Abgesehen einmal von solchen Zeitgenossen, die auf abstrakte oder gegenstandslose Kunst mit der (rührenderweise sarkastisch gemeinten) Frage reagieren, “was das denn darstellen soll” (aber sie scheinen langsam auszusterben), kenne ich eigentlich niemanden – ob es nun diplomierte Experten sind oder offizielle Laien (wie ich selbst), der nicht von Jacksons Pollocks Gemälden fasziniert wäre. Fasziniert in dem ganz primären und enthusiastisch naiven Sinn, dass diese Bilder unsere Blicke auf sich ziehen und bannen, dass sie uns beschäftigen und uns sogar “nahegehen” (oder “nachgehen”), ganz ohne weit hergeholte Fragen oder gebildete Gebrauchsanweisungen, wie sie uns sonst oft zu intensiver Aufmerksamkeit überreden wollen. Niemand findet die Gemälde von Jackson Pollock alt oder nicht-mehr-gegenwartsgemäß. Eher ist es umgekehrt, sie wirken mit einer aggressiven Gegenwärtigkeit – was gut zu dem Faktum paßt, dass der 2006 für Pollocks Gemälde “Number 5” (übrigens wahrscheinlich von einem deutschen Sammler) gebotene und gezahlte Preis von $ 140,000,000 laut Wikipedia den damals absoluten Kunstmarkt-Rekord brach.
Aus historischer Perspektive ist der Eindruck von Pollocks aggressiver Gegenwärtigkeit ein (aus mehreren Gründen) erstaunlicher Befund. Denn seit seinem Tod sind immerhin fünfundfünfzig Jahre vergangenen (er starb bei einem selbstverschuldeten Autounfall auf Long Island, wenige Minuten von seinem Studio entfernt) – und doch fühlt sich kein Kunsthistoriker beflissen, ihn einer “historischen Avantgarde” zuzurechnen oder durch Kontextbeschreibungen zu “aktualisieren” (wie es längst für die Surrealisten gängig ist und für das chronologisch viel spätere Werk von Andy Warhol allmählich zum Standard wird). Der größte Teil von Pollocks heute als “klassisch” geltendem Werk ist während nur zwei seiner vierundvierzig Jahre entstanden, zwischen dem Sommer 1948 und dem Sommer 1950, während der einzigen Spanne seines erwachsenen Lebens, in der er – durch den verständnisvollen Einfluß seiner Frau Lee Krasner – eine ihn zerstörende Alkoholsucht einigermaßen unter Kontrolle hatte. Erstaunlich ist die aggressive Gegenwärtigkeit von Pollocks Gemälden aber vor allem deshalb, weil wir den kurzen historischen Moment ihrer Entstehung aus der heutigen Retrospektive mit jener eigenartig ruhigen, bürgerlichen, restaurativen, wohlerzogenen Zeit des Nachkriegs “in Narkosestimmung” (schrieb Gottfried Benn) assoziieren, mit den VW-Käfern und dem Wir-sind-wieder-wer des frühen deutschen Wirtschaftswunders, mit Doris Day und den ersten Fernseh-Famlienserien (wie “Vater ist der Beste”) aus der Eisenhower-Ära der Vereinigten Staaten. Nichts scheint uns heute weniger “aggressiv gegenwärtig” als Ferien-Familienalben oder Postkarten aus den Jahren, in denen Pollocks berühmte Gemälde entstanden sind.
Schauen Sie sich ein Bild an wie “Number 28” (eine Reproduktion in Originalgröße hängt über dem Schreibtisch, wo ich gerade ins Keyboard tippe). Ein ziemlich langgezogenes Rechteck mit grauem Hintergrund. Auf dem grauen Hintergund gibt es einige grüne Zonen, die sich farblich kaum abheben, und über sie sind Spuren von weiß gezogen, wie verschwindende Ströme, Spuren, die sich verflechten und bedeckt sind von dünneren, aber auch lebhafteren Geflechten aus der schwarzen Farbe, mit der Pollock über seine Bilder ging. Manchmal verdicken sich die schwarzen Geflechte zu schwachen Flecken, von denen einige langgezogenen Inselformen auf einer Landkarte ähneln. Vor allem wirkt alles wie in Bewegung, in einer Bewegung, die ich nie anhalten könnte – oder anhalten möchte. Wenn immer das Gemälde mich in seine Fläche hineinzieht, die ich durch seine Bewegung wie einen Raum erlebe, fühle ich mich überwältigt, hineingerissen in etwas, das unendlich stärker ist als ich – und zugleich läßt mich die Bewegung das Versprechen einer Form ahnen, eines Rhythmus, einer Regelmäßigkeit, die ich nie fassen kann. Manchmal sieht das Bild wie Gestein aus, und manchmal denke ich, es sei der Ausdruck eines inneren Lebens, dessen Sprache ich nicht zu entziffern vermag.
Die Farben, Strukturen und Rhythmen von Pollocks großen Gemälden sind das Zeugnis einer Maltechnik, die man “action painting” nennt — und in die er sich erst sich kurz vor den Jahren seiner produktiven Nüchternheit eingearbeitet hatte. Doch die Bilder sind nicht nur ein archäologisch zu erschließenden Zeugnis, sondern lassen die Intensität ihrer Entstehungs-Gegenwart für den Betrachter wieder lebendig werden. Pollock hat diesen Moment der Intensität in einem seiner wenigen überlieferten Texte so beschrieben:
Mein Malen entsteht nicht an der Staffelei. Kaum je spanne ich meine Leinwand vor dem Malen auf. Ich hefte sie an die Wand oder lege sie auf den Boden. Ich brauche den Widerstand einer harten Oberfläche. Am wohlsten ist mir, wenn die Leinwand auf dem Boden liegt. Ich fühle mich dann näher, ich bin mehr ein Teil des Gemäldes, weil ich um es herumlaufen, von allen vier Seiten arbeiten, ganz wörtlich in dem Bild sein kann […]
Wenn ich in dem Bild bin, dann habe ich kein Bewußtsein von dem, was ich tue. Erst nach einer gewissen “Eingewöhnungszeit” weiß ich, worum es mir ging. Ich scheue nicht davor zurück, Dinge zu verändern, das Bild zu zerstören usw., weil das Gemälde sein eigenes Leben hat. Das genau will ich herauskommen lassen. Nur wenn ich diesen Kontakt zum Gemälde verliere, ist das, was herauskommt, chaotisch. Wenn alles gut geht, dann läuft das Malen in voller Harmonie ab, in einem entspannten Austausch, und das Gemälde wird gut.
Das entscheidene Wort ist das einzige unterstrichene Wort, das Wort vom “in dem Bild sein” während des Malens. Sobald der Moment seiner Entstehung gegenwärtig wird, glaube ich, ist auch der Betrachter “in Pollocks Bildern.” Er hat das “action painting” nicht erfunden, aber kein anderer Maler hat dieser Technik soviel Energie abgewonnen wie Pollock. Denn “in dem Bild sein,” bezieht sich nicht nur auf ein räumliches Verhältnis. seine Bilder verwandeln auch unser Verhältnis zur Zeit. Wenn man “in seinen Bildern ist,” dann wird aus der Sequenz der je kurzen Momente unserer Alltags-Zeit die eine ausgedehnte, geschlossene Gegenwart der Bild-Betrachtung und der Bild-Entstehung, wo “das Leben des Gemäldes” den Akt des Malens bestimmte — und dann auch den Akt der Betrachtung bestimmt. Das ist die ausgedehnte Gegenwart, in der mich das Bild überwältigt, und während der ich mich agitiert fühle – und wohl fühle in solchem Überwältigt-Sein.
Sich auf diese Gegenwärtigkeit von Pollocks Gemälden einfach einzulassen, ist genug, um von ihrer Energie und Intensität belebt zu werden. Wer nicht am Vorurteil des “was soll das darstellen?” leidet, der braucht dazu keine Theorie — und schon gar keine historische Erklärung. Aber neben der eigentlichen Bild-Erfahrung bleibt doch die Frage faszinierend, was aus der auf uns so verschlafen wirkenden historischen Gegenwart von Jackson Pollock um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in seine Gemälde eingegangen sein mag, um für uns mehr als sechzig Jahre später so auf-regend zu sein. In der amerikanischen Kultur seiner Zeit war die Metapher vom “wrinkle of time” sehr beliebt (1962 erschien ein Kinderroman von Madeleine L’Engle unter diesem Titel, der zur literarischen Lieblingserinnerung einer ganzen Generation von Amerikanern geworden ist). Ein Fältchen, eine Runzel, eine Ent-Schleunigung, ein Anhalten der Zeit, die damals offiziell und öffentlich – im Kapitalismus so sehr wie im Sozialismus – ganz gnadenlos auf linear beschleunigenden Fortschritt gestellt war. Darum ging es, das war ein unterdrücktes Haupt-Gefühl der fünfziger Jahre. Ein “wrinkle of time” mögen für Pollock die der Alkoholsucht abgetrotzten Jahre gewesen sein und die Gegenwart der Entstehung jedes einzelnen Gemäldes aus dieser Spanne. Vielleicht war es auch, neben der Sehnsucht nach dem Anhalten der gnadenlos beschleunigenden Zeit, die damals aufkommende Ahnung, dass die Vergangenheit der Katastrophen des Weltkriegs nicht ohne weiteres verschwinden würde — und dass sich zugleich im Kalten Krieg die Zukunftsvision eines nuklearen Kriegs nicht mehr verdrängen ließ.
In einer solchen Zeit, deren Zukunft blockiert ist von drohenden Szenarios des Untergangs und deren Vergangenheiten (vom elften September 2001 bis tief ins zwanzigste Jahrhundert, über Hiroschima nach Auschwitz und Verdun) sich nicht auflösen wollen, leben wir auch jetzt. Es ist eine Gegenwart, in der Jackson Pollocks Gegenwart aggressiv gegenwärtig werden kann. Eine Gegenwart auch, die uns neue Aufmerksamkeit abverlangt, eine Aufmerksamkeit, die nicht mehr in Geschichtsphilosophien oder Nostaliewellen, in Utopien oder Prognosen entkommen kann, sondern als undurchsichtiges Gewebe von Dingen und Ereignissen, als Rhythmus von Möglichkeiten und Unmöglichkeiten (sagt mein Freund Mrtin Seel) erschlossen werden muß und sich vielleicht gar nicht erschließen läßt – wie die Gemälde von Jackson Pollock.