Spiels wie Rugby vergegenwaertigen moechte, sollte einen kurzen Blick auf die Geschichte jenes Differenzierungsprozesses werfen, in dem waehrend des neunzehnten Jahrhunderts aus einer zunaechst kaum festgeschriebenen gemeinsamen Grundlage Spiele wie Fussball, Rugby und American Football entstanden sind. Historisch und systemisch gesehen, liegt der jeweils entscheidende Entwicklungsschritt – und der entscheidende Unterschied – darin, ob Spieler den Ball mit ihren Haenden sichern und bewegen duerfen. Wo das erlaubt bleibt, wie beim Rugby und spaeter beim American Football, da muss auch der Gebrauch von Gewalt erlaubt bleiben – die man definieren kann als die Eroberung oder Verteidigung von Raeumen mit Koerpern gegen den Widerstand anderer Koerper – weil allein der Gebrauch von Gewalt einer Mannschaft in der Defensivposition Moeglichkeiten gibt, den Ball zurueckzugewinnen. Nach der gleichen Logik muessen die Regeln des Fussballs den Gebrauch von Gewalt ausschliessen, weil Ballkontrolle dort weit prekaerer ist und gegen den Einsatz von Gewalt schlicht unmoeglich waere. Eishockey markiert die eine Ausnahme in diesem Zusammenhang: obwohl auch dort die Puck-Sicherung prekaer ist (wie beim Fussball), bleibt der Einsatz von Gewalt (wie beim Rugby) erlaubt, was wohl einfach damit zu erklaeren ist, dass sich auf dem Eis Kollisionen nicht vermeiden lassen.

 

 

Auf dem Rasen aber folgt fuer Rugby und Fussball – und fuer die naechste Ebene in der Ausformung dieser Spiele – dass sich Fussball als ein Spiel von Momenten individueller Intuition und flexibler kollektiver Organisation entwickelt hat, weil dort Strategien der Ballsicherung nicht ueber laengere Sequenzen geplant und durchgehalten werden koennen. Rugby hingegen lebt vom Kontrast und vom Wechsel zwischen zwei grundlegend verschiedenen Situationen. Eine ist die Situation gewaltsamer Konfrontation, wo es um die Eroberung des Balls geht (vor allem im sogenannten ‘Gedraenge” (engiisch: “scrum”)): der Ball wird zunaechst fuer die Zuschauer unsichtbar unter zwei Geflechten von miteinander eng verbundenen Spieler-Koerpern, die sich wechselseitig zurueckzudraengen versuchen. Die andere Situation setzt ein, sobald eine Mannschaft im Gedraenge den Ball gesichert hat: dann versucht sie, in einem schnellen, meist genau geplanten Zusammenspiel von Einzelbewegungen und Paessen, den gewaltsamen Koerpereinsatz der defensiven Mannschaft ins Leere laufen zu lassen, ihn mit groesserer Gewalt zu durchbrechen oder manchmal auch mit individueller Intuition zu ueberspielen. Die schoenste Phase eines Rugby-Matchs ist dieser ploetzliche Uebergang aus der Koerperballung des Gedraenges in den Fluss schneller Ballwechsel. Weil Paesse nur in Gegenrichtung zum Angriff gespielt werden duerfen, laufen sie in der Form einer besonderen Geometrie ab: sie sehen aus wie aus schraegem Winkel beobachtete Wellen.

 

Rugby-Zuschauer fuehlen sich dann mitgerissen von einer Euphorie und von einem ploetzlichen Gefuehl der Befreiung, deren Energie nicht hervortreten koennte ohne einen doppelten Hintergrund von Gewalt, ohne die verhaltene Gewalt des Gedraenges und ohne die potentielle Gewalt der Deckungsspieler, die den Sturmlauf unterbrechen wollen. Ich habe meinen Sohn Christopher, der erfolgreich Rugby fuer sein College spielt, gefragt, wie ein Angreifer in diesem Sport solche Momente erlebt, und war beeindruckt von der Konvergenz zwischen seiner und der Zuschauer-Perspektive. Auch Christopher geht es um den Kontrast zwischen geballter Gewalt und und Spielfluss; um die unverwechselbare Geometrie der Angriffsbewegung; und um die Wahl zwischen Schnelligkeit, Gewalt und geschickter Improvisation: “Every time the players come together in these mauling packs each movement and decision is made with a sophisticated strategy that is difficult to notice to the untrained eye. This part of the game is based on power and force and meant to exhaust the other team both mentally and physically. Whenever a team advances in this fashion, if even for only a meter or two, the defensive team slowly loses its will to fight. In contrast to such physical tension, there are moments where the game speeds up and is played in open space with dynamic runs, precise passes, and gutsy kicks. Typically after several minutes of the bruising style of play a team will change gears and take a chance and distribute the ball to the faster players on the edge of the play. Such a play could begin with a long pass to a man running laterally, he sprints across the field, one man runs past him to fake a passing strategy and thus draws attention from the defense; shortly thereafter another player crosses his path and will take a pass, quickly changing the direction of the flow and making the defenders miss. Now the player in possession of the ball is left in open space with only one defender to beat in order to score. As he approaches this defensive player he has several options to choose from: he can run around him to the left or right, or he can try to run right through him. Instead the player decides to take a risk and kick the ball around the defender, and as the ball rolls down the field and into the try zone both the defender and the offensive player are chasing it. The offensive player with more momentum and speed manages to get in front of the defender and dives onto the ball for a score.”

 

Aus unseren Gespraechen habe ich uebrigens den Eindruck, dass Christopher ueber die Jahre, in denen er American Football und Rugby gespielt hat, sensibler geworden ist fuer die besondere – und ganz andere – Schoenheit des Fussballs. Das genau waere sozusagen “revisionsbeduerftig” an der deutschen (und brasilianischen) Fussball-Monokultur: vieileicht koennte man ja sogar den eigenen Lieblingssport mit schaerferen und aesthetisch noch staerker beeindruckten Augen sehen, wenn man offener waere fuer andere Spiele und die ihnen essentielle (aber immer kontrollierte) Gewalt. Und noch ein anderes – weit verbreitetes und prinzipielles — Vorurteil koennte dank eines Interesses fuer Football und Rugby verschwinden. Ich meine die simplistische Unterstellung, dass Gewalt im Spiel auf die Beziehungen zwischen den Mannschaften nach dem Wettkampf und auf die Reaktionen der Zuschauer durchschlagen muss. Rugby-Spieler reden den Schiedsrichter mit “Sir” an, und obwohl sie auf dem hoechsten internationalen Niveau laengst auch zu Multimillionaeren geworden sind, halten sich unter ihnen Rituale, die wirken wie ferne Nachklaenge aus der Zeit des Barons von Coubertin: “what is truly unique is the mutual respect the world’s players hold for each other. After an eighty minute battle of fights and hard hits the two teams will come together and celebrate what they went through on the field. Particularly at the amateur level the two teams will regularly go to a bar after the game and tell rugby stories over beers. This sense of friendship has not been present in any sport I have played before, and is what sets rugby apart.”

 

Die zentrale Rolle kontrollierter Gewalt im Rugby macht nicht nur seine spezifische Aesthetik aus, sondern foerdert auch den Respekt und die Sympathie unter den Spielern – statt sie zu brutalisieren. Vielleicht gehoert ja die Gegenwart von Gewalt – zumindest als Potential — heute prinzipiell zu den Bedingungen aesthetischer Erfahrung. Doch das ist “ein weites Feld,” um zum Ende (nach Bertolt Brecht am Anfang) Theodor Fontane zu zitieren, der seine Romane schrieb, als Rugby schon ein etablierter College Sport war – und Fussball, in den Kinderschuhen sozusagen, die ersten Schritte zu seiner heute weltweiten und  historisch gewiss einmaligen Popularitaet machte. Ein gnaediges Schicksal moege uns allerdings davor bewahren, dass der FIFA-Imperialismus diese Beliebheit in aller Laendern der Welt auf die Spitze einer Dominanz treibt.