Seit dem späten neunzehnten Jahrhundert haben sich die Gebildeten (und auch die weniger Gebildeten, sofern sie Sympathie für das Exzentrische spüren) daran gewöhnt, das Wort “lesbisch” zu gebrauchen, wenn von Liebesbeziehungen unter Frauen die Rede sein soll. Kaum ein anderer erotischer Begriff hat einen mit diesen Adjektiv vergleichbaren Zauber: denn es verweist über den Namen der griechischen Insel vor der kleinasiatischen Küste auf der Namen von Sappho, einer Frau, die dort in den drei Jahrzehnten vor und in den drei Jahrzehnten nach dem Jahr 600 vor der Zeitenwende gelebt haben soll; und über den Namen von Sappho führt das Wort zu etwas mehr als zweihundert uns heute bekannten Textfragmenten, die ihr zugeschrieben werden und in denen zuweilen leidenschaftliche Szenen der Liebe zwischen Frauen aufscheinen. Die Darstellung dieser Assoziation in drei Schritten (von lesbischer Liebe über die Insel Lesbos hin zu Sappho und den mit ihrem Namen verbundenen Texten) mag sehr vage und im schlimmsten Fall sogar leisetreterisch gewirkt haben, doch ein solcher Dämpfungs-Effekt hat nichts zu tun mit irgendwelchen Rest-Tabus, die den Horizont des erotischen Himmels wohl noch immer umgeben und verhängen. Die Vorsicht reagiert einfach auf die Tatsache, daß unser “Wissen” über die Kultur der griechischen Antike (vor allem unser “Wissen” über ihre frühen Phasen) in vielen seiner Dimensionen ein – durchaus bewundernswertes – Produkt aus Hypothesen und historischer Imagination ist.
Doch auf der anderen Seite haben einige der Sappho von Lesbos zugeschriebenen Text-Fragmente das Potential, ihrem Leser (selbst einem hoffnungslos heterosexuellen Leser im fortgeschrittenen Alter des silbernen Haars) den Atem zu verschlagen und wie ein Feuer aus der Ferne unter die Haut zu gehen. Denn sie scheinen uns Sapphos Begehren in einem ganz wörtlichen, eben körperlichen Sinn nahe zu bringen. Sehen Sie sich das mit Sapphos Namen verbundene Fragment (31) an – und dann sollten Sie es durchaus wagen, diesen Worten Ihre Stimme zu geben:
wie das Bild eines Gottes kommt mir dieser junge Mann vor,
der mit Dir die Liege teilt, wo ihr euch in die Augen seht, und er
sich an Deiner Anmut freut, Deiner freundlichen
Rede und Deinem einladenden
Lachen – der Augen-Blick bringt meine
Herzkammer in Bewegung, mein Brustbein und meine Eingeweide.
Eine schnelle Ahnung, schon verliert meine Stimme ihren Takt
und weigert sich, zurückzukehren,
weil meine Zunge gebrochen ist. Ein flackerndes
Feuer läuft unter die Haut und wirft
seine Strahlen; was immer ich sehe, ist
verschwommen und meine Ohren voll Donner.
Schweiß bricht aus, und ein Schauder läßt
meine Knochen beben. Ich bin bleicher
als verbranntes Gras und spüre schmerzlich ein Fieber,
nach dem nur der Tod noch kommen kann.
Aber ich muß weiter leiden, denn mehr
verdiene ich nicht…
Wer mit soviel Begeisterung auf einen Text, zumal einen lyrischen Text verweist, kann ja nie damit rechnen, dass die eigenen Gefühle Resonanz finden. Trotzdem hoffe ich, auch Sie spüren die Unmittelbarkeit, mit der diese Verse aus einer dreitausendjährigen Vergangenheit uns treffen können – so wie sie viele meiner siebzehn- und achtzehnjährigen Studenten trafen, denen ich Fragment (31) vergangene Woche gleich zweimal vorgelesen habe. Für die Studenten war es, als ob diese Worte “Sapphos erotische Begierde aufgesogen hätten”, um (wie es ja auch in dem Fragment heißt) “ihre Strahlen” wieder in unsere Gegenwart “werfen” zu können.
Und haben Sie auch das Feuer von Sapphos Eifersucht auf den “gottgleichen jungen Mann” geahnt, der mit dem schönen Mädchen seine Liege teilt? Dieser Text scheint zu der ausgelassenen Stimmung eines Symposiums, eines Trinkgelages für Gäste aus reichen Familien auf ihren “Liegen” zu gehören – und wer sich eine solche Situation vorzustellen versucht, der verliert vielleicht plötzlich jene erste Lektüre-Gewißheit, welche Sapphos Stimme eifersüchtig klingen läßt. Denn könnten der Blick und die Stimme des Begehrens aus dem Fragment nicht ebenso auf den Körper des jungen Mannes reagieren wie auf den Körper des Mädchens? Immerhin wissen wir heute, daß homosexuelle und heterosexuelle Leidenschaft damals viel weniger strikt unterschieden waren, als es unsere Zeit gewohnt ist. Und könnte diese Stimme, die man seit Jahrtausenden “Sappho” zugeschrieben hat, ohne außerhalb ihrer Texte mehr als spärliche Anhaltspunkte dafür zu haben, wer sie gewesen ist, könnte diese Stimme vielleicht gar nicht die Stimme einer Frau aus privilegierter Schicht sein (Frauen von Stand waren unseres Wissens nicht zugelassen zu den Gelagen), sondern die Stimme einer Hetäre, einer Gespielin, die (wie heute noch Geischas in Japan) für die Unterhaltung der Gäste sorgten (wobei die Frage genau genommen nur heißen darf, ob der Text so gestaltet ist, dass er den Eindruck erweckt, zu einer solchen Hetären-Rolle zu passen)?
Längst nicht alle Texte, die mit dem Namen “Sappho” verbunden sind, sprechen von lesbischer Liebe. Als sich dreihundert Jahre nach Sapphos Tod die Gelehrten der Bibliothek von Alexandria daran machten, aus den Texten (und ihre Zahl mag damals in die Tausende gegangen sein) ein Bild ihres Lebens abzuleiten, stellten sie eine lange Liste ihrer männlichen Liebhaber auf. Noch einmal dreihundert Jahre später, wohl in der frühen römischen Kaiserzeit, fand der Autor eines Traktats über das poetisch “Erhabene” soviel Form-Gefallen an dem Sappho-Text, den ich eingangs zitiert habe, dass er ihn ausführlich zitierte. Erst die Gelehrten und Leser des neunzehnten Jahrhunderts, die Leser einer Zeit, welche begann, von der Literatur exzentrische Rollen und Situationen zu erwarten, sahen in Sappho vor allem die archaische Dichterin der Frauenliebe — und wußten genug über die Institutionen des früh-antiken Griechenland, um sie sich als eine Frau vorzustellen, die vielleicht Mädchen aus reichen Familien auf ein Ehe-Leben mit vielfachen Verpflichtungen und Konventionen hin zu erziehen (Ulrich von Wilamowitz-Möllendorff der bedeutenste deutsche Altphilologe aus der wilhelminischen Zeit, wollte in Sappho “die Leiterin eines Mädchenpensionats” erkennen).
Sollen wir uns, müssen wir uns vielleicht sogar von all der historischen Ungewißheit und zugleich von all dem historischen Wissen, wie es die Fragmente der Sappho von Lesbos umgibt, die Freude verbieten lassen, ihre Fragmente als nahegehende Spuren vergangenen Begehrens zu lesen? Solche ernüchternde Wirkung haben die Seminare und Bücher der Literaturhistoriker ja nicht selten gehabt – und wer nicht zu diesem von ästhetischer Erfahrung so erstaunlich wenig faszinierten akademischen Beruf gehört, der hat überhaupt keinen Grund, sich irgendwelche Lese-Freuden verderben zu lassen.
Außerdem gibt es für jenen ersten Eindruck erstaunlicher Unmittelbarkeit, für jene Wirkung der Sappho-Texte, vergangenes Begehren heraufzubechwören und wieder gegenwärtig zu machen, einen guten Grund und eine plausible Erklärung. Dieser Grund heißt “poetische Form.” Versform, Strophen-Struktur und (in anderen kulturellen Kontexten auch) Reime, poetische Formen also, wie wir sie in den meisten von Sapphos Fragmenten wenigstens noch ahnen können, gehören zur Dimension des Rhythmus, und mit dem Wort “Rhythmus” beziehen wir uns auf Strukturen der Wiederholung, welche allein in zeitlicher Entfaltung existierenden Phänomenen (und zu ihnen gehört jegliche Form von Sprache) eine stabile Form und damit auch das Gefühl eines Anfangs und eines Endes geben können. Gebilde mit Rhythmus, Gedichte zum Beispiel, haben also immer eine geschlossene Zeit-Form, welche sie aus der fließenden Zeit um sie herum wie Enklaven ab-setzt und heraus-nimmt. Und als zeitliche Enklaven, in denen die laufende Zeit still steht, scheinen Gedichte die Fähigkeit zu haben, ihre eigenen vergangenen Welten präsent zu machen, fast unmittelbar präsent, physisch präsent – gegenwärtig immer nur für einen kurzen Moment.
Dass man die Freude und Intensität einer Lektüre nie in allzu viel Wissen auflösen soll, ist das eine. Darüber hinaus gibt es gute Gründe, an die Wirklichkeit des Eindrucks zu glauben, dass das Begehren der Sappho von Lesbos uns nahe sein kann. Dies ist das andere, um das es mir geht.