Digital/Pausen

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Hans Ulrich Gumbrecht lehrt Literatur in Stanford und bedauert es, zu alt für eine Karriere-Chance als Trainer im American Football zu sein.

Die Klassiker entspannen sich

  Die „Tour de France," daran wird man jeden Sommer erinnert, ist ein Klassiker und natuerlich auch der Volkswagen-Käfer, Ludwig van Beethoven gilt...

 

Die „Tour de France,” daran wird man jeden Sommer erinnert, ist ein Klassiker und natuerlich auch der Volkswagen-Käfer, Ludwig van Beethoven gilt ebenso selbstverständlich als Klassiker wie Johann Wolfgang von Goethe. Aber was verbindet die alljährlich wiederkehrende Sportveranstaltung, das Kraftfahrzeug-Design, den Komponisten und den Dichter so, dass wir uns ganz fraglos mit demselben Wort auf sie alle beziehen? Natürlich ist es nicht nötig, jedes Wort, das wir gebrauchen, durch eine Erklärung oder gar eine Definition zu rechtfertigen, doch in diesem besonderen Fall lohnt sich die Frage. Sie lohnt sich, das ist meine These, weil in den vergangenen zwei oder drei Jahrzehnten, unbemerkt fast, eine neue Bedeutung des Worts „Klassik” entstanden ist, in der offenbar ein neues Verhältnis zu den „Klassiker” genannten Institutionen, Gegenständen und Personen zum Ausdruck kommt. Unser Verhältnis zu den Klassikern ist, glaube ich, entspannter geworden, als es zum Beispiel vor gut vierzig Jahren war, zu meiner Studien-Zeit. Damals hörte ich einen prominenten Germanisten am Anfang einer Semester-Vorlesung voller Ernst sagen, daß „bei Goethe kein Wort unwichtig” sei – was natuerlich aller Lust auf Goethe sofort den Wind aus den Segeln nahm.

 

Aber fragen wir zuerst, was denn die Tour de France, der Volkswagen, Beethoven und Goethe gemeinsam haben. Die vier Namen verweisen auf Ereignisse und auf Werke, deren Formen in entfernten Vergangenheiten entstanden sind, ohne dass diese Distanz uns daran hindert, sie interessant und intensiv, bedeutungsvoll und schön zu finden. Wir müssen uns die zeitlichen Distanzen nicht unbedingt bewußt machen, um klassische Werke und Ereignisse eindrucksvoll zu finden. Aber wenn immer wir das Wort „Klassiker” für sie gebrauchen, zeigt es an, dass wir an ihren paradoxalen Status denken, der darin liegt, dass sie alle uns faszinieren, obwohl sie ursprünglich nicht an uns gewandt haben, noch überhaupt zu unserer Zeit gehören. In diesem Sinn hat der Philosoph Hans-Georg Gadamer einmal geschrieben, daß die klassischen Texte (er nannte sie die „eminenten” Texte) eine „unmittelbare Sagkraft” für jede ihnen nachfolgende Generation haben.

 

Aber so sehr wir auch an den Klassiker-Status von Goethes „Faust” und Beethovens Neunter Symphonie gewohnt sind, das Paradoxale des Begriffs und unseres Verhältnisses zu solchen Kunstwerken steht beim „Faust” und bei der „Neunten” (wie man als gebildeter Deutscher mindestens einmal sagen muß) deutlicher im Vordergrund – oder genauer: anders im Vordergrund — als bei der Tour de France und beim Volkswagen-Käfer. Wer die Tour de France als Klassiker sieht, dem ist bewußt, daß manche ihrer Elemente, das gelbe Trikot des Spitzenreiters etwa oder bestimmte Bergetappen, seit ihrem Anfang im frühen zwanzigsten Jahrhundert zum Repertoire dieser Radrundfahrt gehörten. So werden uns viele aufeinander folgende Schichten der Vergangenheit gegenwärtig, und andererseits schreiben wir uns dieser Vergangenheit ein, um am Ende ein Teil von ihr zu werden. Man kann Ereignisse, welche in solch flexibler Kontinuität existieren, „Rituale” nennen. Nur selten erinnern sich die Tour de France-Fans daran, wie ungewöhnlich – eben: wie paradoxal – es ist, daß sich so viele Versatzstücke ihres Lieblings-Rituals über so lange Zeit erhalten haben.

 

Umgekehrt, meine ich, dominiert gerade das immer erneute Erstaunen angesichts der paradoxalen Unmittelbarkeit, mit der uns manche Texte oder Kompositionen berühren, wenn wir klassische Literatur lesen oder klassische Musik hören. Es ist, als könnte ihre Anziehungskraft die historische Distanz überspringen oder gar leugnen, die uns von ihnen trennt, als erreichten sie uns als die Energie-Entladung einer primären und sich immer wieder aufladenden Spannung. Manchmal, das ist dann der gleichsam rituelle Aspekt klassischer Musik oder klassischer Literatur, stellt man sich auch vor, wie viele Generationen seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert Beethovens Symphonien gespielt und gehört oder Goethes Dramen auf die Bühne gebracht und gesehen haben. Über lange Zeit im zwanzigsten Jahrhundert hatte eine intensive Bemühung um Innovation in jeder neuen Aufführung (in jeder neuen „Produktion,” wie die Spezialisten sagen) die ritualistische Dimension der literarischen oder musikalischen Klassiker zu durchkreuzen versucht („Regie-Theater” nannte man das), nicht zuletzt mit der allzu gut gemeinten Absicht, das Publikum, zumal das „bürgerliche” Publikum, zu irritieren oder gar zu verstören. Die Klassiker schienen eine Energie-Zufuhr aus jeder neuen Gegenwart zu benötigen, um in dieser Gegenwart überleben und weiter wirksam sein zu können.

 

Dieser Druck zur Erneuerung hat, meine ich, in den vergangenen Jahrzehnten deutlich nachgelassen, und damit ist die rituelle Seite in unserem Verhältnis zu den Klassikern etwas mehr in den Vordergrund getreten. Es gibt ein romantisches Drama in Spanien (sein Titel ist „Don Juan Tenorio”), das eineinhalb Jahrhunderte lang, bis vor kurzem tatsächlich, zu Allerheiligen in jeder spanischen Stadt aufgeführt wurde – so wie zu bestimmten Sonntagen des katholischen Kirchenjahrs bestimmte Farben und bestimmte Texte gehören. Und wenn man auch kaum darauf hoffen wird, daß Goethes Faust in absehbarer Zukunft ein ähnliches Auffuehrungs-Schicksal widerfährt, gibt es doch heute, das jedenfalls ist mein nicht allein auf Deutschland bezogener Eindruck, eine Tendenz, die Aufführungen und Lektüren der Klassiker nicht allein als Momente individuellen Erlebens zu sehen, sondern sie wieder deutlicher als Anschluß an nationale und kontinentale Traditionen zu zelebrieren, als Rituale eben.

 

Die Entwicklung könnte mit einer grundlegenden Veränderung in den (sozial konstruierten) Zeitlichkeitsstrukturen zu tun haben, unter denen wir leben. Seit dem frühen neunzehnten Jahrhundert schien sich Zeit in beständig beschleunigten Bewegungen der Veränderung zu entfalten, in Bewegungen des Fortschritts oder der Dekadenz, die den jeweiligen Zeit-Genossen das Gefühl gaben, daß sie beständig und unvermeidlich Vergangenheiten hinter sich ließen, während sie sich hineinbewegten in Zukünfte, die sie als offene Horizonte von Möglichkeiten erlebten. Das war jene Zeitlichkeit, welche der Kapitalismus ebenso voraussetzte wie der Sozialismus, jene Zeitlichkeit auch, welche die „unmittelbare Sagkraft” der Klassiker wie ein Paradox aussehen ließ — und manchmal sogar als unmöglich in Abrede stellte. Heute geben uns eine gewandelte Konfiguration und ein neuer Rhythmus von Zeitlichkeit den Eindruck, daß wir Vergangenheiten nicht mehr hinter uns lassen können (und das trifft ja im wörtlichen Sinn auf die elektronischen Speichermedien zu, die selbst dann nichts vergessen könnten, wenn es ihnen gelänge, vergessen zu wollen); unsere Zukunft wirkt blockiert von Bedrohungen, die auf uns zukommen — und zwischen diesem Verhältnis zur Zukunft und jenem Verhältnis zur Vergangenheit sind wir in einer breiten Gegenwart angelangt, wo Platz ist für alle Vergangenheiten und wo alle Vergangenheiten zugänglich bleiben, so daß Klassiker keinesfalls mehr die paradoxale Ausnahme sind.

 

Aber wie immer man dies auch erklären mag, fest steht, daß sich unser Verhältnis zu Klassikern aller Art verändert hat – und eben entspannter geworden ist. Zu einer fernen Erinnerung, hoffe ich jedenfalls, sind nun jene Tage der späten sechziger und frühen siebziger Jahre geworden, als meine Generation hinter der Maske eines jugendbewegten Revolutionsanspruchs Klassiker pauschal unter Ideologie- und Manipulationsverdacht stellte, während der Deutschunterricht am Gymnasium von einer (ehemals vielleicht etwas allzu frömmelnden) Klassiker-Lektüre umgestellt wurde auf die kritische (alles mußte damals sehr „kritisch” sein!) Analyse von Werbetexten. Auf der Strecke blieb die Freude an den großen Texten, Symphonien oder Gemälden in jener „kritischen” Selbst-Feier einer politischen Korrektheit, die ihren Namen noch nicht gefunden hatte.

 

Im frühen einundzwanzigsten Jahrhundert wagen wir nun wieder, die von den Klassikern erfundenen Gestalten und Geschichten, ihre Harmonien und Disharmonien, ja sogar die Biographien von Literaten, Komponisten und Künstler auf unser eigenes Leben zu beziehen. Der Einwand, dass die dabei unterstellten Affinitäten, Ähnlichkeiten und Konvergenzen nie ganz zutreffen, wirkt mit einem Mal sehr kleinlich und wird kaum als Störung wahrgenommen, so wie ein Diskjockey wohl nicht mit dem Vorwurf zu beunruhigen wäre, daß er die Musik verschiedener Stillagen und Stilhöhen mixt und in Berührung bringt. Nun fällt mir allerdings auf, dass meine Beschreibung ja doch auf ein allzu bequemes, ein allzu Sofa-artiges Verhältnis zu den Klassikern hinauslaufen könnte. Muß man sie nicht doch „kritischer” lesen – sollte man nicht wenigstens ein „kritisches Potential” in ihnen entdecken? Vielleicht ist es so — aber ich bemerke, wie zögerlich mein „vielleicht” kommt. Was uns besser vor einer Entspanntheit schützt, die zu lauwarmer Bequemlichkeit werden könnte, ist die mögliche Intensität ästhetischer Erfahrung. Es sind jene Momente, wo ein Reim, ein Bild, ein Satz, ein komplexer Klang uns plötzlich (wie mein Freund Karl Heinz Bohrer nie zu müde wird zu betonen) erfassen, faszinieren und von der Welt um uns isolieren – bevor diese Momente uns loslassen, um nie mehr wieder zu kommen. Heute erwarten wir, dass uns die Klassiker Energie geben, statt unsere Energie zum Überleben zu brauchen, sagte neulich eine meiner Studentinnen. Und dieser Effekt stellt sich umso gewisser ein, wenn uns die Klassiker als ihre entspannten Beobachter treffen.