Zur Jahreswende findet man allenthalben vielerlei (meist kaum bemerkenswerte Statistiken), und eine der wenigen, die mir heuer im Gedächtnis geblieben ist, wies aus, dass mittlerweile weit mehr als ein Drittel jener Bürger nicht verheiratet sind, denen in der Europäischen Union Kinder geboren werden. Für einen, der in der Gegenwart des Tabus gegen – und dann unvermeidlich ja auch in der Angst vor – „außerehelichen Schwangerschaften” aufgewachsen ist, fühlt sich die Zahl an wie ein Grund zum Feiern. Denn sie spricht für eine größere Entscheidungsfreiheit der Mütter, für den Rückgang eines bestimmten Typs sozialer Vorurteile und vielleicht ja sogar (ganz unabhängig von Gender-politischen Positionen) für eine wachsende Freude über entstehendes Leben. Etwas weniger euphorisch wohl, aber immer noch eher positiv wird man auf jene Drittel-Zahl reagieren, wenn man sie als ein Symptom fortschreitender Säkularisierung im privaten Leben ansieht. Viele unverheiratete Kindeseltern leben mittlerweile ebenso selbstverständlich, „stabil” und wohl auch gerne zusammen wie verheiratete Paare, aber sehen – aus ganz verschiedenen Gründen – vom Schritt der Heirat ab: weil sie finanzielle Nachteile (im weitesten Sinn dieses Begriffs) befürchten, weil sie eine Institutionalisierung ihrer Bindung für existentiell belastend ansehen oder ganz einfach, weil sie Rituale prinzipiell (und Hochzeiten insbesondere) für altmodisch oder überflüssig halten.
Was nun die Ablehnung von Ritualen angeht, in der immer auch eine Betonung privater Unabhängigkeit liegt, so habe ich (ohne einschlägige Statistiken zu kennen, die es wahrscheinlich gibt) den Eindruck, dass sich seit etwa einem Jahrzehnt ein – internationaler — Gegen-Trend abzeichnet. Ich kann mich noch an das verblüffte Gesicht eines Kollegen erinnern, der mir erzählte, wie sich seine Tochter samt zukünftigem Schwiegersohn – entgegen allen Familien-Erwartungen – für eine „sehr opulente Hochzeitsfeier” und gegen eine Barüberweisung von 100 000 Euro (oder waren es noch D-Mark?) entschieden hatte. Manche wollen also wieder ganz groß feiern heute, ob es sich nun um Hochzeiten, Taufen, Konfirmationen oder gar akademische Festschriften handelt (die nach einem Tief im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts nun fast wieder zum eher peinlichen Standard geworden sind), während andere Zeitgenossen immer demonstrativer ihre Säkularität zelebrieren. Einen „eindeutigen Trend” scheint es nicht zu geben, und unklar ist auch (wie so oft heute), welche der beiden Einstellungen die „konservative” und welche die „fortschrittliche” sein mag. Wem sollte daran auch liegen?
Und was hat Heiraten mit dem Amt des Bundespräsidenten zu tun – das in diesen Tagen anscheinend so viele Deutsche beschäftigt? Die Antwort heißt natürlich, dass dieses Amt ein Fokus von Ritualen ist, genauer (das heißt: unter (west)deutschen Verhältnissen seit 1949), dass es nicht viel mehr ist als ein Fokus von Ritualen. In der französischen oder in der amerikanischen Verfassung wird dieser Ritual-Fokus vermittelt mit der maximal zugestandenen Konzentration politischer Macht in einer Person; in konstitutionellen Monarchien, die Europa ja seit einem halben Jahrhundert bemerkenswert gut gelingen, ist der Ritual-Fokus verbunden mit der Würde jeweiliger historischer Traditionen. In kaum einem anderen Land aber (und in diesem Zuschnitt lag einmal eine Reaktion auf national-spezifische geschichtliche Erfahrung) geht die Gleichung zwischen Präsidenten-Amt und Ritual-Funktion so glatt auf wie in Deutschland.
Und was meinen wir genau, wenn wir von „Ritualen” sprechen? Es geht bei Ritualen immer um Verkörperung. Wenn der Bundespräsident, wenn Christian Wulff (solange er Bundespräsident bleibt) einen Raum betritt, dann erheben sich die Anwesenden. Sie sollen sich nicht aus Respekt oder Sympathie für den Privatmann Christian Wulff erheben (und auch nicht, weil sie die eine oder andere seiner Meinungen teilen), sondern weil das Amt des Bundespräsidenten darin besteht, dass sein Träger den (Selbst-)Respekt einer Nation vor ihren Verfassungsorganen verkörpert – und vielleicht auch den Respekt der Nation vor sich selbst (was eine „Nation” dann am Ende sei, ist eine viel kompliziertere Frage). Die Anwesenden jedenfalls, die sich erheben, haben die Möglichkeit, Institutionen zu ehren, deren Teil sie sind, indem ihr Respekt symbolisch auf die Konzentration einer Verkörperung gelenkt wird; Rituale machen etwas Unsichtbares, das von Belang ist, sichtbar und mithin erlebbar. Nicht anders verhält es sich mit einer Hochzeitsfeier: in der Konzentration auf einen Tag und auf wenige symbolische Gesten werden der Entschluß und das Versprechen sichtbar (sozusagen, „feierbar”), auf Dauer miteinander leben zu wollen.
Will man ein solches Verständnis von Ritualen auf die Spitze treiben, dann läßt sich sagen, dass – unter deutschen Bedingungen jedenfalls – von der intellektuellen oder „fachlichen” Qualifikation des jeweiligen Bundespräsidenten eigentlich erstaunlich wenig abhängt. Genau in diesem Sinn war der hastig ausgewählte Christian Wulff von Beginn an ein (wohl kaum als solches beabsichtigtes) Experiment – und gar nicht nur im negativen Sinn. Gewiß, Wulff galt aus der Perspektive seiner Partei als ein gerade abkömmlicher Ministerpräsident ohne besondere Verdienste und anscheinend auch ohne besonderen Macht-Ehrgeiz (was ihn sehr wahrscheinlich für nicht wenige Bürger sympathisch machte). Aber er sah (und sieht) auch eher gut aus, kleidet sich mit einer gewissen Eleganz und spricht als Niedersachse ohne Anstrengung ein besonders korrektes Hochdeutsch. Vor allem kam und kommt er dem Selbstbild eines deutschen Familienvaters im gegenwärtigen Mittelstand wohl viel näher als irgendeiner seiner Vorgänger (was ihn zur Verkörperung der Nation eigentlich eminent geeignet macht): Wulff hat schulpflichtige Kinder und ist in zweiter Ehe mit einer ebenfalls gutaussehenden Frau verheiratet; er scheint eher sympathisch (auch islamischen Familien gegenüber); er genießt gerne seinen Urlaub; und er wünscht sich ein Eigenheim in der Preislage von einer halben Euro-Million. Dieser Christian Wulff wirkte national aufs erste viel besser als erwartet, und international, da bin ich mir einigermaßen sicher, fand man ihn erstaunlich sympathisch, für einen deutschen Präsidenten jedenfalls (zumal wenn man in Rechnung zu stellen bereit ist, dass der geheime deutsche Charme von hochangesehenen Ex-Präsidenten wie Heinemann, Herzog und vor allem natürlich Weizsäcker nicht immer auch gleich als Hit in Paris und London, in New York, Buenos Aires und Tokio einschlug).
Dieses kleine Prestige-Kapital, das sich Wulff erworben und sogar verdiente hatte, zeigte die positive Seite jener Beschränkung auf die Ritual-Funktion in der Rolle des deutschen Bundespräsidenten (mit dem französischen Präsidenten-Amt wäre er wahrscheinlich ebenso überfordert gewesen wie der ja auch eher sympathische Familienvater George W. Bush mit dem der Vereinigten Staaten). Aber nun stellt sich heraus, dass Christian Wulff noch ein paar andere Dinge getan hat, die unter Familienvätern der gehobenen Mittelklasse üblich sind – und schon zeigt sich die andere, die prekäre Seite dieser Präsidentenrolle mit ihrer besonderen Form. Er hat sich bei reichen Freunden und Bankern, die wohl damit rechneten, dass er ihnen dann auch einmal einen Gefallen tun würde, einen sehr billigen Kredit besorgt; er hat versucht, Vertreter eines Berufs etwas einzuschüchtern („erpressen” ist angesichts der Sachlage wohl wirklich ein allzu starkes Wort), der für den gehobenen Mittelstand noch nie als wirklich respektabel galt. Mittlerweile hat sich Wulff dafür vor der denkbar weitesten nationalen Öffentlichkeit entschuldigt, aus ehrlichem Herzen, unterstelle ich einmal – und warum sollte es nun noch Probleme geben? Man könnte doch tatsächlich sagen, dass er jetzt noch mehr als je zuvor den typischen Mittelklassen-Familienvorstand seiner deutschen Generation repräsentiert (soziologisch-empirisch träfe diese These gewiß in Schwarze).
Klammern wir einmal die von der Verfassung nicht vorgesehen Chancen der Opposition ein, in einer solchen Situation die Kanzlerin zum Schwitzen zu bringen (so gering diese Chancen auch sein mögen). Eine von Christian Wulffs Schwierigkeiten hat mit der Ritual-Ausschließlichkeit seines Amtes zu tun. Anders als Sarkozy oder Obama ist es ihm nicht gegeben, durch die eine oder andere kraftvolle politische Aktion das gegenwärtige Problem zu einem Nebenschauplatz zu machen (unbestrittener Weltmeister dieser Art von Manöver war Bill Clinton). Das größere, kaum reduzierbare Problem von Wulff aber hat mit der eigentlich erstaunlichen Erfahrung zu tun, dass man sich nicht gerne von seinen Plätzen erhebt beim Auftritt eines Würdenträgers, dessen Verhalten ganz und gar der eigenen Alltagspraxis entspricht. In der klassischen Theorie des Dramas heißt es, dass der sogenannte „mittlere Held,” der Held, mit dem sich die Zuschauer identifizieren mögen, ein Held sein muß, der eben nicht im präzisen Sinn dem Mittelmaß entspricht; eher muß der mittlere Held unser positives Selbstbild verkörpern – ein Selbstbild, das über dem moralischen Niveau des tatsächlichen Alltagsverhaltens und unter dem Niveau der allerhehrsten Tugenden liegt. Mit dieser Art von Helden will man sich identifizieren.
Wenn ich in Deutschland lebte, dann hätte ich wohl eine realistischere Antwort auf die Frage, ob Christian Wulff nun „gerade noch” solche Erwartungen seiner Mitbürger an den „mittleren Helden” zu erfüllen vermag. Jedenfalls hat er weder politische Aktionsmöglichkeiten noch eine adlige Familientradition, welche ihn schützen. Am Überleben im Amt kann er nur dadurch arbeiten, dass er seine Boss-Krawatten noch besser als früher auswählt und dass er (sollte dies denn möglich sein) noch hochdeutscher spricht als bisher. Bleibt die – über Wulff hinausgehende, aber sich im Fall von Wulff wieder einmal stellende – Frage, ob Deutschland denn überhaupt einen Bundespräsidenten braucht. Dass die Ritual-Funktion des Verkörperns von der jeweils mächtigsten politischen Figur übernommen werden könnte, wissen wir aus der Geschichte und Praxis anderer Nationen. Aber dazu wird es vorerst in Deutschland nicht kommen. Dass es eigentlich ganz gut auch ohne einen solchen Präsidenten geht, zeigt die Schweiz – aber von der Streichung des Amt, an dem man während der vergangenen zweiundsechzig Jahren gar nicht soviel Freude gehabt hat, ist Deutschland ebenfalls meilenweit entfernt. Wie läßt sich das erklären? Die verhaltene Begeisterung für das Amt des Bundespräsidenten und seine Unterstützung muß wohl von jenen Bürgern und Wählern kommen, denen auch an Tauf- und Erstkommunionfeiern, Hochzeiten und schönen Beerdigungen liegt. Sie wünschen sich einen möglichst gutaussehenden Bundespräsidenten – und sie sind, das scheinen die erstaunlichen Umfrage-Ergebnisse zur Amtsführung von Christian Wulff zu beweisen, heute die Mehrheit im Land. Schwer vorzustellen ist auf der anderen Seite, dass jene Zeitgenossen, die Rituale für überflüssigen Pomp ansehen (und auch sie liegen immer noch in ihrem eigenen Trend) auf Dauer an einem Amtsträger (und auch an einem Amt) festhalten wollen, für die es ausreicht, jeden Morgen die richtige Krawatte zu finden.