Sehen kann man Silicon Valley eigentlich nicht. Nicht als Landschaft, denn das Wort “Valley” hat in diesem Namen die weniger spezifische Bedeutung von “Gebiet” (wie in “Ruhr-Gebiet”), es gibt da kein Tal und keine Senke. Im Raum ist Silicon Valley nichts als eine Reihe von kleinen oder mittelgroßen Gemeinden, die über etwa zwanzig Kilometer nördlich von der Millionenstadt San José gereiht sind. Sie liegen auf der südwestlichen Seite einer Halbinsel zwischen dem Pazifik und der Bay of San Francisco, die in San José beginnt und in San Francisco endet. Es gibt in Silicon Valley auch kein Äquivalent zur Architektur früherer industrieller Revolutionen. Wer die Postanschrift von “Google,” “Apple” oder “Excel” kennt, der wird am Ende irgendwo entlang Silicon Valley ein Gebäude mit dem entsprechenden Logo entdecken, unscheinbar in jedem Fall und enttäuschend meistens, wenistens für jemanden, der ein “Elektronik-Fan” sein will.
Fünf Minuten von dem Haus, wo ich wohne, ist zum Beispiel die Zentrale von “Facebook,” und ich bin jahrelang vorbeigegangen, ohne zu ahnen, dass dort die Stränge des social network zusammenlaufen. Manchmal habe ich gedacht, es sei wirklich höchste Zeit für eine Renovierung der ziemlich heruntergekommenen Immobilie und die ansässige Firma scheue potentielle Kosten. Keinerlei Phantasien von Mark Zuckerberg und seiner chinesischen Freundin kamen auf. Und solche Phantasien hätten ja auch kaum Anhaltspunkte gehabt. Gesichter wie das von Steve Jobs (vor allem) und Bill Gates haben sich zwar mittlerweile eingeprägt, aber es sind eher Allerweltsgesichter, so wie die vielen indischen und ostasiatischen Gesichter von Silicon Valley, amerikanische Gesichter eben, die typischerweise für nichts typisch sind. Mark Zuckerman sieht aus wie der sprichwörtliche nerd, zum Treffen des wirtschaftlichen Weltforums hatte er eine aufgetragene Northface-Jacke an, und zu kommentieren, understatement sei der Trend hier, das klänge schon wie eine heftige Über-Interpretation. Entsprechend schwer fiel es dem interpretationsfreudigen Jobs-Biographen, irgendwelche weiterführende Schlüsse aus der Tatsache zu ziehen, dass sein Held mit Familie in einem (nicht mal rundum renovierten) Haus wohnte, dessen Kaufpreis Lichtjahre hinter den Möglichkeiten eines Multimillardärs zurückgeblieben war.
Der Punkt ist, daß sich die industrielle und kulturelle Revolution von Silicon Valley als eine Revolution der Immaterialität ereignet hat – “Les Immatériaux” war der (wie wir heute verstehen) visionäre Titel einer Ausstellung, mit der Jean-François Lyotard vor drei Jahrzehnten im Centre Pompidou von Paris auf die ersten Symptome des elektronischen Zeitalters reagierte. Dieses Zeitalter hat sich die Aufmerksamkeit-Strukturen, die Zeit-Budgets, vielleicht sogar die Begierden der Zeitgenossen unterworfen – und jedenfalls auch ihre Körpersprache, wie man jedesmal auf dem Weg vom Flugzeug zur Gepäckausgabe sehen kann, wenn zwei Drittel der Passagiere mit dem I-Phone am Ohr und halblaut sprechend durch Hallen und Gänge sprinten. Nichts hat die Welt so sehr und gewiß so nachhaltig geprägt wie Silicon Valley, aber was nun anders geworden ist, das drückt sich allein in Symptomen aus. Der Grund, der Auslöser und die Erfinder-Genies für die letzte Menschheits-Revolution bleiben so unsichtbar wie ihr “Tal.”
Ich kannte einen Kollegen, der die verbindliche Geschichte von Silicon Valley schreiben wollte. Mittlerweile hat er die Universität in der Mitte des unsichtbaren Tals verlassen und lebt und lehrt im Südwesten des Landes, ohne dass – meines Wissens wenigstens – das Buch fertiggeworden oder gar erschienen ist. Sonst hätte ich dort nach Antworten auf jene Fragen gesucht, die das Geheimnis von Silicon Valley ins Visier nehmen. Warum hat sich gerade dort, um (damals noch unförmige) elektronische Rechenmaschinen herum, jene Energie entfaltet, welche die erste Intuition zu einer Industrie und über die Industrie zu einer wahren kulturellen Revolution machte, im Vergleich zu der Maos kommunistische “Kulturrevolution” wie ein Kindergeburtstag mit schmerzhaften Folgen wirkt? Diese erste Frage ist so unbeantwortbar (weil überkomplex — und deshalb banal) wie die Frage, warum Gutenberg ausgerechnet in Mainz die beweglichen Lettern erfand. “Zufall,” sagt man da achselzuckend, oder “Kontingenz,” als Intellektueller mit leicht gerunzelten Augenbrauen – und schickt die nächsten, interessanteren Fragen nach. Wie kommt es, wenn Silicon Valley ein Nicht-Ort ist, dass auch die zweite Phase der Revolution “dort” stattfand, die Steve Jobs-Phase sozusagen, mit der die Erfindungen erst zur Lebensform wurden? Ich meine den Apple screen und die mouse, I-Pod, i-Phone, I-Pad – und was noch kommen mag. Denn man muß ja überhaupt nicht in Silicon Valley wohnen, um “dort” zu arbeiten und “von dort” zu lernen. Warum kam Mark Zuckerberg von Harvard an die Pazifikküste? Oder die Umkehrung derselben Frage: warum entstehen im schwerindustrialisierten Deutschland (im “Land der Zahnradindustrie,” wie ich neulich einen einflußreichen deutschen Magnaten sagen hörte), warum entstehen elektronische Erfindungen nie in Deutschland? Warum schießen andererseits in Silicon Valley jeden Tag Agenturen in die Welt, die den Strömen der lern- und verkaufswütigen Besucher “Kontakte” versprechen? Schließlich in abstrakter Frage-Form: warum bleibt ausgerechnet die Revolution der Immaterialität so obsessiv an Silicon Valley als ihren (Nicht-)Ort gebunden?
Ich kenne keine gute Antwort auf diese Frage, obwohl ich die Standard-Antwort noch schnell durchspielen möchte. Vor allem um die Frage geht es mir — und weil die Frage keine Antwort hat, schreibe ich über das “Geheimnis” von Silicon Valley. Was macht Silicon Valley so unüberbietbar produktiv und (deshalb) so rätselhaft anziehend? Man hat oft von den “lateralen” (gemeint ist: nicht-hierarchischen) Organisationsformen der Arbeit in Silicon Valley gesprochen – und diese Bedingungen haben vielleicht mit jener Unsichtbarkeit und jenem unprätentiösen Stil zu tun, der eher die Absenz von Stil ist als das stilistisch immer ehrgeizige understatement. Die Verschiedenheit der Gesichter, Körper und Akzente verliert an der amerikanischen Westküste etwas von ihrer distinktiven Schärfe (natürlich verschwindet sie nie ganz). Und weil sich solcher Glanz (oder Mehltau, ganz wie man es sehen will) von Neutralisierung über die lokale Kultur gelegt hat, kehren die Unternehmer nicht ihre Überlegenheit hervor, während es andererseits die typischen “kleinen Angestellten” nicht zu Ressentiments verführt, wenn sie wissen, wieviel tausend mal mehr pro Tag der Firmengründer verdient. Der “soziale Spannungen” fast aufhebende Neutralisierungseffekt setzt sich damit fort, dass die allergrößten Firmen und die allerreichsten Unternehmer start-ups und also potentielle Konkurrenten der Zukunft wie kleine Pflanzen in die Welt setzen. Eine gute Idee muß unter solchen Bedingungen nie auf die Chance ihrer Realisierung verzichten – und trotzdem: könnten sich die strukturellen Bedingungen von Silicon Valley und ihre Konsequenzen nicht auch in der Immaterialität der elektronischen Kommunikation herausbilden, ganz ohne Anbindung an einen Ort?
An manchen Tagen stelle ich mir vor, die Energie des (Nicht-)Ortes ließe sich spüren wie ein kleines, aber permanents Erdbeben. Aber könnte ich so ein Gefühl je haben, wenn ich nicht wüßte, wie Silicon Valley die Welt verändert hat? Gibt es etwas Objektives “hier,” etwas, das in der Luft liegt oder unterirdisch rumort? Es ist schwer, sich so einen Grund (im doppelten Sinn) ernsthaft vorzustellen. An der strahlenden Luminosität der allermeisten Tage kann es wohl nicht liegen. Obwohl die nordamerikanische Westküste die Welt nun schon zum dritten Mal fasziniert – nach dem Gold rush und nach Hollywood.