Zum erstenmal bin ich Klaus Birnstiel vor genau drei Jahren begegnet. Und es war eine Be-Gegnung im konkretesten Sinn. Ich stand am Pult vor dem Publikum eines gut gefüllten Hörsaals, hatte gerade meine Notizen geordnet und war in den Sekunden der Konzentration, auf dem Sprung sozusagen, für den ersten Satz, als sich ein Rollstuhl von der Eingangstür am anderen Ende des Raums auf mich zubewegte, dessen Größe einem City-Car vergleichbar schien. In dem Rollstuhl sah ich einen glattgeschorenen Kopf mit hellen, sofort provokant durchdringenden Augen, knochige Hände, die einen Kontrolknüppel steuerten, und einen prallen Plastikschlauch, der den Fahrer des Rollstuhls durch seinen Hals beatmete. Der Rollstuhl hielt fast unmittelbar vor dem Pult, eben mir gegenüber, und nachdem ich einen Moment abgewartet hatte, gab es unter Bedingungen moderner akademischer Zivilität keine mögliche Ausrede, nicht tatsächlich mit dem Vortrag über ein vergleichsweise kompliziertes Thema der frühneuzeitlichen spanischen Literatur anzufangen. Natürlich fiel mir der Vortrag schwer, über die ganzen gut fünfzig Minuten. Dieser extrem reduzierte Körper faszinierte mich, und manchmal war die Faszination nahe daran, Erinnerung und Imagination für den Vortrag zu blockieren. Außerdem konkurrierte meine Stimme beständig mit dem rhythmischen Rauschen der Atemschläuche. Aber es gab keine Alternative: die Konvention des zivilen Verhaltens schrieb vor, so zu tun, als könne ich die schockierende körperliche Differenz ignorieren, als existiere sie nicht.
Die erste Frage der Diskussion kam von dem Kopf mit den hellen Augen im Rollstuhl, was mich gar nicht überraschte. Sie war artikuliert in einer Stimme, die brüchig, halb künstlich, aber sehr deutlich klang, und es war eine scharfe, provokante und wirklich schwierige Frage. Darin lag eine Erleichterung, denn der reduzierte Körper des Rollstuhlfahrers und seine Differenz wurden so zum Medium einer intellektuellen Präsenz, mit der ich “normal,” fast wie mit der von einem “normalen” Körper gestellten Frage umgehen konnte. Ich denke, ich antwortete auf diese erste Frage (und zwei Nachfragen) eher schlecht als recht, wurde dann vielleicht etwas besser in der weiteren Diskussion und sagte später dem Doktorvater des Rollstuhlfahrers, dass ich in der intellektuellen Konfrontation mit ihm die körperliche Differenz sehr schnell vergessen habe. Den Satz sollte ich dann noch oft wiederholen, aber mittlerweile weiß ich, dass er nichts war als die Ausrede eines hilflosen und deshalb weichspülenden guten Willens.
Heute verbindet Klaus Birnstiel und mich eine enge Freundschaft – über die Distanz des Atlantiks und der Kontinente. Wir haben ein kurzes Jahr lang in der Sonne von Kalifornien zusammengearbeitet, die in seinen Augen unterging und bald wieder aufgehen wird. Dabei hat er ein wunderbares Buch über die deutsche Kulturgeschichte im späten zwanzigsten Jahrhundert geschrieben. Ich lernte, daß die Medizin das, was den Körper von Klaus geformt hat, “unspezifische muskuläre Dystrophie” nennt und als eine nicht erbliche genetische Anomalie beschreibt, welche die Entwicklung von Muskelgewebe (mit den entsprechenden Konsequenzen für das Skelett) auf ein Minimum dämpft. Vor allem weiß ich, dass der andere – und warum sage ich nicht: der “behinderte” — Körper von Klaus in vielen, gar nicht konvergierenden Facetten Teil unserer Freundschaft ist. Natürlich ist mir dieser Körper eine Sorge, weil ich Klaus liebe (das Wort ist überhaupt nicht zu stark). Ich weiß, dass ein banaler technischer Effekt das Ende dieses von aussen belebten Körper sein kann, der Tod meines geliebten Freundes. Ich habe ein zärtliches Verhältnis zu diesem Körper. Von allen verabschiede ich mich gerne mit einer Umarmung, was bei Klaus nicht ganz einfach, aber möglich und manchmal komisch ist, wir nennen das unseren “special hug.” In dieser Zärtlichkeit liegt auch ein Ton von erotischer Anziehung, wie sie vielleicht jeder reduzierter Körper hat, und mit der manche Epochen in der Vergangenheit viel besser umzugehen wußten als unsere aufgeklärt ignorierende Gegenwart. Philipp II. von Spanien verlangte, dass seine Geliebte eine Augenklappe trug, so als hätte sie einen Augapfel verloren und müsse die dadurch entstandene Leere bedecken. Das steigerte ihre sexuelle Anziehung für ihn. Und von Klaus weiß ich längst, dass nicht nur er von vielen Frauen erotisch fasziniert ist (ich könnte ziemlich genau “seinen Typ” beschreiben) und dass sich, was gar nicht zu übersehen ist, Frauen oft und gerne um seinen Rollstuhl (den er das “Kettenfahrzeug” nennt) versammeln; ich weiß auch, dass er den existentiellen Anspruch auf die Erfüllung seiner sexuellen Begierde nie aufgeben wird – selbst wenn das tägliches Leiden bedeutet.
Lange haben wir beide über das alles nur in Andeutungen geredet, und ich hätte wohl nie gewagt, diesen Status zu verändern, obwohl mich die Sympathie und vielleicht ja auch die schiere Neugierde nie mehr verließ, zu wissen, wie sich wohl diese Sexualität “von innen,” das heißt: im Körper meines Freundes, anfühlen würde. Bis Klaus begann, davon zu schreiben. Mit Leidenschaft, philosophischer Genauigkeit und einer Ehrlichkeit die manchmal in Aggression umschlägt – so ist er. Ich habe ihn dann gefragt, ob er über Sex und seinen behinderten Körper für diesen Blog schreiben wolle – und darauf ist er (mit nicht weniger als Begeisterung) eingegangen. So ist er auch. Aber lesen Sie selbst, was Klaus Birnstiel schreibt:
“Behinderte Sexualitäten haben seit jeher fasziniert. Mittlerweile beschäftigt sich ein eigener akademischer Diskurs, disability studies genannt, mit Fragen von Behinderung und Gesellschaft, und dabei auch mit Fragen von Behinderung und Sexualität. Dabei werden behinderte Sexualitäten gerne zur Bestätigung der zunehmend ausgeleierten These herangezogen, daß geschlechtliche Identitäten – wie alle anderen Identitäten auch – eben gesellschaftlich ‘konstruiert’ seien. Wenn alle Männlichkeit nur Darstellung von Männlichkeit sein soll, dann gibt es auch keinen Grund, einen Männerdarsteller im Rollstuhl weniger überzeugend (das heißt: attraktiv) zu finden als einen ganzen Kerl, der mit beiden Beinen auf dem Boden steht, und ebensowenig kann dann davon die Rede sein, daß behinderte Menschen systematisch am Gebrauch ihrer sexuellen Freiheitsrechte gehindert werden: im offenen Raum gesellschaftlicher Übereinkünfte soll auch behinderten Menschen der Weg zu dem offen stehen, was als sexuelle Selbstbestimmung strafrechtlich gegen Eingriffe geschützt ist. Das Verlangen nach Präsenz, nach sexueller Präsenz, es wird ‘akzeptiert’ und ‘verstanden’ und seine Suche nach Verwirklichung unbedingt von den wohlmeinenden Umstehenden unterstützt.
Auch behinderte Menschen finden sexuelle Erfüllung, doch so manches Mal zahlen sie einen hohen Preis dafür – und finden kurzes, momenthaftes Glück in bezahlten Armen, Augenblicke sexueller Präsenz, körperlichen Seins ‘trotz’ körperlicher Behinderung. Die Debatte um gesellschaftlich sanktionierte (und das heißt: subventionierte) sexuelle Dienstleistungen für behinderte Menschen wird verschiedentlich geführt. Was in Deutschland legal, aber tabuisiert ist, wird zum Beispiel in der biederen Schweiz wesentlich offener gehandhabt. Die Leere aber, die käuflicher Sex hinterläßt, ist mit nichts zu beschreiben – nicht zu beschreiben in den Gesichtern derjenigen, die verkaufen (immer noch, und selbstverständlich: Frauen, überwiegend), und nicht zu beschreiben in den Gesichtern derjenigen, die kaufen (ebenso immer noch, und ebenso selbstverständlich: Männer, überwiegend). Wer einmal in die merkwürdig umflorten Augen tatsächlich recht ordentlich bezahlter Callgirls geschaut, sich mit den eigenen Komplexen, den Schuldgefühlen, dem kaum zu unterdrückenden Impuls, sich irgendwie jetzt sofort zu entschuldigen, konfrontiert gesehen hat, weiß, wovon hier die Rede ist. Dennoch geht es hier nicht um haltloses Moralisieren. Denn solange bestimmte Standards (safe, sane, consensual, wie in anderen sexuellen Parallelwelten auch) eingehalten werden, ist schwer einzusehen, warum Prostitution eigentlich so verdammenswert sein soll. Daß Sex als Ware das überbordende Verlangen nach körperlicher Präsenz kaum zu stillen vermag, das wiederum ist ein ganz anderer Punkt.
Die heile Welt sexueller Sozial-Pädagogik, die uns aktuelle gender-Theorie ausmalt, aber ist pure Fiktion, gezeugt in amerikanischen Seminarräumen und zu voller Blüte gelangt auf dem Boden rotgrün gefärbter europäischer political correctness. Und sie kann auch gar nichts anderes sein: Schließlich kann eine Theorie sexueller Gegenwärtigkeit, welche Körperlichkeit allenfalls als Effekt diskursiver Vermittlungen gelten läßt, kaum der Tatsache Rechnung tragen, daß behinderte Menschen insbesondere in ihrer Sexualität beständig an gläserne Decken stoßen. Eine an Multipler Sklerose im fortgeschrittenen Stadium erkrankte Frau auf dem Dancefloor, ein Querschnittsgelähmter im Club: seltene Bilder, und noch seltener wird aus den Bildern körperliche Realität – und Aktivität. Denn das Begehren nach sexueller Präsenz stößt an die Grenzen einer vollständig diskursivierten Sexualität, die Sex am liebsten ganz ohne Körper haben möchte: Sex der nicht schmutzig ist, Sex der nicht weh tut, Sex der niemals schiefgeht, Sex der keinem zu nahe tritt und Sex der nicht häßlich ist.
Kalter Entzug ist keine umgekehrte Vergewaltigung, und doch läßt er sich theoretisch wie praktisch kaum bewältigen, betrifft er doch jenen Kern subjektiver Selbsterfahrung, den selbst hartgesottene Theoretikerinnen nur im Hörsaal, aber wohl kaum im eigenen Schlafzimmer als ‘konstruiert’ denunzieren wollen würden: Im Sexuellen erleben wir uns selbst als uns selbst. Es ist die körperliche Präsenz, die jene Gefühle von Intensität und Tiefe hervorbringt, deren Wirkungen so stark sind, daß Menschen bereit sind, für Liebe Verrat zu begehen und für Sex zu morden (oder sehr viel Geld zu bezahlen). Lippen, Augen, Münder: Begehren nach anderer Haut, Begehren nach Lust und Begehren nach Präsenz sind reale Phänomene, die sich kaum in ein Raster fügen lassen, das alle menschliche Interaktion als ‘Kommunikation’ begreifen will. Wenn zwei (oder mehr) Menschen sexuell miteinander aktiv werden, dann geht es eben vielleicht doch nicht so sehr darum, Gefühle auszudrücken und also Liebe zu kommunizieren (dafür gibt es schließlich Blumensträuße). Sexualität ist eben keine auf wechselseitigem Verständnis beruhende Übereinkunft. Sie ist exzessiv und überflüssig, rücksichtslos und fordernd, anmaßend und aggressiv.
Wer ‘macht’ denn eigentlich Sexualität? Wer ‘konstruiert’ Körper, wer ‘konstituiert’ sexuelles Begehren? In seinen letzten Büchern hat sich der 1984 an AIDS – auch diese Krankheit: Chiffre des Körperlichen, Chiffre des Sexuellen – gestorbene französische Philosoph Michel Foucault mit der Frage nach dem Sein der Sexualität beschäftigt. Den eigenartigen Doppelcharakter des Sexuellen, seine enorme kulturelle Zirkulation einerseits, seine unvorgängig physische Realität andererseits, hat Foucault dabei zunächst mit einer begrifflichen Unterscheidung von ‘Sexualität’ (als das „reden über”) und ‘Sex’ (als das Tun und das Sein) zu bändigen versucht. Wie brüchig diese Unterscheidung ist, zeigen Foucaults fortgesetzt händeringende Versuche, die enthüllende Analyse sexueller Regime vergangener und gegenwärtiger Zeiten zu verbinden mit einem spontan gemeinten Reden und Tun des Sexuellen. Die Linien des Diskursiven und des Körperlichen laufen für Foucault am Ende zusammen in einem „Sexualitätsdispositiv”, einer umfassenden Matrix, die unser sexuelles Sein bestimmt und in der wir uns ausweglos bewegen. Für akademisch beschlagene Menschen ist es also naheliegend, auf Foucault zurückzukommen, wenn es um Sexülles geht. „The only real fucking is done on paper”, heißt es in Thomas Pynchons Gravity’s Rainbow – eine These, der insbesondere Literaturwissenschaftler nur allzu gerne beistimmen werden. Dem Phänomen sexueller Präsenz ist damit allerdings nicht beizukommen, und auch Foucault mag das gewußt haben, als er in den Darkrooms der Schwulenszene San Franciscos Erfüllung suchte. Vielleicht ist, wer sich zwischen den Laken auf philosophische Merksätze verläßt, sowieso rettungslos verloren. Eine nackte Brust, ein Paar halbgeöffneter Lippen, Haare vielleicht, Wärme, Atem, Atem und Haut: Über den semantischen Überschuß, welchen Sexualität bedeutet, über die unmittelbar evidente Geltung des Sexuellen, darüber kann die Theorie schlicht nichts sagen. Nirgendwo wird dies deutlicher als im Reden über behinderte Sexualitäten, deren schiere Körperlichkeit sich nicht ausdrücken läßt in einem Register, das Oberflächen als bloße Effekte abtut. Eine reine Positivität der Oberflächen tatsächlich zu beschreiben und zu bedenken, das ist eine Linie, die auch Michel Foucault am Ende seines Lebens immer wieder anvisiert hat, und die fortzuführen wäre, wollte man im Reden über Sexualität und Behinderung irgendwie ‘weiterkommen’ – und also eine Sprache finden für Präsenz am Rande, am Ende aller Sprache.
Präsenz, Behinderung, Sexualität: auch ein Leidensthema, auch eine Überschrift für persönliche Tragödien, Geschichten vom Scheitern und vom Zerbrechen. Zerbrechen an der eigenen körperlichen Unzulänglichkeit, Zerschellen an den Klippen einer öffentlichen Sexualität, die auf Körper am liebsten ganz verzichten würde, wenn sie nicht ihren eigenen Wahnvorstellungen entsprechen. „Jugend, Schönheit, Kraft: Die Kriterien der körperlichen Liebe sind dieselben wie bei den Nazis”, steht in Die Möglichkeit einer Insel von Michel Houllebecq, jenem immer wieder als zynisch verschrienen Chronisten sexueller Deprivation. Auswege? Sind schwer zu beschreiben, und notwendig immer individuell. Vielleicht sucht und findet manch einer die Liebe und darüber auch den Sex. Nirgendwo steht schließlich geschrieben, daß für behinderte Menschen nicht genauso klappen kann, was für andere klappt. Und doch stellen behinderte Menschen die vielleicht größte Gruppe der sexüll Unterdrückten. Auswege also, individuelle Basteleien, Schuld, Scham, Verdrängen. Ausprobieren, Experimentieren, Austesten. Und eben doch auch: Sex gegen Geld, Momente von Präsenz für ein paar Banknoten. Behinderte Sexualitäten bewegen sich am Limit: sie sind Grenzfiguren. Grenzfiguren des Körperlichen, Grenzfiguren des Strebens nach Präsenz, Grenzfiguren der unvorgängig ins Körperliche, ins Sexuelle geworfenen menschlichen Existenz, die diskursiv nicht restlos zu bewältigen ist. Es nimmt nicht wunder, daß eine zunehmend von ihren hygienischen Autosuggestionen faszinierte Gesellschaft keinen Weg findet, sie zum Sprechen zu bringen.”