Digital/Pausen

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Hans Ulrich Gumbrecht lehrt Literatur in Stanford und bedauert es, zu alt für eine Karriere-Chance als Trainer im American Football zu sein.

Wettsucht, Hedge-Fonds und Rationalität

Wetten, darum soll es gehen, ist das zentrale Element aller Formen von „Spielen" (im Sinn des englischen Worts „gambling"), die zu Abhängigkeit,...

Wetten, darum soll es gehen, ist das zentrale Element aller Formen von „Spielen” (im Sinn des englischen Worts „gambling”), die zu Abhängigkeit, Sucht und Selbstzerstörung führen können, ob man nun an Sportwetten oder an „einarmige” Spielautomaten in Las Vegas, an „Wetten dass” oder an Hedge-Fonds denkt. Wetten heißt, sich im Rahmen einer begrenzten Reihe von Geschehensmöglichkeiten (aus dem Horizont der prinzipiell offenen Zukunft) auf eine Möglichkeit festzulegen und dann an das Nicht-Eintreffen dieser Möglichkeit eine (oft kostspielige) Selbstverpflichtung zu binden. Solange jemand gegen sich selbst wettet, was ein durchaus gängiger Fall ist, reicht diese Beschreibung aus, um das Wett-Phänomens zu erfassen. Meistens allerdings verbinden wir „Wetten” mit einer wechselseitigen Verpflichtung, aus der eine mehr oder wenige formale Vertrags-Situation entsteht. A legt sich für dieses Bundesliga-Wochenende auf eine Geschehensmöglichkeit fest („Bayern München gewinnt”), und im selben Rahmen entscheidet sich B für eine andere Geschehensmöglichkeit („Borussia Dortmund gewinnt”), wobei sich A und B wechselseitig versprechen, die oft kostspielige Selbstverpflichtung, an die sie sich beide für den Fall des Nicht-Eintretens ihrer eigenen Wahl gebunden haben, dem je anderen zugute kommen zu lassen. Ein solcher Wettvertrag gibt beiden Seiten die Hoffnung auf manchmal minimale und manchmal maximale Gewinne, für die man im positiven Fall, eben im Gewinn-Fall, nichts als ein Risiko investiert hat – keine Arbeit und auch keinen materiellen Wert. Aus den beträchtlichen und unter Umständen sogar potentiell lebensentscheidenden Gewinnchancen, wie sie in einer wechselseitigen Wettsituation liegen können, erwächst der eine Grund, der offensichtliche und deshalb banalere Grund, für die Krankheit der Wettsucht, an der unzählige Leben zerschellt sind und immer noch zerschellen. Man versucht es immer wieder und verschuldet sich immer weiter, weil nur ein Gewinn, ein einziger Gewinn, so unwahrscheinlich er sein mag, alles im eigenen Leben — vielleicht für immer — zum (finanziell wenigstens) Positiven wenden könnte. Und das ist nicht einmal eine Illusion.

Das Wetten und die Wettsucht gehören zum menschlichen Leben so grundsätzlich und unvermeidlich wie eine prinzipiell offene Zukunft, und deshalb ist es einerseits undenkbar, dass es je eine Gesellschaft ohne Wetten und Wettsucht gegeben haben könnte (oder jedenfalls eine Gesellschaft, in der Wetten nicht möglich gewesen wäre), während andererseits auch die schärfsten Gegenmaßnahmen das Wetten nie vollkommen unterdrücken oder gar ausrotten werden. Genauer und abstrakter gesagt: die Zukunft als Horizont der Kontingenz ist das Feld der Wette. Kontingent nennt man in der Vorstellung entworfene Situationen, die als zukünftige Situationen weder unmöglich sind, noch mit Notwendigkeit eintreten werden. Auf den ersten Blick jedenfalls ist die Zukunft für Menschen immer kontingent (man kann für das philosophische Wort „kontingent” auch das Alltagswort „zufällig” verwenden, weil kontingent all das ist, was einem zwischen dem Notwendingen und dem Unmöglichen zu-fällt). Warum die Zukunft das Feld der Kontingenz ist, läßt sich mit der (vor allem von deutschen Kulturanthropologen) entwickelten These erklären, dass Menschen – im Gegensatz zu Tieren — „Mängel-Wesen” sind, das heißt Wesen, die in ihrem Verhalten nicht automatisch und ohne Ausnahme auf je bestimmte Stimuli ihrer Umwelt in der immer gleichen Weise reagieren. Tiere, stellen wir uns vor, müssen sich nicht entscheiden und zögern deshalb auch nie, weil eben ihre Zukunft aufgrund der Instinktorientiertheit keine offene Zukunft ist. Tiere scheinen permanent in die Gegenwart (und nur in die Gegenwart) ihrer unmittelbaren Reaktionen auf Umweltstimuli eingebunden. Deshalb vermuten wir, dass zu ihrem Leben nicht eine Zukunft gehört, eine Zukunft, ohne die uns das eigene – menschliche — Leben unvorstellbar ist; deshalb auch fällt uns der Gedanke schwer, dass Tiere ein Bewußtsein haben. Die „Welt” der Menschen hingegen ist keine verhaltensauslösende Um-Welt, sondern eine offene Welt, eine offene Welt unter dem Kontingenzhorizont der Zukunft, die wir – zum Teil jedenfalls – wählen und gestalten zu können glauben.

Unter der Bedingung dieser Welt-Offenheit eben muß es das Wetten als Möglichkeit des Handelns – und als selbstzerstörerische Praxis — immer und in jeder menschlichen Kultur geben und gegeben haben. Das gilt auf drei Ebenen und aus mindestens drei verschiedenen Gründen. Erstens, weil durch das Sich-Festlegen auf jeweils eine unter den vielfältigen Möglichkeiten der Zukunft die sonst belastende Über-Komplexität der Zukunft auf ein erträgliches Maß reduziert wird. Dieses Bedürfnis manifestiert sich nicht allein im primären Impuls, der zum Wetten führt, sondern auch in jeder Vorhersage, in allem, was wir „Prognose” nennen, und letztlich in jeder menschlichen Handlung (weil jedes Handeln zur Gestaltung der Zukunft beitragen will). Zweitens kann es in jeder menschlichen Gesellschaft zum Wetten kommen, weil die von der Wette bewirkte Konzentration auf eine Zukunft (mit scharfem Kontrast zwischen potentiell befreiendem Gewinn und potentiell selbst-zerstörendem Verlust) das Leben in der Gegenwart – durch beständige Vorwegname einer dramatischen Alternative — intensiver macht. Zum dritten ist das Wetten eine nie auszuschließende Möglichkeit menschlicher Existenz, weil es als Vertragssituation, wie schon gesagt, extreme Gewinne bei minimalen Investitionen in Aussicht stellt. All diese Motivationen können zu Sucht- und Abhängigkeits-Szenarien führen, wo dann kein Argument und kein heraufbeschworenes Horror-Szenario mehr die Spieler von Wetten mit selbstzerstörender Wirkung abbringen kann.

Daneben aber hat das dem Wetten zugrunde liegende Verhältnis zur offenen Zukunft auch hoch-rationale Formen des wirtschaftlichen Handels geprägt, die strukturell dem Wetten ähneln und manchmal sogar mit ihm funktionsäquivalent sind. Hedge-Fonds – wie jede Investition mit großen Gewinnchancen und realen, aber so weit als möglich kontrollierten Risiken des Verlusts – haben die Form und die Funktion von Wetten, ohne in der Gesellschaft als zwielichtig zu gelten. Versicherungen hingegen lassen sich als Umkehrung des Wettens beschreiben, weil bei ihnen an den Nicht-Eintretensfall der Geschehensmöglichkeit, auf die man sich festgelegt hat, nicht eine kostspielige Selbstverpflichtung gebunden ist, sondern im Gegenteil eine – ausgleichende, tröstende, eben Sicherheit gebende — Gewinn-Ausschüttung, die allerdings von einer vorausgehenden Investition abhängt. Dieser Ausgleichs-Wunsch ist der Grund, warum wir uns gegen alles Mögliche versichern wollen und (bei entsprechend differenziertem Markt) auch versichern lassen können, ob es nun Regen in den Sommerferien ist oder unglückliche Liebe.

In der Konvergenz mit Formen wirtschaftlichen Handels wird eine nicht immer deutliche Affinität zwischen Wetten und Rationalität sichtbar, für die es ein komplexes Panorama historischer Bestätigung und Illustration gibt. Tatsächlich war das achtzehnte Jahrhundert, das Zeitalter der Rationalität, der Aufklärung (und auch der Institutionalisierung der Börse), zugleich der Ursprung der Wett- und Lotterie-Industrie in ihren uns bis heute vertrauten Gestalten. Zu den großen Figuren jener Zeit, die dem Wetten – als Süchtige oder als Profiteure – verfallen waren, gehörten Voltaire, Lessing, Mozart und General Washington. Und bei dieser Affinität handelt es sich keinesfalls um ein Mißverstaendnis oder gar einen Mißbrauch der für jene Epoche so zentralen Rationalität, wie man zunächst vermuten könnte. Vielmehr ist auch die Konvergenz von Rationalität und Wetten in Grundstrukturen der menschlichen Existenz angelegt. Ihre Voraussetzung liegt in dem Sachverhalt, dass keine Bedingung menschlicher Existenz die Rationalität als eine ihrer Möglichkeiten mehr herausfordert und immer weiter ausgebildet hat als eben der Kontingenz-Horizont der Zukunft. Historisch unendlich ist die Reihe der Versuche, dem Zufall mathematische Gesetzmäßigkeiten abzugewinnen, ihn so zu kontrollieren und, wo möglich, in Profit umzusetzen. Die Affinität von Zufall und Rationalität zeigt sich aber auch im engeren Rahmen des Wettens (und umso deutlicher, je mehr es sich der Suchtbedrohung nähert), zum Beispiel in der eminent rationalen (und nie endenden) Denksportaufgabe, „Wettschemata” mit einem besonders günstigen Verhältnis von Investitionsrisiko und Gewinnchance zu erfinden und zu optimieren. Nicht einmal dem verzweifelten „letzten Versuch” eines Wettsüchtigen, sein Glück zu erzwingen, geht Rationalität ab. Denn er hat ja wirklich nur alles zu gewinnen und kaum mehr etwas zu verlieren – so dass man durchaus von einer Situation minimierten Risikos reden kann.

Seit langem schon wundert es mich, das ich das Wetten ain der Heiterkeit – und meistens auch aus der Sympathie – einer geradezu platonischen Distanz sehen kann. Sonst liegt mir nämlich fast an allen Methoden und Techniken, mit denen man seinen eigenen Welt-Verhältnissen mehr Intensität abgewinnen kann, und für maximale Gewinnchancen bei minimalem Verlustrisiko habe ich eigentlich immer (manchmal sogar dringenden) Bedarf. Nur das Wetten und die Glücksspiele haben mich nie gereizt, was vielleicht meine distanzierte Sympathie erklärt. Aus dieser Perspektive wirken die nie aussetzenden Bemühungen so vieler politischer Positionen, alle Formen von Wettleidenschaft zu minimieren, zu kontrollieren oder sogar zu unterbinden, auf mich noch erstaunlicher als die Formen und Institutionen des Wettens und der Wettsucht selbst. Sie kommen mir ebenso verwunderlich – und eigentlich inakzeptabel – vor wie die wohlfahrtsstaatliche Tendenz, den Akt des Freitods zum „Selbstmord” herabzustufen und zu kriminalisieren. Hat der Staat ein Recht der Verfügung über das individuelle Leben? Hat er das Recht – oder gar die Verpflichtung – Menschen gegen potentiell selbstzerstörerische Impulse zu schützen, auch dann, wenn diese Impulse nicht zu Nachteilen für Mit-Menschen und Mit-Bürger führen? Bemerkenswert ist allemal, dass der Staat – wenn er in dieser Weise gegen das Wetten als selbststörerischen Impuls einschreitet – sich eigentlich auch gegen einen Rationalitätsimpuls wendet.