Digital/Pausen

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Hans Ulrich Gumbrecht lehrt Literatur in Stanford und bedauert es, zu alt für eine Karriere-Chance als Trainer im American Football zu sein.

Ob amerikanischer Geschmack der schlechteste ist

  Auf den mehr als zehn Stunden langen Flügen von San Francisco nach Europa (oder zurück) lese ich fast immer in SkyMall, einem Einkaufskatalog, den...

 

Auf den mehr als zehn Stunden langen Flügen von San Francisco nach Europa (oder zurück) lese ich fast immer in SkyMall, einem Einkaufskatalog, den United Airlines (und andere amerikanische Fluggesellschaften) insgesamt fast zwei Millionen Passagieren pro Tag anbieten – in der unternehmerischen Hoffnung offenbar, daß die Langeweile der Reise zu Käufen (möglichst online und noch vor der Landung) führen soll, wie sie unter anderen Umständen ganz und gar unwahrscheinlich wären. Ich studiere SkyMall mit nie nachlassender Begeisterung, weil die angebotenen Gegenstände (fast ohne Ausnahme tatsächlich) auf einen konsistenten und deutlichen Fluchtpunkt von kaum überbietbar schlechtem Geschmack verweisen, den ich sehr amüsant und manchmal sogar interessant finde. Natürlich kaufe ich nie – und bin umso besser unterhalten.

 

Ab und an überkommen mich allerdings ganz verschiedene, doch immer irgendwie grundsätzliche Bedenken. Widerspricht meine einsame Häme nicht der Begeisterung für das Land, dessen Bürger zu sein ich für meine Familie und mich gewählt habe und das uns in den dreiundzwanzig Jahren seit der Ankunft nicht ein einziges Mal wie “Fremde” behandelt hat? Ist SkyMall wirklich typisch für “den” amerikanischen Geschmack – und müßte man nicht, sollte es ihn denn geben, in je anderen Formen, Farben und Freuden auch deutsche, französische oder japanische Äquivalente für besonders schlechten Geschmack identifizieren können? Schließlich und überhaupt: ist der These von Pierre Bourdieu zu trauen, dass der Anspruch, selbst guten Geschmack zu haben und deshalb schlechten Geschmack verurteilen zu können, am Ende immer nur ein Dispositiv zur Durchsetzung und Erhaltung sozialer Hierarchien ist? Und läßt sich ein Anspruch auf guten Geschmack je systematisch begründen – anders eben als im Sinn eines Synonyms von festgehaltener gesellschaftlicher Dominanz?

 

So richtig und bedenkenswert all diese und andere Selbst-Einwände sein mögen, sie vertreiben nie ganz – zumal ich ja nun unter Beweis gestellt habe, wie vertraut ich mit ihnen bin – die mir auch etwas widerstrebende Intutition, daß amerikanischer Geschmack der schlechteste ist oder (das wäre die einzige denkbare Konzession) wenigstens der schlechteste sein kann. Schlagen Sie einmal die Weihnachtsausgabe von Skymall mit mir auf. Auf Seite neunundfünfzig wird ein langestreckter und batteriebetriebener Staubsauger angeboten, dessen Form auf die Vernichtung von Insekten und anderem Ungeziefer in den eigenen vier Wänden hin optimiert ist (“The Keep Your Distance Bug Vacuum“). Direkt daneben entdeckt man (in Weiß und Blau für Männer, Pink und Weiß für die Damen) orthopädische Sportschuhe, die jeglichen von Plattfüßen herrührenden Ermüdungserscheinungen vorzubauen versprechen. Und dann ist da noch der Spielzeug-Müllabfuhrwagen, welcher – neben der Spiel-Funktion – tatsächlich auch zur Verarbeitung von Tisch- oder Frühstücksmüll geeignet ist (“a knob pushes detritus out of the rear“). SkyMall scheint – Seite für Seite wirklich – vorauszusetzen, daß der fraglos höchste Wert für potentielle Kunden ein permanent sauberes Heim ist, in dem der Wunsch nach Sauberkeit auch emblematisch werden kann (wie in dem primär dysfunktionalen Spielzeug-Müllabfuhrwagen, der zugleich eine sekundäre Reinigungs-Funktion erfüllt). Kein Wunder also, dass auch die Zahl jener Produkte gegen unendlich zu gehen scheint, mit denen sich in den kalten und feuchten Jahreszeiten, Grillgeräte, Brennholzvorräte und Gartenmöbel schützen oder Stufen, Schwellen und Garagenzufahrten permanent enteisen lassen. Mein Lieblings-Artikel in dieser Produkt-Kategorie, das mag mit frühkindlich induzierten Fixierungen zu tun haben, ist ein Plastikkörbchen, das Beschädigungen von Büstenhaltern in der Trommel-Rotation von Wasch- oder Trockenmaschinen vorbeugt (“a SkyMall Classic – your bras will come out clean and looking round, full and perfect, every time!“). Und über die Variationsbreite der angebotenen Seifenspender und Toilettenbrillen will ich erst gar nicht zu schreiben beginnen.

 

Dieses saubere Leben geht über in ein körperlich bequemes und psychisch streßfreies Leben, aus dem potentielle Belastungen präventiv eliminiert sind. Zum Beispiel durch das Tragen eines breiten tiefblauen Turbans mit Elektroanschluß, der Kopfschmerzen oder Migräne gar nicht erst aufkommen läßt. Wundersamer noch ist der daneben verzeichnete “Ultrasonic Barking Dog Deterrent,” ein in seiner Form an ein Vogelhaus erinnerndes Produkt, das auf Hundebellen mit einem nur für die Tiere hörbaren Laut reagiert, der sie zum Schwegen bringen soll. Überhaupt die Haustiere. Ihnen werden alle Arten von Wohnungen und Verschlägen im Haus ihrer Besitzer zugewiesen, in denen sie verschwinden und zugleich in Beinahe-Menschen verwandelt werden können, so wie auch der Automatisierung und Hygiene-Maximierung in der Futter-Verteilung keine Grenzen gesetzt sind. Schutz- und Warnfunktionen scheinen solch über-beschützte Haustiere allerdings nicht mehr zu erfüllen, wie vielfältige Alarmgeräte beweisen, deren Wirksamkeit und Verläßlichkeit durch Photos von wohlig schlafenden Paaren im Pensionsalter belegt wird: “Sleep more peacefully at night knowing that you and your loved ones are protected.”

 

Sauber, bequem und sicher ist die von SkyMall vorausgesetzte und propagierte Häuslichkeit, und nicht allein die Haustiere werden dem Dreieck dieser zentralen Werte unterworfen. Aus ihrer Dominanz geht auch jene Wirkung hervor, die man mit einem nur schwer übersetzbaren Wort “whimsical” nennt, das Gefühl nämlich, welches sich aus Einpassung des Monumentalen, Erschreckenden und potentiell Anstößigen in das permanent Häusliche ergibt. Eine Kopie des Throns von Pharao Tut-Ench-Ammon kann man sich bespielsweise an seinen Eßtisch stellen, keltische Harfen und auch Ritterrüstungen, die aussehen, als stammten sie aus dem späten Mittelalter, schmücken die Wohnzimmer, ebenso wie Miniaturversionen von berühmt-mythologischen Baseball-Stadien. Für die Gärten gibt es Krokodile aus Gips, zottelige Schneemenschen, ledrige Armadillos, die sich auch zum Abstellen von Bierdosen eignen, und vor allem allerlei Arten von Skeletten. Auf eher exquisiten Geschmack schließlich zielen Nachschöpfungen der ja tatsächlich berühmten pinkelnden Barock-Putte aus Brüssel, deren zur Schau gestelltes (wenn auch minuskules) Genital im sonst so prüden Amerika anscheinend gar keinen Anstoß erregt.

 

Was SkyMall aber nicht anbietet, das sind Produkte, die dem Käufer das Gefühl oder die Hoffnung geben könnten, gut oder besser auszusehen – mit einer einzigen Ausnahme, nämlich einer Baseball-Schirmmütze, welche es dem Glatzenträger ermöglicht, seine Blöße durch scheinbar steil gebürstete Plastik-Haare zu bedecken (“The Flair Hair Visor“). Aber es wäre wohl allzu weit hergeholt, wollte man dieses bloß einen Mangel bedeckende Produkt irgendeiner Körper-Ästhetik zuzuordnen. Der visor widerspricht ja kaum dem Eindruck, daß der Wunsch, gut auszusehen, offenbar nicht zum existentiellen Horizont der Kunden von SkyMall gehört. Sauber, bequem und sicher wollen sie sich fühlen — und jenseits dieser Werte gibt es keine Träume und keine Begierden. Eben in dieser Hinsicht ist amerikanischer Geschmack der unüberbietbar schlechteste, weil ganz ohne den Wunsch nach (wenigstens minimaler) eigener Schönheit wohl nur schwerlich eine Sensibilität für Objekte ästhetischer Erfahrung entstehen kann.

 

Der formale Geschäftsanzug, zu dem Turnschuhe getragen werden, weil sie bequem sind, das ist – leider – typisch amerikanisch; auch die Nackenrolle, die shorts und die Schlafanzug-ähnlichen Trainingshosen für den Flug kamen aus unserer Kultur; ebenso die schweren Wohnzimmer-Sessel mit gut geölten Rollen, die sie in jeder Richtung bewegbar machen; und manchmal auch – trotz des Sauberkeitsgebots – die vor den Sonne schützenden Baseball-Kappen mit ihren verschwitzten Rändern. Nichts geht über praktische Bequemlichkeit, niemand fragt sich je, wieviel er oder sie dem potentiellen Geschmack der anderen zumuten darf. Die Frage nach Schönheit scheint höchstens einmal bei öffentlichen Gebäuden aufzukommen – und selbst dort bleibt sie sekundär. Im amerikanischen Alltag existiert das Kriterium der Schönheit nicht – und so gesehen ist amerikanischer Geschmack notwendig der schlechteste. Andererseits haben sich Turnschuhe ohne Ausnahme und die allgegenwärtigen Baseball-Kappen längst international durchgesetzt, ganz ohne amerikanischen Druck – und viel müheloser als es bayerischen Leserhosen und schottischen Röcken je gelungen wäre. Ist der schlechteste Geschmack also trotz seines amerikanische Ursprungs unsere globale Zukunft?