Über Geschlechtsunterschiede sollte man nie mit der Absicht reden, einschlägige Normen, Vorschriften oder gar Ansprüche zu formulieren. Das verbietet die allen Individuen garantierte Freiheit, ihr Leben (falls nötig: bis an die Grenzen je bestehender Rechtsordnungen) in beliebige Richtungen zu entwickeln und zu entfalten. Darin eingeschlossen ist die Entlastung aller Frauen wie aller Männer von je geschlechtsspezifischen Verhaltenscodes und bindenden Errwartungen (was sich vor allem jene feministisch engagierten Frauen zu Herzen nehmen sollten, die nicht selten ihre eigenen geschlechtsspezifischen Werte-Optionen als für alle Frauen verpflichtende durchsetzen wollen). Ich schreibe über heute ganz selbstverständlichen Prinzipien der Gleichheit, die wir aus der Ideengeschichte der Aufklärung und dank der institutionellen Vermittlung in den sogenannten “bürgerlichen” Reformen und Revolutionen um 1800 ererbt haben. Niemand soll sie antasten dürfen, und im Prinzip will sie – auf dieser abstrakten Ebene – heute auch kaum jemand antasten. Andererseits ist die über zweihundertjährige Anstrengung, solche Gleichheit (vor allem) zugunsten der Frauen durchzusetzen, mittlerweile insofern über eine sinnvolle Grenze hinausgeschossen, als die Realisierung bedingungsloser Gleichheit vor dem Recht zu dem Verdacht geführt hat, jede Rede und jedes Gespräch über Geschlechtsdifferenzen laufe auf den Effekt hinaus, den je erreichten Grad an Gleichheit aufzugeben oder zumindest als Errungenschaft zu gefährden. Das Gegenteil sollte der Fall sein: je weiter die rechtliche Gleichheit zwischen den Geschlechtern durchgesetzt ist, desto leichter und natürlicher sollte es im Alltag sein, über jede Art individuell gewählter Geschlechter-Differenz zu reden.
Auf welcher Ebene aber und aus welcher Perspektive genau könnte es legitim (und vor allem interessant) sein, über Geschlechtsunterschiede zu sprechen und sie möglicherweise zu kultivieren? Ich denke, dass das Recht, sein individuelles Leben weitestmöglich zu gestalten, zwei diesbezügliche Möglichkeiten einschließen muß: die Möglichkeit, seine eigene Identität an einem bestimmten Geschlechterbild auszurichten (von denen es natürlich mehr als nur zwei gibt – aber es ist wohl heute wichtiger zu betonen, dass unter Gleichheitsprinzipien auch gegen die traditionellsten Identitätsbegriffe nichts einzuwenden ist); hinzu kommen sollte natürlich die komplementaere Möglichkeit, Erwartungen und Wünsche gegenüber (vor allem: den anderen) Geschlechtern zu haben. Solange solche (auf sich selbst und auf andere bezogene) Identitätsbegriffe nicht normativ und mithin in bestimmten Kontexten repressiv werden, sollte es legitim – und eben sogar interessant – sein, wieder über sie zu reden, so vermient diese potentielle Dimension der Unterhaltung heute auch sein mag (ich spüre jedenfalls gerade beim Schreiben, wie ich gleichsam jedes Wort noch einmal umwende und gegen denkbare Einwände und Proteste absichern möchte). Trotzdem, jetzt endlich und für heute diese Frage: was erwarte ich dreiundsechzigjähriger heterosexueller Mann von Frauen? Was wünsche ich mir von Frauen für mein Leben? — und noch ein letztes Mal die Bemerkung, wie eigenartig, fast illegitim es sich anfühlt, eine solche Frage in den öffentlichen Raum zu stellen, obwohl wir doch wissen, dass die allermeisten von uns beständig mit Fragen wie dieser leben.
Ich setze bei der grundlegendsten körperlichen Differenz an, die zu einer entscheidenden und irreversiblen Erfahrung für mich erst vor dreiunddreißig Jahren wurde, bei der Geburt meines ältesten Sohns. In jener Nacht habe ich mit drastischer Unmittelkeit verstanden, dass durch die Zeit der Schwangerschaft und den Prozeß der Geburt eine physische Intimität zwischen dem neugeborenen Kind und seiner Mutter entsteht, welche “ausgleichen” oder “kompensieren” zu wollen, ein Unding für jeden Vater sein muß. Diese Asymmetrie schließt nicht aus, daß ein Vater zu seiner Tochter oder seinem Sohn ein besseres, intensiveres Verhältnis entwickelt als die Mutter; es handelt sich nicht einmal eine Geschlechterassymetrie, die erst durch eine aktuelle Schwangerschaft wirklich wird. Frauen sind prinzipiell durch die Konstitution ihres Körpers in anderer Weise auf die biologische Reproduktion und also auf die materielle Umwelt des menschlichen Bewußtseins bezogen sind als Männer. Zentral innerhalb dieser Differenz ist die Menstruation (für die als Synchronisierung mit der Zeit der nicht-menschlichen Welt es eben keinerlei Äquivalent im männlichen Leben gibt) — und ebenso die physisch (und in vielen Fällen wohl auch psychisch) deutlich markierte Zeit im Leben ein Frau, wo diese Disposition verlöscht. Wieviele Gleichheits-Nachteile die Disposition zur Reproduktion für Frauen auch im Lauf der Jahrhunderte verursacht haben mag, sie ist zugleich und jedenfalls Teil eines Eingeschriebenseins in die materielle und biologische Welt, um die ich jede Frau beneide.
Vor Jahrzehnten hatten die Philosophen Jean-François Lyotard und Hans Blumenberg in verschiedenen Kontexten jeweils verschiedene Intuitionen zur Geschlechteridentität artikuliert, welche sich genau auf diese elementare Differenz zurückführen lassen. Blumenberg traute sich, “Anmut” als jene Eigenschaft zu nennen, die er vor allem an Frauen schätze. Damit war gemeint eine Anziehungskraft des weiblich-körperlichen in-der-Welt-Seins, die sich ihrer selbst nicht bewußt ist. Ich glaube nun, dass “Anmut” in diesem Sinn nicht reduziert werden soll auf jene sich historisch und kulturell ja beständig verschiebenden Eigenschaften, die wir Männer meinen, wenn wir Alltags-Wörter wie “schön” oder auch “sexy” verwenden. Eher erwächst Anmut aus der weder unterdrückten noch bewußt hervorgekehrten Gegenwärtigkeit jener grundlegenden Differenz, durch die Frauen der physischen Welt mit einer Intensität angehören, welche Männern nicht gegeben ist. Als solche ist Anmut ein prinzipielles Potential von Weiblichkeit (und auch ein prinzipielles Objekt der Begierde), das von jeweiligen Schönheitsprädikaten und den von ihnen abhaengigen Schönheitsgraden ganz unabhängig bleibt. Lyotard hingegen hob als eine zentrale Dimension des Frau-Seins jenes andere Potential hervor, das Potential, zentrale Momente der eigenen Existenz – vor allem natürlich den möglichen Moment einer Geburt – durch eine Wahrnehmungsschicht des Schmerzes zu erleben. Damit identifizierte er es als eine weibliche Stärke, die Welt der Gegenstände und die Welt der Ideen viel weniger als in einen Geist/Körper-Dualismus polarisiert zu erfahren, als dies bei Männern der Fall ist. Die Welten der Gegenstände und die Welten der Gedanken sind für Frauen schon immer mit dem eigenen Körper und seinem Eingeschriebensein in den Kosmos vermittelt.
Lyotard und Blumenberg haben in denselben Kontexten dann auch komplementäre Intuitionen über männlichen Identität(en) benannt. Blumenberg sprach (deutlich von Heidegger inspiriert) über “Gelassenheit” als die für ihn wichtigste männliche Tugend und meinte damit wohl die Fähigkeit, primären Impulsen der Zuwendung zur gegenständlichen Welt, primären Impulsen der auch körperlichen Intervention in die Welt, zu widerstehen. Gelassenheit wäre dann eine Bewußtseins-zentrierte Stärke, die es uns erlaubt, für eine Zeit Distanz zur physischen Welt zu halten, eine Stärke, wie sie als Verhaltensmöglichkeit für Frauen natürlich nicht ausgeschlossen ist, aber auf Grund ihres primären Eingeschriebenseins in die Welt der Dinge (im wörtlichen Sinn) ferner liegen mag. Lyotard seinerseits hob es als einen männlichen – ebenfalls Bewußtseins-zentrierten – Gestus hervor, die Welt – wiederum aus einer gewissen physischen Distanz – in beweglicher Perspektive zu beobachten, so wie der Scheinwerfer eines Leuchtturms die um ihn liegende Welt aus dauernd sich verändernden Richtungen ins Licht setzt. An dieser Stelle kehrt mir beim Schreiben das Gefühl wieder, ich solle betonen, dass natürlich keine dieser männlichen Identitätszuschreibungen im Sinne einer Ausschließlichkeitsbeziehung fungieren sollen. Es ging mir im Rückblick auf Blumenberg und Lyotard vor allem um die Konvergenz dieser Philosophen in ihrer beider Assoziation von weiblicher Identität mit einem primären Eingeschriebensein in die physische Welt (welche am Ende als Effekt der Geschlechterdifferenz für Lyotard so stark wurde, dass sie in eine Philosophie der Erfahrung umschlug, als deren Grundmotiv er eine generelle, nicht aufhebbare Inkompatibilität zwischen verschiedenen Erfahrungsperspektiven — “le différend” – herausarbeitete).
Aber ich wollte mir ja auch (und vielleicht vor allem) die Frage gestatten, welche Erwartung ich selbst mit einer so aufgefaßten Weiblichkeit zusammenbringe – zumal die Antwort sich beinahe dringend anfühlt. Was ich von Frauen erwarte und begehre, was ich an ihnen ersehne und bewundere, ist die mit primärer Anmut verbundene Fähigkeit, die Welt und das Leben als einen Raum zu erschließen. Mit meinem Körper “richtig” in der Welt zu sein, weder exzentrisch noch zufällig, sondern mit dem Gefühl, dort zu sein, wo ich willkommen bin und vielleicht so etwas wie eine Aufgabe habe (zu sein, wo ich “hingehöre”), das ist für mich an jedem Tag meines Lebens ein existentieller Wunsch gewesen, der nur mit Frauen in Erfüllung geheben konnte, von denen ich mich geliebt fühlte. Es war und ist die eine Dimension von Liebe in meinem Leben (die andere Dimension der Liebe ist eine Liebe des bedingungslosen Beschützen-Wollens, die ich für meine Kindern und Enkelkindern spüre). Ich wollte und will in der Welt der Frauen sein, zu ihrer Welt zurückkommen, ihre Welt nicht verlieren, vielleicht ihnen dabei helfen können, diese Welten zu bauen. Was ich versuche zu beschreiben, ist auch das – aber zugleich viel mehr als das – was man etwas verniedlichend “Nestbauen” nennt. Es ist aber entschieden mehr als “Nestbauen,” weil diese Verräumlichung der Existenz — über das primär-Physische hinaus — all das präsent und berührbar macht, was ohne die Gegenwart von Frauen in der Abstraktheit einer Ideensphäre bliebe: Gedanken, Ideologien, Software, all das, was nach Verkörperung erst in Gegenwart von Frauen drängt.
Um noch einmal den heute so gängigen Verdacht abzuwehren, es gehe um irgendeine Art der Reduktion von weiblicher Existenz, sollte ich am Ende darin erinnern, dass (in der westlichen Kultur zumindest) der allerkomplexeste Modus von simultaner Welt- und Selbsterfahrung, jene Form der Erfahrung, die wir “Mystik” nennen, schon immer als eine Domäne der Frauen galt. Mystik als die Fähigkeit, den Schnittpunkt zwischen dem Selbst und der Endlosigkeit seiner Umwelt im eigenen Körper zu entdecken, hat sich spätestens seit dem westlichen Mittelalter als ein vor allem weiblicher Modus der Existenz entwickelt – primär verkörpert, auch das scheint mir wesentlich, durch Frauen, in deren Leben sich das Potential, Teil der biologischen Reproduktion zu werden, nicht verwirklichte. Dennoch war es das Privileg der heiligen Teresa von Avila, einer Nonne, in ihrer ersten Vision das Leben als Simultaneität zwischen einem Schmerz des Durchdrungenwerdens mit jenem anderen Schmerz zu erleben und zu beschreiben, der durch das Freiwerden eines “kleinen Engels” von ihrem Körper entsteht.
Damit bin ich unversehends zurückgekehrt zu jener Situation, der Situation einer Geburt, die fuer mein Leben der Beginn eines bleibenden Bewußtseins vom Geschlechterunterschied war. Ich weiß, dass ich nie so intensiv wie eine Frau auf die materielle Welt zugewandt werde leben können. Aber je deutlicher mir wenigstens die Sehnsucht nach solchem Zugewandtsein gegenwärtig ist, desto größer wird auch die Möglichkeit für mein Leben sein, in der Nähe der Frau, die ich liebe, das Gefühl vom eigenen Leben als einem freien und unendlichen Fall zu verlieren. Vielleicht war früher einmal, in einer anderen kulturellen Welt, die primäre Zugwandtheit zur Welt auch für Männer möglich. Heute, glaube ich, koennen wir uns ohne Frauen nicht einmal mehr eine Ahnung von ihr erhalten. Ohne Frauen fallen wir – ohne Ziel, ohne Boden, Hölle oder Aufprall.